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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Literarhistorischer Dilettantismus.

Der Dilettant, wie er im Buche steht! Zum richtigen Lesen der Werke hätte
es seiner bisherigen Lebenszeit allein bedurft. Trotzdem schreibt er etwas von
mehrjährigem Studium, obwohl jeder gebildete Mann schon mit Hilfe des
Konversationslexikons eine dreimal bessere Literaturgeschichte als die Engelsche
zu stände bringen würde. Im Konversationslexikon steht wenigstens alles,
was Herr Engel bringt; es steht aber besser, ausführlicher und reichhaltiger
darin. Wer in aller Welt schreibt denn heute noch Literaturgeschichte wie Herr
Engel, ein bloßes Sammelsurium von Namen und Büchern ohne jedes geistige
Band! Fast nirgends wird die Entwicklung der Literatur mit der Entwicklung
der sonstigen geistigen Kultur, des Volkes, der Gesellschaft (was ist eine französische
Literaturgeschichte ohne eine Geschichte der Gesellschaft!) in Verbindung gebracht.
Die einzelnen Kapitel beginnen gewöhnlich so: Überschrift: Die Lyrik des neun¬
zehnten Jahrhunderts. "Sainte-Beuve (1804--1869) hat seine literarische
Laufbahn mit mehreren Gedichtsammlungen begonnen" u. s. w. Keine Literatur¬
geschichte für Töchterschulen kann abrupter vorgehen, keine ist so philiströs wie
diese, denn keine beschränkt sich so sehr darauf, gerade das zu thun, was der
Prospekt verdammt, eine bloße Aufzählung von Namen zu geben. Daß Herr
Engel dabei einige ausläßt, die man sonst anführt, wie den Chretien von Troyes,
das verschlägt nichts; im großen und ganzen giebt er ebensoviel Namen wie andre
Leute auch, die nur einen Band von 640 Seiten zur Verfügung haben. Auf
S. 532 handelt er in 36 Zeilen nicht mehr und nicht weniger als 17 französische
Literarhistoriker ab und wagt es gleichwohl, jedem ein Prädikat zu geben wie
dumm, schneidig, ungründlich, veraltet. Und das wäre nicht philiströs? Von
den Schriftstellern des neunzehnten Jahrhunderts erwähnt er gegen 150, und
unter diesen mehr als 50 nur in einer Zeile; viele, wie Barriere, Sully,
Prudhomme, Scmdeau, About, Erckmann-Chatrian, Champsleurh u a. werden
in vier bis acht Zeilen übers Knie gebrochen. Ja um des Himmelswillen,
was machen denn die verhaßten philiströsen Bücher schlimmeres? Die bedeutenden
Autoren haspeln doch auch sie nicht anders als auf einem halben Dutzend
Seiten ab! Nun, und wie behandelt Herr Engel die bedeutenden Autoren?
Voltaire, behauptet er, ist die Klippe für jede Darstellung der französischen
Literatur, ihm gegenüber also wird er versuchen, sich als Meister zu zeigen.
Leider können wir diesen Beweis der Meisterschaft nicht einfach zum Abdruck
bringen; er besteht in einer bloßen Erzählung des Lebens, einer Zusammen¬
stellung aller bisherigen Urteile über Voltaire und seine philosophischen An¬
sichten, natürlich ohne Gänsefüßchen, einer fast nackten Aufzählung der Schriften
und drei kleinen Gedichtproben. Originell ist nur die Behauptung, daß Voltaires
sämtliche Dramen, Episteln, Geschichtswerke, Epopöen u. s. w. heute in der
Form von Leitartikeln oder Feuilletons erschienen wären. Herr Engel hat
einmal etwas läuten hören von dem journalistischen Geiste Voltaires; gleich
schematistrt er diesen Gedanken in kleinlichster Weise und bedenkt nicht, daß


Literarhistorischer Dilettantismus.

Der Dilettant, wie er im Buche steht! Zum richtigen Lesen der Werke hätte
es seiner bisherigen Lebenszeit allein bedurft. Trotzdem schreibt er etwas von
mehrjährigem Studium, obwohl jeder gebildete Mann schon mit Hilfe des
Konversationslexikons eine dreimal bessere Literaturgeschichte als die Engelsche
zu stände bringen würde. Im Konversationslexikon steht wenigstens alles,
was Herr Engel bringt; es steht aber besser, ausführlicher und reichhaltiger
darin. Wer in aller Welt schreibt denn heute noch Literaturgeschichte wie Herr
Engel, ein bloßes Sammelsurium von Namen und Büchern ohne jedes geistige
Band! Fast nirgends wird die Entwicklung der Literatur mit der Entwicklung
der sonstigen geistigen Kultur, des Volkes, der Gesellschaft (was ist eine französische
Literaturgeschichte ohne eine Geschichte der Gesellschaft!) in Verbindung gebracht.
Die einzelnen Kapitel beginnen gewöhnlich so: Überschrift: Die Lyrik des neun¬
zehnten Jahrhunderts. „Sainte-Beuve (1804—1869) hat seine literarische
Laufbahn mit mehreren Gedichtsammlungen begonnen" u. s. w. Keine Literatur¬
geschichte für Töchterschulen kann abrupter vorgehen, keine ist so philiströs wie
diese, denn keine beschränkt sich so sehr darauf, gerade das zu thun, was der
Prospekt verdammt, eine bloße Aufzählung von Namen zu geben. Daß Herr
Engel dabei einige ausläßt, die man sonst anführt, wie den Chretien von Troyes,
das verschlägt nichts; im großen und ganzen giebt er ebensoviel Namen wie andre
Leute auch, die nur einen Band von 640 Seiten zur Verfügung haben. Auf
S. 532 handelt er in 36 Zeilen nicht mehr und nicht weniger als 17 französische
Literarhistoriker ab und wagt es gleichwohl, jedem ein Prädikat zu geben wie
dumm, schneidig, ungründlich, veraltet. Und das wäre nicht philiströs? Von
den Schriftstellern des neunzehnten Jahrhunderts erwähnt er gegen 150, und
unter diesen mehr als 50 nur in einer Zeile; viele, wie Barriere, Sully,
Prudhomme, Scmdeau, About, Erckmann-Chatrian, Champsleurh u a. werden
in vier bis acht Zeilen übers Knie gebrochen. Ja um des Himmelswillen,
was machen denn die verhaßten philiströsen Bücher schlimmeres? Die bedeutenden
Autoren haspeln doch auch sie nicht anders als auf einem halben Dutzend
Seiten ab! Nun, und wie behandelt Herr Engel die bedeutenden Autoren?
Voltaire, behauptet er, ist die Klippe für jede Darstellung der französischen
Literatur, ihm gegenüber also wird er versuchen, sich als Meister zu zeigen.
Leider können wir diesen Beweis der Meisterschaft nicht einfach zum Abdruck
bringen; er besteht in einer bloßen Erzählung des Lebens, einer Zusammen¬
stellung aller bisherigen Urteile über Voltaire und seine philosophischen An¬
sichten, natürlich ohne Gänsefüßchen, einer fast nackten Aufzählung der Schriften
und drei kleinen Gedichtproben. Originell ist nur die Behauptung, daß Voltaires
sämtliche Dramen, Episteln, Geschichtswerke, Epopöen u. s. w. heute in der
Form von Leitartikeln oder Feuilletons erschienen wären. Herr Engel hat
einmal etwas läuten hören von dem journalistischen Geiste Voltaires; gleich
schematistrt er diesen Gedanken in kleinlichster Weise und bedenkt nicht, daß


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[0046] Literarhistorischer Dilettantismus. Der Dilettant, wie er im Buche steht! Zum richtigen Lesen der Werke hätte es seiner bisherigen Lebenszeit allein bedurft. Trotzdem schreibt er etwas von mehrjährigem Studium, obwohl jeder gebildete Mann schon mit Hilfe des Konversationslexikons eine dreimal bessere Literaturgeschichte als die Engelsche zu stände bringen würde. Im Konversationslexikon steht wenigstens alles, was Herr Engel bringt; es steht aber besser, ausführlicher und reichhaltiger darin. Wer in aller Welt schreibt denn heute noch Literaturgeschichte wie Herr Engel, ein bloßes Sammelsurium von Namen und Büchern ohne jedes geistige Band! Fast nirgends wird die Entwicklung der Literatur mit der Entwicklung der sonstigen geistigen Kultur, des Volkes, der Gesellschaft (was ist eine französische Literaturgeschichte ohne eine Geschichte der Gesellschaft!) in Verbindung gebracht. Die einzelnen Kapitel beginnen gewöhnlich so: Überschrift: Die Lyrik des neun¬ zehnten Jahrhunderts. „Sainte-Beuve (1804—1869) hat seine literarische Laufbahn mit mehreren Gedichtsammlungen begonnen" u. s. w. Keine Literatur¬ geschichte für Töchterschulen kann abrupter vorgehen, keine ist so philiströs wie diese, denn keine beschränkt sich so sehr darauf, gerade das zu thun, was der Prospekt verdammt, eine bloße Aufzählung von Namen zu geben. Daß Herr Engel dabei einige ausläßt, die man sonst anführt, wie den Chretien von Troyes, das verschlägt nichts; im großen und ganzen giebt er ebensoviel Namen wie andre Leute auch, die nur einen Band von 640 Seiten zur Verfügung haben. Auf S. 532 handelt er in 36 Zeilen nicht mehr und nicht weniger als 17 französische Literarhistoriker ab und wagt es gleichwohl, jedem ein Prädikat zu geben wie dumm, schneidig, ungründlich, veraltet. Und das wäre nicht philiströs? Von den Schriftstellern des neunzehnten Jahrhunderts erwähnt er gegen 150, und unter diesen mehr als 50 nur in einer Zeile; viele, wie Barriere, Sully, Prudhomme, Scmdeau, About, Erckmann-Chatrian, Champsleurh u a. werden in vier bis acht Zeilen übers Knie gebrochen. Ja um des Himmelswillen, was machen denn die verhaßten philiströsen Bücher schlimmeres? Die bedeutenden Autoren haspeln doch auch sie nicht anders als auf einem halben Dutzend Seiten ab! Nun, und wie behandelt Herr Engel die bedeutenden Autoren? Voltaire, behauptet er, ist die Klippe für jede Darstellung der französischen Literatur, ihm gegenüber also wird er versuchen, sich als Meister zu zeigen. Leider können wir diesen Beweis der Meisterschaft nicht einfach zum Abdruck bringen; er besteht in einer bloßen Erzählung des Lebens, einer Zusammen¬ stellung aller bisherigen Urteile über Voltaire und seine philosophischen An¬ sichten, natürlich ohne Gänsefüßchen, einer fast nackten Aufzählung der Schriften und drei kleinen Gedichtproben. Originell ist nur die Behauptung, daß Voltaires sämtliche Dramen, Episteln, Geschichtswerke, Epopöen u. s. w. heute in der Form von Leitartikeln oder Feuilletons erschienen wären. Herr Engel hat einmal etwas läuten hören von dem journalistischen Geiste Voltaires; gleich schematistrt er diesen Gedanken in kleinlichster Weise und bedenkt nicht, daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/46>, abgerufen am 08.09.2024.