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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Der Pariser Salon.

noch der beabsichtigte, aber im höchsten Grade verstimmende melodramatische
Effekt, daß die obdachlose Familie vor einer Mauer sitzt, an welcher Plakate
mit Ankündigungen von großen Festen angeklebt sind. Wird man hier durch
das geringe Taktgefühl des Malers verletzt, so kann man gegen Girons "Zwei
Schwestern" nur den Vorwurf der Geschmacklosigkeit erheben. Er hat nämlich
auf einer Leinwand von sechs Metern in der Länge das Getümmel von Wagen,
Reitern und Fußgängern in naturgroße dargestellt, welches sich jeden Nach¬
mittag bei der Rückkehr der eleganten Welt aus dem Bois de Boulogne vor
der Madeleinekirche entwickelt. Die Mitte des Bildes nimmt die vornehm aus-
staffirte Kalesche einer jener Damen ein, welche im öffentlichen Leben der fran¬
zösischen Hauptstadt eine so bedeutende Rolle spielen, daß auch die Kunst uicht
umhin kann, ihnen reichliche Tribute darzubringen. Die honnette Schwester
der Gefallenen überschreitet mit ihrem von der Arbeit heimkehrenden Manne
und ihren Kindern gerade den Straßendamm, als das luxuriöse Gefährt
mit seiner in die zarteste Frühjahrstoilette gekleideten Insassin vorüberfährt.
Voll Entrüstung streckt die Arbeiterfrau der entarteten Schwester die Hand
mit jener verächtlichen Geberde entgegen, welcher man im Altertum eine
große Wirksamkeit zur Abwehr des bösen Blickes zuschrieb. Wenn man
den Künstlern Gehör geben will, wird man genng Gründe erfahren, welche
sie trotz jener oben erwähnten praktischen Bedenken zur Wahl eines unver¬
hältnismäßig großen Formats veranlassen. Der äußerlichste, gleichwohl aber
triftigste dieser Gründe ist der, daß es einem jungen Künstler nur möglich
wird, durch die ungeheure Bildermasse eines jeden Salons hindurchzudringen,
wenn er gewissermaßen einen Gewaltakt riskirt. In Paris wird man nur mit
einem Schlage oder niemals berühmt, was allerdings nicht hindert, daß der
berühmt Gewordene ebenso schnell wieder in Vergessenheit gerät, als ihn die Gunst
der Menge auf den Schild erhoben hat. Der Wetteifer in künstlerischen Dingen
wird unter solchen Verhältnissen zu einem Vs.-liMciu6-Spiel degradirt, von
welchem wir übrigens, um die Wahrheit zu sagen, auch in Deutschland bereits
die ersten Symptome erlebt haben. Man darf also die Künstler, welche sich zu
solchen Extravaganzen, wie wir sie geschildert, hinreißen lassen, nicht allzu hart
beurteilen. Es handelt sich hierbei in vielen Fällen um eine Existenzfrage, und
einer solchen gegenüber kann man nicht nachsichtig genug sein.

Was einem Deutschen, welcher die Pariser Salons der letzten zehn Jahre
studirt hat, besonders auffällt, ist der griesgrämige Zug, der die Malerei wie
die Plastik charakterisirt. In der Literatur sowohl wie von der Bühne herab
hört man immer die Forderung: "Heiter! Lustig!" oder in der Formel der ver¬
urteilenden Kritik: n'oft Mi! Aber in der Kunst findet dieses Lo¬
sungswort keinen Wiederhall. Man behauptet zwar, daß der Humor nicht das
Erbteil der romanischen Rasse ist. Doch läßt sich diese Behauptung am besten
mit dem Hinweis auf die italienischen Maler und Bildhauer entkräften, welche,


Der Pariser Salon.

noch der beabsichtigte, aber im höchsten Grade verstimmende melodramatische
Effekt, daß die obdachlose Familie vor einer Mauer sitzt, an welcher Plakate
mit Ankündigungen von großen Festen angeklebt sind. Wird man hier durch
das geringe Taktgefühl des Malers verletzt, so kann man gegen Girons „Zwei
Schwestern" nur den Vorwurf der Geschmacklosigkeit erheben. Er hat nämlich
auf einer Leinwand von sechs Metern in der Länge das Getümmel von Wagen,
Reitern und Fußgängern in naturgroße dargestellt, welches sich jeden Nach¬
mittag bei der Rückkehr der eleganten Welt aus dem Bois de Boulogne vor
der Madeleinekirche entwickelt. Die Mitte des Bildes nimmt die vornehm aus-
staffirte Kalesche einer jener Damen ein, welche im öffentlichen Leben der fran¬
zösischen Hauptstadt eine so bedeutende Rolle spielen, daß auch die Kunst uicht
umhin kann, ihnen reichliche Tribute darzubringen. Die honnette Schwester
der Gefallenen überschreitet mit ihrem von der Arbeit heimkehrenden Manne
und ihren Kindern gerade den Straßendamm, als das luxuriöse Gefährt
mit seiner in die zarteste Frühjahrstoilette gekleideten Insassin vorüberfährt.
Voll Entrüstung streckt die Arbeiterfrau der entarteten Schwester die Hand
mit jener verächtlichen Geberde entgegen, welcher man im Altertum eine
große Wirksamkeit zur Abwehr des bösen Blickes zuschrieb. Wenn man
den Künstlern Gehör geben will, wird man genng Gründe erfahren, welche
sie trotz jener oben erwähnten praktischen Bedenken zur Wahl eines unver¬
hältnismäßig großen Formats veranlassen. Der äußerlichste, gleichwohl aber
triftigste dieser Gründe ist der, daß es einem jungen Künstler nur möglich
wird, durch die ungeheure Bildermasse eines jeden Salons hindurchzudringen,
wenn er gewissermaßen einen Gewaltakt riskirt. In Paris wird man nur mit
einem Schlage oder niemals berühmt, was allerdings nicht hindert, daß der
berühmt Gewordene ebenso schnell wieder in Vergessenheit gerät, als ihn die Gunst
der Menge auf den Schild erhoben hat. Der Wetteifer in künstlerischen Dingen
wird unter solchen Verhältnissen zu einem Vs.-liMciu6-Spiel degradirt, von
welchem wir übrigens, um die Wahrheit zu sagen, auch in Deutschland bereits
die ersten Symptome erlebt haben. Man darf also die Künstler, welche sich zu
solchen Extravaganzen, wie wir sie geschildert, hinreißen lassen, nicht allzu hart
beurteilen. Es handelt sich hierbei in vielen Fällen um eine Existenzfrage, und
einer solchen gegenüber kann man nicht nachsichtig genug sein.

Was einem Deutschen, welcher die Pariser Salons der letzten zehn Jahre
studirt hat, besonders auffällt, ist der griesgrämige Zug, der die Malerei wie
die Plastik charakterisirt. In der Literatur sowohl wie von der Bühne herab
hört man immer die Forderung: „Heiter! Lustig!" oder in der Formel der ver¬
urteilenden Kritik: n'oft Mi! Aber in der Kunst findet dieses Lo¬
sungswort keinen Wiederhall. Man behauptet zwar, daß der Humor nicht das
Erbteil der romanischen Rasse ist. Doch läßt sich diese Behauptung am besten
mit dem Hinweis auf die italienischen Maler und Bildhauer entkräften, welche,


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[0362] Der Pariser Salon. noch der beabsichtigte, aber im höchsten Grade verstimmende melodramatische Effekt, daß die obdachlose Familie vor einer Mauer sitzt, an welcher Plakate mit Ankündigungen von großen Festen angeklebt sind. Wird man hier durch das geringe Taktgefühl des Malers verletzt, so kann man gegen Girons „Zwei Schwestern" nur den Vorwurf der Geschmacklosigkeit erheben. Er hat nämlich auf einer Leinwand von sechs Metern in der Länge das Getümmel von Wagen, Reitern und Fußgängern in naturgroße dargestellt, welches sich jeden Nach¬ mittag bei der Rückkehr der eleganten Welt aus dem Bois de Boulogne vor der Madeleinekirche entwickelt. Die Mitte des Bildes nimmt die vornehm aus- staffirte Kalesche einer jener Damen ein, welche im öffentlichen Leben der fran¬ zösischen Hauptstadt eine so bedeutende Rolle spielen, daß auch die Kunst uicht umhin kann, ihnen reichliche Tribute darzubringen. Die honnette Schwester der Gefallenen überschreitet mit ihrem von der Arbeit heimkehrenden Manne und ihren Kindern gerade den Straßendamm, als das luxuriöse Gefährt mit seiner in die zarteste Frühjahrstoilette gekleideten Insassin vorüberfährt. Voll Entrüstung streckt die Arbeiterfrau der entarteten Schwester die Hand mit jener verächtlichen Geberde entgegen, welcher man im Altertum eine große Wirksamkeit zur Abwehr des bösen Blickes zuschrieb. Wenn man den Künstlern Gehör geben will, wird man genng Gründe erfahren, welche sie trotz jener oben erwähnten praktischen Bedenken zur Wahl eines unver¬ hältnismäßig großen Formats veranlassen. Der äußerlichste, gleichwohl aber triftigste dieser Gründe ist der, daß es einem jungen Künstler nur möglich wird, durch die ungeheure Bildermasse eines jeden Salons hindurchzudringen, wenn er gewissermaßen einen Gewaltakt riskirt. In Paris wird man nur mit einem Schlage oder niemals berühmt, was allerdings nicht hindert, daß der berühmt Gewordene ebenso schnell wieder in Vergessenheit gerät, als ihn die Gunst der Menge auf den Schild erhoben hat. Der Wetteifer in künstlerischen Dingen wird unter solchen Verhältnissen zu einem Vs.-liMciu6-Spiel degradirt, von welchem wir übrigens, um die Wahrheit zu sagen, auch in Deutschland bereits die ersten Symptome erlebt haben. Man darf also die Künstler, welche sich zu solchen Extravaganzen, wie wir sie geschildert, hinreißen lassen, nicht allzu hart beurteilen. Es handelt sich hierbei in vielen Fällen um eine Existenzfrage, und einer solchen gegenüber kann man nicht nachsichtig genug sein. Was einem Deutschen, welcher die Pariser Salons der letzten zehn Jahre studirt hat, besonders auffällt, ist der griesgrämige Zug, der die Malerei wie die Plastik charakterisirt. In der Literatur sowohl wie von der Bühne herab hört man immer die Forderung: „Heiter! Lustig!" oder in der Formel der ver¬ urteilenden Kritik: n'oft Mi! Aber in der Kunst findet dieses Lo¬ sungswort keinen Wiederhall. Man behauptet zwar, daß der Humor nicht das Erbteil der romanischen Rasse ist. Doch läßt sich diese Behauptung am besten mit dem Hinweis auf die italienischen Maler und Bildhauer entkräften, welche,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/362>, abgerufen am 08.09.2024.