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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Die romantische Schule in Frankreich.

fremden, naiveren Literaturen zu bewundern und das barbarischste Volkslied über
die den Regeln entsprechendste Tragödie zu setzen."

Es braucht kaum gesagt zu werden, daß ein Kritiker wie Georg Brandes
bei aller Sympathie für das heißblütig revolutionäre Poeten- und Künstler¬
geschlecht von 1830 die Einseitigkeit und den phantastisch theatralischen Anstrich
der Bewegung weder verhehlt noch leicht nimmt. Scharfsinnig und überzeugend
weist er außerdem nach, daß die jungen Poeten umsonst über ihren Schatten
zu springen versuchten. "Der Nomantismus auf französischem Grund und
Boden ist, trotz seiner vielen gemeinsam europäischen romantischen Elemente, in
vielen Punkten eine klassische Erscheinung, ein Erzeugnis klassisch-französischer
Rhetorik. Die Romantiker in Frankreich schätzten ihre nationalen Vorzüge,
die Klarheit, die Verstandesdurchsichtigkeit ihrer Literatur gering und priesen
Goethe und Shakespeare, weil sie nicht wie Racine und zum Teil Corneille
das Menschenleben in seine abstrakten Elemente sonderten, nicht isolirte und
simplifizirte Gefühle darstellten, die dramatische Antithesen bildeten, sondern das
Leben so blcxz, in seinem ganzen Komplex auf die Bühne warfen. Sie wollten
diesem großen Beispiele folgen. Aber was geschah? Die Wirklichkeit des
Lebens wurde unter ihren Händen (bei Lamartine, de Vigny, George Sand,
Samt Beuve u. s. w.) aufs neue analysirt; bei Victor Hugo und Alexander
Dumas bildeten wie in der klassischen Tragödie die Extreme symmetrische
Kontraste. Ordnung, Maß, aristokratische Feinheit, eine durchsichtige und bildlose
Sprache bestimmte bei Robler, Beyle, Merimee, ganz wie bei den Klassikern
des achtzehnten Jahrhunderts, die poetische Form. Versteht man also unter
Romantik, wie man zu thun Pflegt, einen Überschuß des Inhalts über die
Form, einen von regelmäßigen Formen unbeherrschten Inhalt, so sind alle die
französischen Romantiker Klassiker. Merimee, Gautier, George Sand, Lamartine,
Robler, sie alle sind in diesem Sinne klassisch, ja sogar Victor Hugo ist klassisch.
Das romantische Drama Hugos war abstrahiert, regelmäßig geordnet, über-
schaulich, rhetorisch wie eine Tragödie von Corneille."

Im Sinne dieser Sätze enthält Brandes' "Romantische Schule in Frankreich"
die feinsten und zum Teil überraschendsten Nachweise für die Kontinuität des
französischen Literaturgeistes und für die Fortwirkung jener spezifisch nationalen
Anschauungen und Bedürfnisse, welche den Klassizismus des siebzehnten und
die aufgeklärte "philosophische" Literatur des achtzehnten Jahrhunderts hervor¬
gerufen hatten. Da Brandes die ganze geistige Entwicklung unter der Restauration
und dem Julikönigtum als eine einheitliche betrachtet, so ist es ihm leicht, den
Nachweis zu führen, wie mit der ersten Einlenkung und Besinnung der Talente,
welche sich einst um die Fahne Victor Hugos und seines "Herncmi" geschaart,
überall die Gewöhnungen der nationalen Erziehung und der literarischen Tradition
wieder zu ihrem Recht gelangen. Für die Schätzung der ursprünglichen Stärke
der spezifisch romantischen Strömung ist demnach das Kapitel von besondrer


Die romantische Schule in Frankreich.

fremden, naiveren Literaturen zu bewundern und das barbarischste Volkslied über
die den Regeln entsprechendste Tragödie zu setzen."

Es braucht kaum gesagt zu werden, daß ein Kritiker wie Georg Brandes
bei aller Sympathie für das heißblütig revolutionäre Poeten- und Künstler¬
geschlecht von 1830 die Einseitigkeit und den phantastisch theatralischen Anstrich
der Bewegung weder verhehlt noch leicht nimmt. Scharfsinnig und überzeugend
weist er außerdem nach, daß die jungen Poeten umsonst über ihren Schatten
zu springen versuchten. „Der Nomantismus auf französischem Grund und
Boden ist, trotz seiner vielen gemeinsam europäischen romantischen Elemente, in
vielen Punkten eine klassische Erscheinung, ein Erzeugnis klassisch-französischer
Rhetorik. Die Romantiker in Frankreich schätzten ihre nationalen Vorzüge,
die Klarheit, die Verstandesdurchsichtigkeit ihrer Literatur gering und priesen
Goethe und Shakespeare, weil sie nicht wie Racine und zum Teil Corneille
das Menschenleben in seine abstrakten Elemente sonderten, nicht isolirte und
simplifizirte Gefühle darstellten, die dramatische Antithesen bildeten, sondern das
Leben so blcxz, in seinem ganzen Komplex auf die Bühne warfen. Sie wollten
diesem großen Beispiele folgen. Aber was geschah? Die Wirklichkeit des
Lebens wurde unter ihren Händen (bei Lamartine, de Vigny, George Sand,
Samt Beuve u. s. w.) aufs neue analysirt; bei Victor Hugo und Alexander
Dumas bildeten wie in der klassischen Tragödie die Extreme symmetrische
Kontraste. Ordnung, Maß, aristokratische Feinheit, eine durchsichtige und bildlose
Sprache bestimmte bei Robler, Beyle, Merimee, ganz wie bei den Klassikern
des achtzehnten Jahrhunderts, die poetische Form. Versteht man also unter
Romantik, wie man zu thun Pflegt, einen Überschuß des Inhalts über die
Form, einen von regelmäßigen Formen unbeherrschten Inhalt, so sind alle die
französischen Romantiker Klassiker. Merimee, Gautier, George Sand, Lamartine,
Robler, sie alle sind in diesem Sinne klassisch, ja sogar Victor Hugo ist klassisch.
Das romantische Drama Hugos war abstrahiert, regelmäßig geordnet, über-
schaulich, rhetorisch wie eine Tragödie von Corneille."

Im Sinne dieser Sätze enthält Brandes' „Romantische Schule in Frankreich"
die feinsten und zum Teil überraschendsten Nachweise für die Kontinuität des
französischen Literaturgeistes und für die Fortwirkung jener spezifisch nationalen
Anschauungen und Bedürfnisse, welche den Klassizismus des siebzehnten und
die aufgeklärte „philosophische" Literatur des achtzehnten Jahrhunderts hervor¬
gerufen hatten. Da Brandes die ganze geistige Entwicklung unter der Restauration
und dem Julikönigtum als eine einheitliche betrachtet, so ist es ihm leicht, den
Nachweis zu führen, wie mit der ersten Einlenkung und Besinnung der Talente,
welche sich einst um die Fahne Victor Hugos und seines „Herncmi" geschaart,
überall die Gewöhnungen der nationalen Erziehung und der literarischen Tradition
wieder zu ihrem Recht gelangen. Für die Schätzung der ursprünglichen Stärke
der spezifisch romantischen Strömung ist demnach das Kapitel von besondrer


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[0093] Die romantische Schule in Frankreich. fremden, naiveren Literaturen zu bewundern und das barbarischste Volkslied über die den Regeln entsprechendste Tragödie zu setzen." Es braucht kaum gesagt zu werden, daß ein Kritiker wie Georg Brandes bei aller Sympathie für das heißblütig revolutionäre Poeten- und Künstler¬ geschlecht von 1830 die Einseitigkeit und den phantastisch theatralischen Anstrich der Bewegung weder verhehlt noch leicht nimmt. Scharfsinnig und überzeugend weist er außerdem nach, daß die jungen Poeten umsonst über ihren Schatten zu springen versuchten. „Der Nomantismus auf französischem Grund und Boden ist, trotz seiner vielen gemeinsam europäischen romantischen Elemente, in vielen Punkten eine klassische Erscheinung, ein Erzeugnis klassisch-französischer Rhetorik. Die Romantiker in Frankreich schätzten ihre nationalen Vorzüge, die Klarheit, die Verstandesdurchsichtigkeit ihrer Literatur gering und priesen Goethe und Shakespeare, weil sie nicht wie Racine und zum Teil Corneille das Menschenleben in seine abstrakten Elemente sonderten, nicht isolirte und simplifizirte Gefühle darstellten, die dramatische Antithesen bildeten, sondern das Leben so blcxz, in seinem ganzen Komplex auf die Bühne warfen. Sie wollten diesem großen Beispiele folgen. Aber was geschah? Die Wirklichkeit des Lebens wurde unter ihren Händen (bei Lamartine, de Vigny, George Sand, Samt Beuve u. s. w.) aufs neue analysirt; bei Victor Hugo und Alexander Dumas bildeten wie in der klassischen Tragödie die Extreme symmetrische Kontraste. Ordnung, Maß, aristokratische Feinheit, eine durchsichtige und bildlose Sprache bestimmte bei Robler, Beyle, Merimee, ganz wie bei den Klassikern des achtzehnten Jahrhunderts, die poetische Form. Versteht man also unter Romantik, wie man zu thun Pflegt, einen Überschuß des Inhalts über die Form, einen von regelmäßigen Formen unbeherrschten Inhalt, so sind alle die französischen Romantiker Klassiker. Merimee, Gautier, George Sand, Lamartine, Robler, sie alle sind in diesem Sinne klassisch, ja sogar Victor Hugo ist klassisch. Das romantische Drama Hugos war abstrahiert, regelmäßig geordnet, über- schaulich, rhetorisch wie eine Tragödie von Corneille." Im Sinne dieser Sätze enthält Brandes' „Romantische Schule in Frankreich" die feinsten und zum Teil überraschendsten Nachweise für die Kontinuität des französischen Literaturgeistes und für die Fortwirkung jener spezifisch nationalen Anschauungen und Bedürfnisse, welche den Klassizismus des siebzehnten und die aufgeklärte „philosophische" Literatur des achtzehnten Jahrhunderts hervor¬ gerufen hatten. Da Brandes die ganze geistige Entwicklung unter der Restauration und dem Julikönigtum als eine einheitliche betrachtet, so ist es ihm leicht, den Nachweis zu führen, wie mit der ersten Einlenkung und Besinnung der Talente, welche sich einst um die Fahne Victor Hugos und seines „Herncmi" geschaart, überall die Gewöhnungen der nationalen Erziehung und der literarischen Tradition wieder zu ihrem Recht gelangen. Für die Schätzung der ursprünglichen Stärke der spezifisch romantischen Strömung ist demnach das Kapitel von besondrer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/93>, abgerufen am 08.09.2024.