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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Sinfonie festgestellt hatte. Die Sinfonien spielte man auch losgetrennt von
ihren Opern als besondre Tonwerke. Aber das eigentlich entscheidende für
ihr Selbständigwerden liegt nicht hierin, sondern wiederum in dem Verzicht auf
den Generalbaß. Lange schon nachdem man die Sinfonie nicht mehr als Ein-
leituugsstück ansah, mochte man doch das akkompagnirende Klavier nicht missen.
Auch Emanuel Bachs Sinfonien, soweit wir sie kennen, sind noch mit Cembalo
gesetzt. Damit stellte sich diese Form immer noch gewissermaßen auf den Boden
der Kammermusik. Haydn aber zeigte durch Weglassung des Cembalo, daß er
von einem solchen Zusammenhange nichts mehr wissen wollte. Offenbar war
es auch hier der Gedanke an die Volksmusik, der ihn leitete. Man wolle be¬
denken, daß die damaligen Kapellorchester mit ihren schwach besetzten Violinen,
was den Totalklang betrifft, einem Orchester von Volksmusikanten mit einfach
besetzten Geigen nicht allzufern standen. Blieb nun gleich anfänglich auch die
generalbaßlose Sinfonie noch auf die Privaträume der Fürsten und Großen,
der Klöster und der geschlossenen Musikgesellschaften angewiesen, so trug sie doch
schon jetzt die Möglichkeit einer Entwicklung in sich, durch die sie zu einem
Hauptbestandteil eines reichen öffentlichen Konzertwesens und somit zur Grund¬
lage einer ganz neuen Form der Musikpflege in Deutschland wurde. Von dem
in der Entwicklung um ein Stück vorausschreitenden Streichquartett empfing die
Haydnsche Sinfonie die feinere organische Ausbildung der einzelnen Sätze und
dazu als vierten Satz das Menuett, durch den von neuem der volkstümliche
Grund, auf dem sie stehen sollte, stark betont wurde.

Es sollten dies nur Andeutungen einiger der Wege sein, die, wie ich glaube,
ein geschichtliches Werk, welches Haydn in seinen Mittelpunkt stellt, zu verfolgen,
zu ebnen und zu verbreitern hätte. Ich meine nicht, dem Verfasser unsers
Buches mit diesen Allgemeinheiten etwas neues gesagt zu haben, kann aber auf
eine genauere Ausführung derselben an dieser Stelle nicht eingehen. Ebenso¬
wenig auf den höchst interessanten Organismus, den Haydn seinem Sinfonie¬
orchester schuf, ebensowenig auf seiue Kirchenmusiken, Opern, Oratorien, Lieder.
Zum Teil ist hierzu auch keine Veranlassung, da die.letzte große Schaffens¬
periode des Meisters, in welcher er sich zum Oratorium einen besondern Weg
bahnte, erst in dem dritten Bande des Pohlschen Werkes zur Behandlung
kommen wird. Überall aber liegen ganz neue Kunsterscheinungen vor, teilweise
von abschließender Vollendung, und wo dies nicht der Fall ist, wenigstens doch
durch viele glänzende Eigenschaften fesselnd. Vom Liede z. B. gilt dies in
hohem Grade Haydns Lieder und Gesänge am Klavier sind zum größern
Teile bewunderungswürdig als Musik. Gesangstücke mit Klavierbegleitung sind
sie nicht, sondern Klavierstücke mit nebenhergehendem Gesang. Wie er zu dieser
Eigenart kam, da er doch den hohen Rang der Singstimme völlig anerkannte und
vortrefflich für Gesang zu schreiben verstand, ist wieder eine Frage, die der Historiker
versuchen müßte zu lösen. Kein Zweifel, daß Haydns innerstes Wesen mehr der


<L. L. Pohls L?aydn - Biographie.

Sinfonie festgestellt hatte. Die Sinfonien spielte man auch losgetrennt von
ihren Opern als besondre Tonwerke. Aber das eigentlich entscheidende für
ihr Selbständigwerden liegt nicht hierin, sondern wiederum in dem Verzicht auf
den Generalbaß. Lange schon nachdem man die Sinfonie nicht mehr als Ein-
leituugsstück ansah, mochte man doch das akkompagnirende Klavier nicht missen.
Auch Emanuel Bachs Sinfonien, soweit wir sie kennen, sind noch mit Cembalo
gesetzt. Damit stellte sich diese Form immer noch gewissermaßen auf den Boden
der Kammermusik. Haydn aber zeigte durch Weglassung des Cembalo, daß er
von einem solchen Zusammenhange nichts mehr wissen wollte. Offenbar war
es auch hier der Gedanke an die Volksmusik, der ihn leitete. Man wolle be¬
denken, daß die damaligen Kapellorchester mit ihren schwach besetzten Violinen,
was den Totalklang betrifft, einem Orchester von Volksmusikanten mit einfach
besetzten Geigen nicht allzufern standen. Blieb nun gleich anfänglich auch die
generalbaßlose Sinfonie noch auf die Privaträume der Fürsten und Großen,
der Klöster und der geschlossenen Musikgesellschaften angewiesen, so trug sie doch
schon jetzt die Möglichkeit einer Entwicklung in sich, durch die sie zu einem
Hauptbestandteil eines reichen öffentlichen Konzertwesens und somit zur Grund¬
lage einer ganz neuen Form der Musikpflege in Deutschland wurde. Von dem
in der Entwicklung um ein Stück vorausschreitenden Streichquartett empfing die
Haydnsche Sinfonie die feinere organische Ausbildung der einzelnen Sätze und
dazu als vierten Satz das Menuett, durch den von neuem der volkstümliche
Grund, auf dem sie stehen sollte, stark betont wurde.

Es sollten dies nur Andeutungen einiger der Wege sein, die, wie ich glaube,
ein geschichtliches Werk, welches Haydn in seinen Mittelpunkt stellt, zu verfolgen,
zu ebnen und zu verbreitern hätte. Ich meine nicht, dem Verfasser unsers
Buches mit diesen Allgemeinheiten etwas neues gesagt zu haben, kann aber auf
eine genauere Ausführung derselben an dieser Stelle nicht eingehen. Ebenso¬
wenig auf den höchst interessanten Organismus, den Haydn seinem Sinfonie¬
orchester schuf, ebensowenig auf seiue Kirchenmusiken, Opern, Oratorien, Lieder.
Zum Teil ist hierzu auch keine Veranlassung, da die.letzte große Schaffens¬
periode des Meisters, in welcher er sich zum Oratorium einen besondern Weg
bahnte, erst in dem dritten Bande des Pohlschen Werkes zur Behandlung
kommen wird. Überall aber liegen ganz neue Kunsterscheinungen vor, teilweise
von abschließender Vollendung, und wo dies nicht der Fall ist, wenigstens doch
durch viele glänzende Eigenschaften fesselnd. Vom Liede z. B. gilt dies in
hohem Grade Haydns Lieder und Gesänge am Klavier sind zum größern
Teile bewunderungswürdig als Musik. Gesangstücke mit Klavierbegleitung sind
sie nicht, sondern Klavierstücke mit nebenhergehendem Gesang. Wie er zu dieser
Eigenart kam, da er doch den hohen Rang der Singstimme völlig anerkannte und
vortrefflich für Gesang zu schreiben verstand, ist wieder eine Frage, die der Historiker
versuchen müßte zu lösen. Kein Zweifel, daß Haydns innerstes Wesen mehr der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/467>, abgerufen am 08.09.2024.