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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Literarhistorischer Dilettantismus.

gerade ein Man" wie Voltaire sich heute wie früher aller wirksamen Mittel
bedienen würde, um seinen Ideen Geltung zu verschaffen, also vor allem auch
des Theaters und des Romans.

Aber es ist unnütz, Herrn Engel auch nur einen Augenblick ernst zu nehmen.
Mit welcher Überstürzung er Literaturgeschichte schreibt, dafür nur noch ein
einziges Beispiel. S. 428 heißt es: "Der größte französische Dichter des neun¬
zehnten Jahrhunderts ist Viktor Hugo"; S. 443: "Alfred de Musset hat sich
gleich mit seinem ersten Gedichtbande als einen ebenbürtigen -- die Nachwelt
wird sagen Kerr Engel gerirt sich also bereits als Vertreter der Nachwelt!
überlegenen -- Dichter ersten Ranges neben Viktor Hugo und Lamartine ge¬
stellt"; S. 481: "George Sand ist neben Viktor Hugo die imposanteste Er¬
scheinung der neueren französischen Literatur." Wer ist nun der Bedeutendste
von diesen vieren? Das ist die Folge, Herr Engel, Ihres dilettantischen Messens
und Abwägens und Ihrer nichtssagenden Spielerei mit leeren Superlativen
wie "größte," "glänzendste," "imposanteste." Auf weitere Einzelheiten einzugehen
verbietet uns der Raum; nur den einen Rat wollen wir Herrn Engel noch geben,
daß er in Zukunft nicht über Zola schreiben möge, ehe er Zolas theoretische
Schriften gelesen, und nicht über Naturalismus und Realismus, ehe er den Unter¬
schied dieser Worte erkannt hat; selbst er wird dann fürder kein solches Gefasel
wie das im 35. Kapitel zu stände bringen.

Der Stil seines Buches ist schlaff, ohne Rundung und Feile, ein journa¬
listischer Tagearbeitsstil, Bildungen wie "mit dem Jnvergessenheitgeraten" oder
"daß wir ihnen das eine oder andre durch Schadenklugwerdeu schon gönnen
mögen" sind nicht selten. Eigentliche Verstöße gegen die Grammatik kommen
freilich nicht vor (selbst davor ist man ja heute bei vielen Schriftstellern nicht
mehr sicher) und so können wir wenigstens mit einer Anerkennung schließen. Summa
Summarum: Das Engelsche Werk, als ein bloßes Kompendium dilettantischer
Mache für Schüler und Schulgenossen nicht ohne Wert, ermangelt jeder selbst¬
ständigen Bedeutung als Werk der Wissenschaft, und sein Verfasser hat alle
Ursache, bescheiden zu sein, im Hintergrunde zu bleiben und nicht alle Konkur¬
renten für philiströs und verrückt auszuschreien. Der Rückschluß liegt zu nahe.




Literarhistorischer Dilettantismus.

gerade ein Man» wie Voltaire sich heute wie früher aller wirksamen Mittel
bedienen würde, um seinen Ideen Geltung zu verschaffen, also vor allem auch
des Theaters und des Romans.

Aber es ist unnütz, Herrn Engel auch nur einen Augenblick ernst zu nehmen.
Mit welcher Überstürzung er Literaturgeschichte schreibt, dafür nur noch ein
einziges Beispiel. S. 428 heißt es: „Der größte französische Dichter des neun¬
zehnten Jahrhunderts ist Viktor Hugo"; S. 443: „Alfred de Musset hat sich
gleich mit seinem ersten Gedichtbande als einen ebenbürtigen — die Nachwelt
wird sagen Kerr Engel gerirt sich also bereits als Vertreter der Nachwelt!
überlegenen — Dichter ersten Ranges neben Viktor Hugo und Lamartine ge¬
stellt"; S. 481: „George Sand ist neben Viktor Hugo die imposanteste Er¬
scheinung der neueren französischen Literatur." Wer ist nun der Bedeutendste
von diesen vieren? Das ist die Folge, Herr Engel, Ihres dilettantischen Messens
und Abwägens und Ihrer nichtssagenden Spielerei mit leeren Superlativen
wie „größte," „glänzendste," „imposanteste." Auf weitere Einzelheiten einzugehen
verbietet uns der Raum; nur den einen Rat wollen wir Herrn Engel noch geben,
daß er in Zukunft nicht über Zola schreiben möge, ehe er Zolas theoretische
Schriften gelesen, und nicht über Naturalismus und Realismus, ehe er den Unter¬
schied dieser Worte erkannt hat; selbst er wird dann fürder kein solches Gefasel
wie das im 35. Kapitel zu stände bringen.

Der Stil seines Buches ist schlaff, ohne Rundung und Feile, ein journa¬
listischer Tagearbeitsstil, Bildungen wie „mit dem Jnvergessenheitgeraten" oder
„daß wir ihnen das eine oder andre durch Schadenklugwerdeu schon gönnen
mögen" sind nicht selten. Eigentliche Verstöße gegen die Grammatik kommen
freilich nicht vor (selbst davor ist man ja heute bei vielen Schriftstellern nicht
mehr sicher) und so können wir wenigstens mit einer Anerkennung schließen. Summa
Summarum: Das Engelsche Werk, als ein bloßes Kompendium dilettantischer
Mache für Schüler und Schulgenossen nicht ohne Wert, ermangelt jeder selbst¬
ständigen Bedeutung als Werk der Wissenschaft, und sein Verfasser hat alle
Ursache, bescheiden zu sein, im Hintergrunde zu bleiben und nicht alle Konkur¬
renten für philiströs und verrückt auszuschreien. Der Rückschluß liegt zu nahe.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/47>, abgerufen am 08.09.2024.