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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Der pariser Salon.

Reiz ersetzt. Diese Absicht hat zunächst wohl zur Wahl der Naturgrößen
Dimensionen den Anlaß gegeben. Auf einer großen Leinwandflächc kann man
sowohl alle Raffinements des Pinsels und der Palette in unbeschränkter Aus¬
führlichkeit zum besten geben, als auch in Zeichnung und Mvdellirung mit der
Natur wetteifern. Sind die Dimensionen der Wirklichkeit übereinstimmend mit
denen des Gemäldes, so findet der Maler umso leichter einen Eideshelfer,
welcher ihm seine skrupulöse Gewissenhaftigkeit der Natur gegenüber, seine "Auf¬
richtigkeit," mit der bekannten Formel bescheinigen kann: ?our voxis von-
form" X. X. Wenn es dem Maler also gelungen ist, jede Runzel des Ant¬
litzes, jede Falte der Haut, jede Rippe des Kohlblattes wörtlich in seine Kopie
einzutragen, so haben wir im besten Falle eine Augenblicksphotographie nach
der Natur vor uns. Eine Augenblicksphotographie um deswegen, weil die
Figuren, die Gruppen nicht nach künstlerischen Grundsätzen arrangirt und kom-
ponirt, sondern weil dieselben so abgeschrieben werden, wie sie eine zufällige
Beobachtung erfaßt hat. Diese Malerei beschränkt sich also auf die Wiedergabe
von Typen, die größtenteils allein vorgeführt oder, wenn es hoch kommt, durch
ein gemeinsames Interesse verbunden oder, am seltensten, durch eine gemein¬
schaftliche Thätigkeit vereinigt werden. Die Gemälde von Baseler-Lepagc liefern
die beste Illustration zu diesen allgemeinen Beobachtungen. Einmal sind es
Frauen bei der Kartoffelernte, das andremal Frauen beim Heumachen, dann
ein alter Bettler, welcher das empfangene Almosen in die Tasche steckt, zniu
vierten ein zahnloser Holzsammler mit seinem Enkelkinde, -- immer und überall
das Streben nach möglichster Plattheit und ein ängstliches Vermeiden jedes
nobeln Aufschwunges. Baseler-Lepagc macht eine Reise nach London. Was
sieht er? Straßentypen und nichts als Straßentypen! Einen pfiffigen
Knaben in roter Bluse, welcher als "Kommissionär" auf den öffentlichen
Plätzen nach Aufträgen umherlungert, und eine Blumeuverküuferin, auf deren
blasses und welkes Antlitz das Laster seine Memoiren eingegrnben hat!
Die Besucher der Amsterdamer Ausstellung haben den Vorzug, diese Früchte
der sinosrit" zu bewundern. Die Virtuosität des Machwerks kann man ihnen
nicht abstreiten. Aber wenn man die technischen Kunststücke abzieht und diese
ungebührlich großen Leiuwaudflächen auf ihre Quintessenz zurückführt, so bleibt
nichts übrig als ein lebendiges Croqnis aus dem Pariser und Londoner Leben,
wie es uns Gericault mit größerer Schärfe der Charakteristik und mit tieferen
Ernst, Gavarin mit größerer Lebendigkeit und mit Humor, Cham mit mehr
Witz und Geist vorgeführt haben. "Der Humor! Wo bleibt der Humor!" So
wird jeder Engländer, jeder Deutsche, jeder Italiener fragen, wenn er diese feier¬
lichen Darstellungen aus dem Bauernleben sieht. Wir Deutschen insbesondre
vermögen uns mit dieser fremdartigen Gesellschaft ganz und gar nicht vertraut zu
machen. Haben denn diese Bursche und Dirnen das Lachen verlernt oder haben
sie es überhaupt niemals verstanden? Da sehe sich jemand einmal eine Wirtshaus-


Der pariser Salon.

Reiz ersetzt. Diese Absicht hat zunächst wohl zur Wahl der Naturgrößen
Dimensionen den Anlaß gegeben. Auf einer großen Leinwandflächc kann man
sowohl alle Raffinements des Pinsels und der Palette in unbeschränkter Aus¬
führlichkeit zum besten geben, als auch in Zeichnung und Mvdellirung mit der
Natur wetteifern. Sind die Dimensionen der Wirklichkeit übereinstimmend mit
denen des Gemäldes, so findet der Maler umso leichter einen Eideshelfer,
welcher ihm seine skrupulöse Gewissenhaftigkeit der Natur gegenüber, seine „Auf¬
richtigkeit," mit der bekannten Formel bescheinigen kann: ?our voxis von-
form« X. X. Wenn es dem Maler also gelungen ist, jede Runzel des Ant¬
litzes, jede Falte der Haut, jede Rippe des Kohlblattes wörtlich in seine Kopie
einzutragen, so haben wir im besten Falle eine Augenblicksphotographie nach
der Natur vor uns. Eine Augenblicksphotographie um deswegen, weil die
Figuren, die Gruppen nicht nach künstlerischen Grundsätzen arrangirt und kom-
ponirt, sondern weil dieselben so abgeschrieben werden, wie sie eine zufällige
Beobachtung erfaßt hat. Diese Malerei beschränkt sich also auf die Wiedergabe
von Typen, die größtenteils allein vorgeführt oder, wenn es hoch kommt, durch
ein gemeinsames Interesse verbunden oder, am seltensten, durch eine gemein¬
schaftliche Thätigkeit vereinigt werden. Die Gemälde von Baseler-Lepagc liefern
die beste Illustration zu diesen allgemeinen Beobachtungen. Einmal sind es
Frauen bei der Kartoffelernte, das andremal Frauen beim Heumachen, dann
ein alter Bettler, welcher das empfangene Almosen in die Tasche steckt, zniu
vierten ein zahnloser Holzsammler mit seinem Enkelkinde, — immer und überall
das Streben nach möglichster Plattheit und ein ängstliches Vermeiden jedes
nobeln Aufschwunges. Baseler-Lepagc macht eine Reise nach London. Was
sieht er? Straßentypen und nichts als Straßentypen! Einen pfiffigen
Knaben in roter Bluse, welcher als „Kommissionär" auf den öffentlichen
Plätzen nach Aufträgen umherlungert, und eine Blumeuverküuferin, auf deren
blasses und welkes Antlitz das Laster seine Memoiren eingegrnben hat!
Die Besucher der Amsterdamer Ausstellung haben den Vorzug, diese Früchte
der sinosrit« zu bewundern. Die Virtuosität des Machwerks kann man ihnen
nicht abstreiten. Aber wenn man die technischen Kunststücke abzieht und diese
ungebührlich großen Leiuwaudflächen auf ihre Quintessenz zurückführt, so bleibt
nichts übrig als ein lebendiges Croqnis aus dem Pariser und Londoner Leben,
wie es uns Gericault mit größerer Schärfe der Charakteristik und mit tieferen
Ernst, Gavarin mit größerer Lebendigkeit und mit Humor, Cham mit mehr
Witz und Geist vorgeführt haben. „Der Humor! Wo bleibt der Humor!" So
wird jeder Engländer, jeder Deutsche, jeder Italiener fragen, wenn er diese feier¬
lichen Darstellungen aus dem Bauernleben sieht. Wir Deutschen insbesondre
vermögen uns mit dieser fremdartigen Gesellschaft ganz und gar nicht vertraut zu
machen. Haben denn diese Bursche und Dirnen das Lachen verlernt oder haben
sie es überhaupt niemals verstanden? Da sehe sich jemand einmal eine Wirtshaus-


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[0358] Der pariser Salon. Reiz ersetzt. Diese Absicht hat zunächst wohl zur Wahl der Naturgrößen Dimensionen den Anlaß gegeben. Auf einer großen Leinwandflächc kann man sowohl alle Raffinements des Pinsels und der Palette in unbeschränkter Aus¬ führlichkeit zum besten geben, als auch in Zeichnung und Mvdellirung mit der Natur wetteifern. Sind die Dimensionen der Wirklichkeit übereinstimmend mit denen des Gemäldes, so findet der Maler umso leichter einen Eideshelfer, welcher ihm seine skrupulöse Gewissenhaftigkeit der Natur gegenüber, seine „Auf¬ richtigkeit," mit der bekannten Formel bescheinigen kann: ?our voxis von- form« X. X. Wenn es dem Maler also gelungen ist, jede Runzel des Ant¬ litzes, jede Falte der Haut, jede Rippe des Kohlblattes wörtlich in seine Kopie einzutragen, so haben wir im besten Falle eine Augenblicksphotographie nach der Natur vor uns. Eine Augenblicksphotographie um deswegen, weil die Figuren, die Gruppen nicht nach künstlerischen Grundsätzen arrangirt und kom- ponirt, sondern weil dieselben so abgeschrieben werden, wie sie eine zufällige Beobachtung erfaßt hat. Diese Malerei beschränkt sich also auf die Wiedergabe von Typen, die größtenteils allein vorgeführt oder, wenn es hoch kommt, durch ein gemeinsames Interesse verbunden oder, am seltensten, durch eine gemein¬ schaftliche Thätigkeit vereinigt werden. Die Gemälde von Baseler-Lepagc liefern die beste Illustration zu diesen allgemeinen Beobachtungen. Einmal sind es Frauen bei der Kartoffelernte, das andremal Frauen beim Heumachen, dann ein alter Bettler, welcher das empfangene Almosen in die Tasche steckt, zniu vierten ein zahnloser Holzsammler mit seinem Enkelkinde, — immer und überall das Streben nach möglichster Plattheit und ein ängstliches Vermeiden jedes nobeln Aufschwunges. Baseler-Lepagc macht eine Reise nach London. Was sieht er? Straßentypen und nichts als Straßentypen! Einen pfiffigen Knaben in roter Bluse, welcher als „Kommissionär" auf den öffentlichen Plätzen nach Aufträgen umherlungert, und eine Blumeuverküuferin, auf deren blasses und welkes Antlitz das Laster seine Memoiren eingegrnben hat! Die Besucher der Amsterdamer Ausstellung haben den Vorzug, diese Früchte der sinosrit« zu bewundern. Die Virtuosität des Machwerks kann man ihnen nicht abstreiten. Aber wenn man die technischen Kunststücke abzieht und diese ungebührlich großen Leiuwaudflächen auf ihre Quintessenz zurückführt, so bleibt nichts übrig als ein lebendiges Croqnis aus dem Pariser und Londoner Leben, wie es uns Gericault mit größerer Schärfe der Charakteristik und mit tieferen Ernst, Gavarin mit größerer Lebendigkeit und mit Humor, Cham mit mehr Witz und Geist vorgeführt haben. „Der Humor! Wo bleibt der Humor!" So wird jeder Engländer, jeder Deutsche, jeder Italiener fragen, wenn er diese feier¬ lichen Darstellungen aus dem Bauernleben sieht. Wir Deutschen insbesondre vermögen uns mit dieser fremdartigen Gesellschaft ganz und gar nicht vertraut zu machen. Haben denn diese Bursche und Dirnen das Lachen verlernt oder haben sie es überhaupt niemals verstanden? Da sehe sich jemand einmal eine Wirtshaus-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/358>, abgerufen am 08.09.2024.