Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Graf Lhambord ^.

bunten gewesene königliche Familie wahrscheinlich versöhnt haben, und der Enkel
Ludwig Philipps würde Erbe der Krone Heinrichs IV. geworden sein und,
wie der König von Italien 1860 sagte, "die Ära der Revolutionen abgeschlossen
haben."

Ein Dichter hat gesagt: "Der Einzelne gilt täglich weniger, 's ist die
Gesamtheit, die jetzt alles schafft." Das mag in stillen, friedlichen, bedeutungs¬
losen Zeiten eine gewisse Wahrheit gehabt haben, wo keine hervorragende Persön¬
lichkeit die Welt bewegte und umgestaltete. In der politischen Entwicklung der
Staaten und Völkergrnppcn hat es niemals, nicht einmal während der ersten
französischen Revolution, Geltung gehabt, die Masse folgte auch hier energischen
Führern, der demokratische Gedanke einer "Volkspolitik," nach 1848 und während
der Zeit des preußischen Verfassungskonflikts und des seligen Nationalvereins
sehr beliebt, erwies sich jederzeit als eine Illusion, die höchstens Phrasen und
wirkungslose Beschlüsse von Volksversammlungen und Kammermajoritäten zu
stände brachte. Ju sehr merkwürdiger Weise hat sich in dieser Periode und
bis heute der bestimmende Einfluß einzelner mehr oder minder großer Geister
auf den Gang der Dinge und die Entwicklung der Verhältnisse kundgegeben.
Deutschland wäre trotz aller Arbeit des "Volkes," d. h. des Nationalvereins
und der Liberalen überhaupt mit ihren Leitartikeln und Standreden zu Gunsten
der deutschen Idee, mit ihren Turner-, Sänger- und Schützenfesten noch heute
zerrissen, der Spielball der Nebenbuhlerschaft zwischen Preußen und Österreich
und in seiner Schwäche und Unbehilflichkeit das Gelächter der übrigen großen
Nationen Europas, wenn ihm die Vorsehung nicht in Bismarck einen Erlöser
und Befreier aus dieser Kläglichkeit, einen Umgestalter und Einiger gesandt
hätte. Ein Italien ohne Mazzini nud Ccwour würde heute so wenig ein Ein¬
heitsstaat sein wie vor tausend Jahren. Das Wiederaufleben des Imperialismus
in Frankreich läßt sich zum größte" Teil auf die Geschicklichkeit und den be¬
sondern Charakter Louis Napoleons zurückführen, der unter dem Deckmantel
der Schweigsamkeit und Gelassenheit einen ungeheuern Ehrgeiz und ein stetiges,
alle Hindernisse überwindendes Streben verbarg. Der Tod eines jungen Mannes
im Kafferulcmde löschte eine Dynastie aus und vernichtete fast eine Partei in
Frankreich. Welche Bedeutung es für England gehabt hat, daß dort erst
Palmerston, dann Beaconsfield und zuletzt Glcidstone am Ruder stand, liegt
auf der Hand. Die Moral von allen diesen Erscheinungen ist, daß ein einzelner
Mann von Genie oder Thatkraft wie ehedem so noch diesen Tag bis zu einem
gewissen Grade die Geschichte eines Volkes machen, zum Guten oder zum Bösen
wenden kann. Ja unter Umstünden bedarf es dazu nicht einmal des Talents
oder der Energie. Bisweilen thut es sogar eine starke Dosis eigensinniger
Verranntheit, und davon haben wir in dem Grafen Chambord ein schlagendes
Beispiel. Der Einfluß desselben auf die Geschicke seines Vaterlandes ist ein
negativer gewesen. Er hat auf weltlichem Gebiete das Non xossumus Pio


Graf Lhambord ^.

bunten gewesene königliche Familie wahrscheinlich versöhnt haben, und der Enkel
Ludwig Philipps würde Erbe der Krone Heinrichs IV. geworden sein und,
wie der König von Italien 1860 sagte, „die Ära der Revolutionen abgeschlossen
haben."

Ein Dichter hat gesagt: „Der Einzelne gilt täglich weniger, 's ist die
Gesamtheit, die jetzt alles schafft." Das mag in stillen, friedlichen, bedeutungs¬
losen Zeiten eine gewisse Wahrheit gehabt haben, wo keine hervorragende Persön¬
lichkeit die Welt bewegte und umgestaltete. In der politischen Entwicklung der
Staaten und Völkergrnppcn hat es niemals, nicht einmal während der ersten
französischen Revolution, Geltung gehabt, die Masse folgte auch hier energischen
Führern, der demokratische Gedanke einer „Volkspolitik," nach 1848 und während
der Zeit des preußischen Verfassungskonflikts und des seligen Nationalvereins
sehr beliebt, erwies sich jederzeit als eine Illusion, die höchstens Phrasen und
wirkungslose Beschlüsse von Volksversammlungen und Kammermajoritäten zu
stände brachte. Ju sehr merkwürdiger Weise hat sich in dieser Periode und
bis heute der bestimmende Einfluß einzelner mehr oder minder großer Geister
auf den Gang der Dinge und die Entwicklung der Verhältnisse kundgegeben.
Deutschland wäre trotz aller Arbeit des „Volkes," d. h. des Nationalvereins
und der Liberalen überhaupt mit ihren Leitartikeln und Standreden zu Gunsten
der deutschen Idee, mit ihren Turner-, Sänger- und Schützenfesten noch heute
zerrissen, der Spielball der Nebenbuhlerschaft zwischen Preußen und Österreich
und in seiner Schwäche und Unbehilflichkeit das Gelächter der übrigen großen
Nationen Europas, wenn ihm die Vorsehung nicht in Bismarck einen Erlöser
und Befreier aus dieser Kläglichkeit, einen Umgestalter und Einiger gesandt
hätte. Ein Italien ohne Mazzini nud Ccwour würde heute so wenig ein Ein¬
heitsstaat sein wie vor tausend Jahren. Das Wiederaufleben des Imperialismus
in Frankreich läßt sich zum größte« Teil auf die Geschicklichkeit und den be¬
sondern Charakter Louis Napoleons zurückführen, der unter dem Deckmantel
der Schweigsamkeit und Gelassenheit einen ungeheuern Ehrgeiz und ein stetiges,
alle Hindernisse überwindendes Streben verbarg. Der Tod eines jungen Mannes
im Kafferulcmde löschte eine Dynastie aus und vernichtete fast eine Partei in
Frankreich. Welche Bedeutung es für England gehabt hat, daß dort erst
Palmerston, dann Beaconsfield und zuletzt Glcidstone am Ruder stand, liegt
auf der Hand. Die Moral von allen diesen Erscheinungen ist, daß ein einzelner
Mann von Genie oder Thatkraft wie ehedem so noch diesen Tag bis zu einem
gewissen Grade die Geschichte eines Volkes machen, zum Guten oder zum Bösen
wenden kann. Ja unter Umstünden bedarf es dazu nicht einmal des Talents
oder der Energie. Bisweilen thut es sogar eine starke Dosis eigensinniger
Verranntheit, und davon haben wir in dem Grafen Chambord ein schlagendes
Beispiel. Der Einfluß desselben auf die Geschicke seines Vaterlandes ist ein
negativer gewesen. Er hat auf weltlichem Gebiete das Non xossumus Pio


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0491" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/153938"/>
          <fw type="header" place="top"> Graf Lhambord ^.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2199" prev="#ID_2198"> bunten gewesene königliche Familie wahrscheinlich versöhnt haben, und der Enkel<lb/>
Ludwig Philipps würde Erbe der Krone Heinrichs IV. geworden sein und,<lb/>
wie der König von Italien 1860 sagte, &#x201E;die Ära der Revolutionen abgeschlossen<lb/>
haben."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2200" next="#ID_2201"> Ein Dichter hat gesagt: &#x201E;Der Einzelne gilt täglich weniger, 's ist die<lb/>
Gesamtheit, die jetzt alles schafft." Das mag in stillen, friedlichen, bedeutungs¬<lb/>
losen Zeiten eine gewisse Wahrheit gehabt haben, wo keine hervorragende Persön¬<lb/>
lichkeit die Welt bewegte und umgestaltete. In der politischen Entwicklung der<lb/>
Staaten und Völkergrnppcn hat es niemals, nicht einmal während der ersten<lb/>
französischen Revolution, Geltung gehabt, die Masse folgte auch hier energischen<lb/>
Führern, der demokratische Gedanke einer &#x201E;Volkspolitik," nach 1848 und während<lb/>
der Zeit des preußischen Verfassungskonflikts und des seligen Nationalvereins<lb/>
sehr beliebt, erwies sich jederzeit als eine Illusion, die höchstens Phrasen und<lb/>
wirkungslose Beschlüsse von Volksversammlungen und Kammermajoritäten zu<lb/>
stände brachte. Ju sehr merkwürdiger Weise hat sich in dieser Periode und<lb/>
bis heute der bestimmende Einfluß einzelner mehr oder minder großer Geister<lb/>
auf den Gang der Dinge und die Entwicklung der Verhältnisse kundgegeben.<lb/>
Deutschland wäre trotz aller Arbeit des &#x201E;Volkes," d. h. des Nationalvereins<lb/>
und der Liberalen überhaupt mit ihren Leitartikeln und Standreden zu Gunsten<lb/>
der deutschen Idee, mit ihren Turner-, Sänger- und Schützenfesten noch heute<lb/>
zerrissen, der Spielball der Nebenbuhlerschaft zwischen Preußen und Österreich<lb/>
und in seiner Schwäche und Unbehilflichkeit das Gelächter der übrigen großen<lb/>
Nationen Europas, wenn ihm die Vorsehung nicht in Bismarck einen Erlöser<lb/>
und Befreier aus dieser Kläglichkeit, einen Umgestalter und Einiger gesandt<lb/>
hätte. Ein Italien ohne Mazzini nud Ccwour würde heute so wenig ein Ein¬<lb/>
heitsstaat sein wie vor tausend Jahren. Das Wiederaufleben des Imperialismus<lb/>
in Frankreich läßt sich zum größte« Teil auf die Geschicklichkeit und den be¬<lb/>
sondern Charakter Louis Napoleons zurückführen, der unter dem Deckmantel<lb/>
der Schweigsamkeit und Gelassenheit einen ungeheuern Ehrgeiz und ein stetiges,<lb/>
alle Hindernisse überwindendes Streben verbarg. Der Tod eines jungen Mannes<lb/>
im Kafferulcmde löschte eine Dynastie aus und vernichtete fast eine Partei in<lb/>
Frankreich. Welche Bedeutung es für England gehabt hat, daß dort erst<lb/>
Palmerston, dann Beaconsfield und zuletzt Glcidstone am Ruder stand, liegt<lb/>
auf der Hand. Die Moral von allen diesen Erscheinungen ist, daß ein einzelner<lb/>
Mann von Genie oder Thatkraft wie ehedem so noch diesen Tag bis zu einem<lb/>
gewissen Grade die Geschichte eines Volkes machen, zum Guten oder zum Bösen<lb/>
wenden kann. Ja unter Umstünden bedarf es dazu nicht einmal des Talents<lb/>
oder der Energie. Bisweilen thut es sogar eine starke Dosis eigensinniger<lb/>
Verranntheit, und davon haben wir in dem Grafen Chambord ein schlagendes<lb/>
Beispiel. Der Einfluß desselben auf die Geschicke seines Vaterlandes ist ein<lb/>
negativer gewesen.  Er hat auf weltlichem Gebiete das Non xossumus Pio</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0491] Graf Lhambord ^. bunten gewesene königliche Familie wahrscheinlich versöhnt haben, und der Enkel Ludwig Philipps würde Erbe der Krone Heinrichs IV. geworden sein und, wie der König von Italien 1860 sagte, „die Ära der Revolutionen abgeschlossen haben." Ein Dichter hat gesagt: „Der Einzelne gilt täglich weniger, 's ist die Gesamtheit, die jetzt alles schafft." Das mag in stillen, friedlichen, bedeutungs¬ losen Zeiten eine gewisse Wahrheit gehabt haben, wo keine hervorragende Persön¬ lichkeit die Welt bewegte und umgestaltete. In der politischen Entwicklung der Staaten und Völkergrnppcn hat es niemals, nicht einmal während der ersten französischen Revolution, Geltung gehabt, die Masse folgte auch hier energischen Führern, der demokratische Gedanke einer „Volkspolitik," nach 1848 und während der Zeit des preußischen Verfassungskonflikts und des seligen Nationalvereins sehr beliebt, erwies sich jederzeit als eine Illusion, die höchstens Phrasen und wirkungslose Beschlüsse von Volksversammlungen und Kammermajoritäten zu stände brachte. Ju sehr merkwürdiger Weise hat sich in dieser Periode und bis heute der bestimmende Einfluß einzelner mehr oder minder großer Geister auf den Gang der Dinge und die Entwicklung der Verhältnisse kundgegeben. Deutschland wäre trotz aller Arbeit des „Volkes," d. h. des Nationalvereins und der Liberalen überhaupt mit ihren Leitartikeln und Standreden zu Gunsten der deutschen Idee, mit ihren Turner-, Sänger- und Schützenfesten noch heute zerrissen, der Spielball der Nebenbuhlerschaft zwischen Preußen und Österreich und in seiner Schwäche und Unbehilflichkeit das Gelächter der übrigen großen Nationen Europas, wenn ihm die Vorsehung nicht in Bismarck einen Erlöser und Befreier aus dieser Kläglichkeit, einen Umgestalter und Einiger gesandt hätte. Ein Italien ohne Mazzini nud Ccwour würde heute so wenig ein Ein¬ heitsstaat sein wie vor tausend Jahren. Das Wiederaufleben des Imperialismus in Frankreich läßt sich zum größte« Teil auf die Geschicklichkeit und den be¬ sondern Charakter Louis Napoleons zurückführen, der unter dem Deckmantel der Schweigsamkeit und Gelassenheit einen ungeheuern Ehrgeiz und ein stetiges, alle Hindernisse überwindendes Streben verbarg. Der Tod eines jungen Mannes im Kafferulcmde löschte eine Dynastie aus und vernichtete fast eine Partei in Frankreich. Welche Bedeutung es für England gehabt hat, daß dort erst Palmerston, dann Beaconsfield und zuletzt Glcidstone am Ruder stand, liegt auf der Hand. Die Moral von allen diesen Erscheinungen ist, daß ein einzelner Mann von Genie oder Thatkraft wie ehedem so noch diesen Tag bis zu einem gewissen Grade die Geschichte eines Volkes machen, zum Guten oder zum Bösen wenden kann. Ja unter Umstünden bedarf es dazu nicht einmal des Talents oder der Energie. Bisweilen thut es sogar eine starke Dosis eigensinniger Verranntheit, und davon haben wir in dem Grafen Chambord ein schlagendes Beispiel. Der Einfluß desselben auf die Geschicke seines Vaterlandes ist ein negativer gewesen. Er hat auf weltlichem Gebiete das Non xossumus Pio

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/491
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/491>, abgerufen am 08.09.2024.