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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Die romantische Schule in Frankreich.

Wichtigkeit, Welches gegen den Schluß hin die "Übersehencn und Vergessenen"
behandelt, die Poeten, welche in dem ersten großen Ansturm der Romantik
gegen den Klassizismus zu Grunde gingen oder ihre Kraft aufbrauchten, sodaß
ihnen der nachmalige Friedensschluß zwischen der ästhetischen Überlieferung und
dem neuen Lebensgefühl nicht mehr zu Gute kam.

Setzt nun Brandes bei der ausführlichen Besprechung der hervorragendsten
Erscheinungen alle Vorzüge seiner Kritik ein: den feinen Spürsinn für den Zu¬
sammenhang der persönlichen und literarischen Entwicklung, für die Einwirkung
eines Talents auf das andre (von besondrer Bedeutung erscheint hier der Nach¬
weis der geistigen Beziehungen Alfred de Müssets und George Sands), das
intuitive Gefühl für die innere Selbständigkeit einer poetischen Natur, die Kenntnis
einer Welt von Schöpfungen, die nicht im kritischen, sondern von Haus aus im
genießenden Anteil gewonnen wird, so macht er auch von vornherein klar, was
ihn an den französischen Romantikern anzieht und warum er trotz aller zuge¬
standenen schreienden Mängel, Ungleichheiten, Härten, ja Ungeheuerlichkeiten dieser
Literatur eine starke persönliche Sympathie mit ihr nicht verleugnen kann: "Man
schrieb nicht, um dem Publikum zu gefallen, und das ist es, was den Büchern
dieser Periode ihren Wert giebt. Denn das steht fest: sobald der Schriftsteller
nicht zu den tiefsten Schichten der menschlichen Seele hinuntergestiegen ist, sein
Werk nicht rückhaltlos zu schreiben gewagt, sondern sein Publikum um Rat
gefragt, sich nach den Vorurteilen, der Unwissenheit, der UnWahrhaftigkeit
seines Publikums gerichtet hat, so kann er die höchste Anerkennung bei seinen
Zeitgenossen gefunden haben -- und er hat sie in der Regel gefunden --, kann
Lorbeeren und Gold gewonnen haben -- für die Literaturgeschichte bleibt sein
Werk wertlos. Alle jene Produkte einer Vernunftehe des Schriftstellers mit
dem Publikum sind ein Menschenalter später kalt wie Leichen. Sie enthielten
keine wirkliche Summe von Lebenskraft, nur Furchtsamkeit einem Publikum
gegenüber, das längst ausgestorben ist, und Berücksichtigung von Ansprüchen,
die längst verstummt sind. Jedes noch so wenig gelesene Buch dagegen, in
welchem der Verfasser ohne Nebenrücksichten so gesprochen, wie er fühlte, und
so gemalt hat, wie er sah, ist und bleibt eine inhaltschwere Urkunde. Man sage
nicht, daß diese Verurteilung der von dem Publikum bestimmten Dichtung sich
mit der Nachweisung des entscheidenden Einflusses der sozialen Umgebung auf
den Schriftsteller nicht vereinigen läßt. Der Schriftsteller kann sich ganz gewiß
nicht außerhalb seines Zeitalters stellen. Aber die Zeitströmung ist nicht ein¬
fach, sie ist doppelt; es giebt hier einen Ober- und Unterstrom. Nur von dem
erstern sich treiben zu lassen ist Schwäche und führt ins Verderben. Mit andern
Worten: es giebt zu jeder Zeit herrschende und beliebte Ideen und Formen,
die nichts sind als die längst gezogenen, nach und nach verknöcherten Resultate
früherer Zeiten, und es giebt eine ganz andre Klasse von Impulsen, die noch nicht
Form gewonnen haben, aber in der Luft liegen, und die von den begabtesten


Die romantische Schule in Frankreich.

Wichtigkeit, Welches gegen den Schluß hin die „Übersehencn und Vergessenen"
behandelt, die Poeten, welche in dem ersten großen Ansturm der Romantik
gegen den Klassizismus zu Grunde gingen oder ihre Kraft aufbrauchten, sodaß
ihnen der nachmalige Friedensschluß zwischen der ästhetischen Überlieferung und
dem neuen Lebensgefühl nicht mehr zu Gute kam.

Setzt nun Brandes bei der ausführlichen Besprechung der hervorragendsten
Erscheinungen alle Vorzüge seiner Kritik ein: den feinen Spürsinn für den Zu¬
sammenhang der persönlichen und literarischen Entwicklung, für die Einwirkung
eines Talents auf das andre (von besondrer Bedeutung erscheint hier der Nach¬
weis der geistigen Beziehungen Alfred de Müssets und George Sands), das
intuitive Gefühl für die innere Selbständigkeit einer poetischen Natur, die Kenntnis
einer Welt von Schöpfungen, die nicht im kritischen, sondern von Haus aus im
genießenden Anteil gewonnen wird, so macht er auch von vornherein klar, was
ihn an den französischen Romantikern anzieht und warum er trotz aller zuge¬
standenen schreienden Mängel, Ungleichheiten, Härten, ja Ungeheuerlichkeiten dieser
Literatur eine starke persönliche Sympathie mit ihr nicht verleugnen kann: „Man
schrieb nicht, um dem Publikum zu gefallen, und das ist es, was den Büchern
dieser Periode ihren Wert giebt. Denn das steht fest: sobald der Schriftsteller
nicht zu den tiefsten Schichten der menschlichen Seele hinuntergestiegen ist, sein
Werk nicht rückhaltlos zu schreiben gewagt, sondern sein Publikum um Rat
gefragt, sich nach den Vorurteilen, der Unwissenheit, der UnWahrhaftigkeit
seines Publikums gerichtet hat, so kann er die höchste Anerkennung bei seinen
Zeitgenossen gefunden haben — und er hat sie in der Regel gefunden —, kann
Lorbeeren und Gold gewonnen haben — für die Literaturgeschichte bleibt sein
Werk wertlos. Alle jene Produkte einer Vernunftehe des Schriftstellers mit
dem Publikum sind ein Menschenalter später kalt wie Leichen. Sie enthielten
keine wirkliche Summe von Lebenskraft, nur Furchtsamkeit einem Publikum
gegenüber, das längst ausgestorben ist, und Berücksichtigung von Ansprüchen,
die längst verstummt sind. Jedes noch so wenig gelesene Buch dagegen, in
welchem der Verfasser ohne Nebenrücksichten so gesprochen, wie er fühlte, und
so gemalt hat, wie er sah, ist und bleibt eine inhaltschwere Urkunde. Man sage
nicht, daß diese Verurteilung der von dem Publikum bestimmten Dichtung sich
mit der Nachweisung des entscheidenden Einflusses der sozialen Umgebung auf
den Schriftsteller nicht vereinigen läßt. Der Schriftsteller kann sich ganz gewiß
nicht außerhalb seines Zeitalters stellen. Aber die Zeitströmung ist nicht ein¬
fach, sie ist doppelt; es giebt hier einen Ober- und Unterstrom. Nur von dem
erstern sich treiben zu lassen ist Schwäche und führt ins Verderben. Mit andern
Worten: es giebt zu jeder Zeit herrschende und beliebte Ideen und Formen,
die nichts sind als die längst gezogenen, nach und nach verknöcherten Resultate
früherer Zeiten, und es giebt eine ganz andre Klasse von Impulsen, die noch nicht
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[0094] Die romantische Schule in Frankreich. Wichtigkeit, Welches gegen den Schluß hin die „Übersehencn und Vergessenen" behandelt, die Poeten, welche in dem ersten großen Ansturm der Romantik gegen den Klassizismus zu Grunde gingen oder ihre Kraft aufbrauchten, sodaß ihnen der nachmalige Friedensschluß zwischen der ästhetischen Überlieferung und dem neuen Lebensgefühl nicht mehr zu Gute kam. Setzt nun Brandes bei der ausführlichen Besprechung der hervorragendsten Erscheinungen alle Vorzüge seiner Kritik ein: den feinen Spürsinn für den Zu¬ sammenhang der persönlichen und literarischen Entwicklung, für die Einwirkung eines Talents auf das andre (von besondrer Bedeutung erscheint hier der Nach¬ weis der geistigen Beziehungen Alfred de Müssets und George Sands), das intuitive Gefühl für die innere Selbständigkeit einer poetischen Natur, die Kenntnis einer Welt von Schöpfungen, die nicht im kritischen, sondern von Haus aus im genießenden Anteil gewonnen wird, so macht er auch von vornherein klar, was ihn an den französischen Romantikern anzieht und warum er trotz aller zuge¬ standenen schreienden Mängel, Ungleichheiten, Härten, ja Ungeheuerlichkeiten dieser Literatur eine starke persönliche Sympathie mit ihr nicht verleugnen kann: „Man schrieb nicht, um dem Publikum zu gefallen, und das ist es, was den Büchern dieser Periode ihren Wert giebt. Denn das steht fest: sobald der Schriftsteller nicht zu den tiefsten Schichten der menschlichen Seele hinuntergestiegen ist, sein Werk nicht rückhaltlos zu schreiben gewagt, sondern sein Publikum um Rat gefragt, sich nach den Vorurteilen, der Unwissenheit, der UnWahrhaftigkeit seines Publikums gerichtet hat, so kann er die höchste Anerkennung bei seinen Zeitgenossen gefunden haben — und er hat sie in der Regel gefunden —, kann Lorbeeren und Gold gewonnen haben — für die Literaturgeschichte bleibt sein Werk wertlos. Alle jene Produkte einer Vernunftehe des Schriftstellers mit dem Publikum sind ein Menschenalter später kalt wie Leichen. Sie enthielten keine wirkliche Summe von Lebenskraft, nur Furchtsamkeit einem Publikum gegenüber, das längst ausgestorben ist, und Berücksichtigung von Ansprüchen, die längst verstummt sind. Jedes noch so wenig gelesene Buch dagegen, in welchem der Verfasser ohne Nebenrücksichten so gesprochen, wie er fühlte, und so gemalt hat, wie er sah, ist und bleibt eine inhaltschwere Urkunde. Man sage nicht, daß diese Verurteilung der von dem Publikum bestimmten Dichtung sich mit der Nachweisung des entscheidenden Einflusses der sozialen Umgebung auf den Schriftsteller nicht vereinigen läßt. Der Schriftsteller kann sich ganz gewiß nicht außerhalb seines Zeitalters stellen. Aber die Zeitströmung ist nicht ein¬ fach, sie ist doppelt; es giebt hier einen Ober- und Unterstrom. Nur von dem erstern sich treiben zu lassen ist Schwäche und führt ins Verderben. Mit andern Worten: es giebt zu jeder Zeit herrschende und beliebte Ideen und Formen, die nichts sind als die längst gezogenen, nach und nach verknöcherten Resultate früherer Zeiten, und es giebt eine ganz andre Klasse von Impulsen, die noch nicht Form gewonnen haben, aber in der Luft liegen, und die von den begabtesten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/94>, abgerufen am 08.09.2024.