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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Die Aufgabe der nachwagnerischon Vper.

indem sie tels störende, die Idee oft verhüllende Beiwerk des wirkliche" Lebens
schon abgestreift haben und den Stoff in reinerer poetischer Gestalt darbieten.
Die Hauptsache ist aber doch, daß die darzustellende Begebenheit eine ihrem
Charakter, sei dieser nnn tragisch oder komisch, ernst oder heiter, entsprechende
innere Bedeutung habe. Wenn sie solche besitzt, dann ist es gleichgiltig, wo der
Dichter den Stoff hergenommen hat. Wodurch erhält sie und worin besteht
nnn aber diese innere Bedeutung?

Wir haben bereits gesehen, daß, um einen Vorgang poetisch interessant zu
machen, eine Sonderung des Gleichgiltig-Thatsächlichen vom menschlich Anteil¬
erweckenden notwendig ist, aber das allein genügt noch nicht Die Kunst muß
den für sie abgesonderten Stoff nun in eine Form bringen, in welcher sein
ideeller Gehalt, ungehindert durch zufälliges Beiwerk, rein zur Erscheinung ge¬
langt; nur soweit ihr dies gelingt, wird der dargestellte Hergang künstlerisch
interessiren. Die Darstellung durch ein Kunstwerk soll sich nämlich von dem
Verlauf in der Wirklichkeit dadurch unterscheiden, daß sie dem Gegenstande bei
jeder Wiederholung dasselbe Interesse verleiht, als wenn die Thatsachen sich
jetzt erst vollzögen, während die Begebenheit als solche nur einmal Eindruck
macht, nämlich wenn man zum erstenmale davon erfährt. Nachher wird sie im
Gedächtnis g-viA gelegt. Die künstlerische Bearbeitung ist es also, worauf
es zu guter letzt ankommt, und wir können überall beobachten, wo die künst¬
lerische Bearbeitung von der Idee abweicht, oder wo die Kraft des großen Ta¬
lents fehlt, daß da das stofflich-Thatsächliche nicht ausreicht, uns zu interessiren,
sei es an sich auch noch so bedeutungsvoll. Und umgekehrt, wo die künstlerische
Gestaltungskraft großes geleistet hat, fühlen wir uns immer wieder hingezogen,
selbst wenn es sich um thatsächlich unwichtige Dinge handelt, denn die äußere
und innere Bedeutung der Dinge ist sehr verschieden von einander; die letztere
spiegelt sich hauptsächlich in der Wirkung der Vorgänge auf die Gemüter der
dabei Beteiligten und umgekehrt in dem bestimmenden Einfluß der Willensbe¬
strebungen auf die Vorgänge, also in der lebendigen Wechselwirkung zwischen
beiden. Diese Wechselwirkung recht anschaulich zu gestalten, ist der nächste Zweck
der künstlerischen Bearbeitung. Auch die äußern Reizmittel einer glänzenden
Szenerie und Ausstattung sind gleichgiltig gegenüber der künstlerischen Bearbei¬
tung, sobald uns die Wahrheit und Schönheit der letztern zinn Bewußtsein ge¬
kommen ist. Wir lassen uns die jämmerlichste Ausstattung des Don Juan ge¬
fallen, ohne darin eine wesentliche Beeinträchtigung unsers Kunstgenusses zu
erblicken, wenn nur die musikalische und gefängliche Darstellung uns die wunder¬
volle musikalische Charakteristik, die frisch packende Schilderung und den quellenden
Fluß musikalischer Erfindung befriedigend wiedergiebt.

An dieser künstlerischen Bearbeitung sind nun zwar alle bei der Oper mit¬
wirkenden Künste beteiligt, aber nicht alle in gleichem Grade, und keine in einem
höhern als die Musik, dadurch daß sie auf alles, was sie mit ihren Klängen


Die Aufgabe der nachwagnerischon Vper.

indem sie tels störende, die Idee oft verhüllende Beiwerk des wirkliche» Lebens
schon abgestreift haben und den Stoff in reinerer poetischer Gestalt darbieten.
Die Hauptsache ist aber doch, daß die darzustellende Begebenheit eine ihrem
Charakter, sei dieser nnn tragisch oder komisch, ernst oder heiter, entsprechende
innere Bedeutung habe. Wenn sie solche besitzt, dann ist es gleichgiltig, wo der
Dichter den Stoff hergenommen hat. Wodurch erhält sie und worin besteht
nnn aber diese innere Bedeutung?

Wir haben bereits gesehen, daß, um einen Vorgang poetisch interessant zu
machen, eine Sonderung des Gleichgiltig-Thatsächlichen vom menschlich Anteil¬
erweckenden notwendig ist, aber das allein genügt noch nicht Die Kunst muß
den für sie abgesonderten Stoff nun in eine Form bringen, in welcher sein
ideeller Gehalt, ungehindert durch zufälliges Beiwerk, rein zur Erscheinung ge¬
langt; nur soweit ihr dies gelingt, wird der dargestellte Hergang künstlerisch
interessiren. Die Darstellung durch ein Kunstwerk soll sich nämlich von dem
Verlauf in der Wirklichkeit dadurch unterscheiden, daß sie dem Gegenstande bei
jeder Wiederholung dasselbe Interesse verleiht, als wenn die Thatsachen sich
jetzt erst vollzögen, während die Begebenheit als solche nur einmal Eindruck
macht, nämlich wenn man zum erstenmale davon erfährt. Nachher wird sie im
Gedächtnis g-viA gelegt. Die künstlerische Bearbeitung ist es also, worauf
es zu guter letzt ankommt, und wir können überall beobachten, wo die künst¬
lerische Bearbeitung von der Idee abweicht, oder wo die Kraft des großen Ta¬
lents fehlt, daß da das stofflich-Thatsächliche nicht ausreicht, uns zu interessiren,
sei es an sich auch noch so bedeutungsvoll. Und umgekehrt, wo die künstlerische
Gestaltungskraft großes geleistet hat, fühlen wir uns immer wieder hingezogen,
selbst wenn es sich um thatsächlich unwichtige Dinge handelt, denn die äußere
und innere Bedeutung der Dinge ist sehr verschieden von einander; die letztere
spiegelt sich hauptsächlich in der Wirkung der Vorgänge auf die Gemüter der
dabei Beteiligten und umgekehrt in dem bestimmenden Einfluß der Willensbe¬
strebungen auf die Vorgänge, also in der lebendigen Wechselwirkung zwischen
beiden. Diese Wechselwirkung recht anschaulich zu gestalten, ist der nächste Zweck
der künstlerischen Bearbeitung. Auch die äußern Reizmittel einer glänzenden
Szenerie und Ausstattung sind gleichgiltig gegenüber der künstlerischen Bearbei¬
tung, sobald uns die Wahrheit und Schönheit der letztern zinn Bewußtsein ge¬
kommen ist. Wir lassen uns die jämmerlichste Ausstattung des Don Juan ge¬
fallen, ohne darin eine wesentliche Beeinträchtigung unsers Kunstgenusses zu
erblicken, wenn nur die musikalische und gefängliche Darstellung uns die wunder¬
volle musikalische Charakteristik, die frisch packende Schilderung und den quellenden
Fluß musikalischer Erfindung befriedigend wiedergiebt.

An dieser künstlerischen Bearbeitung sind nun zwar alle bei der Oper mit¬
wirkenden Künste beteiligt, aber nicht alle in gleichem Grade, und keine in einem
höhern als die Musik, dadurch daß sie auf alles, was sie mit ihren Klängen


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[0245] Die Aufgabe der nachwagnerischon Vper. indem sie tels störende, die Idee oft verhüllende Beiwerk des wirkliche» Lebens schon abgestreift haben und den Stoff in reinerer poetischer Gestalt darbieten. Die Hauptsache ist aber doch, daß die darzustellende Begebenheit eine ihrem Charakter, sei dieser nnn tragisch oder komisch, ernst oder heiter, entsprechende innere Bedeutung habe. Wenn sie solche besitzt, dann ist es gleichgiltig, wo der Dichter den Stoff hergenommen hat. Wodurch erhält sie und worin besteht nnn aber diese innere Bedeutung? Wir haben bereits gesehen, daß, um einen Vorgang poetisch interessant zu machen, eine Sonderung des Gleichgiltig-Thatsächlichen vom menschlich Anteil¬ erweckenden notwendig ist, aber das allein genügt noch nicht Die Kunst muß den für sie abgesonderten Stoff nun in eine Form bringen, in welcher sein ideeller Gehalt, ungehindert durch zufälliges Beiwerk, rein zur Erscheinung ge¬ langt; nur soweit ihr dies gelingt, wird der dargestellte Hergang künstlerisch interessiren. Die Darstellung durch ein Kunstwerk soll sich nämlich von dem Verlauf in der Wirklichkeit dadurch unterscheiden, daß sie dem Gegenstande bei jeder Wiederholung dasselbe Interesse verleiht, als wenn die Thatsachen sich jetzt erst vollzögen, während die Begebenheit als solche nur einmal Eindruck macht, nämlich wenn man zum erstenmale davon erfährt. Nachher wird sie im Gedächtnis g-viA gelegt. Die künstlerische Bearbeitung ist es also, worauf es zu guter letzt ankommt, und wir können überall beobachten, wo die künst¬ lerische Bearbeitung von der Idee abweicht, oder wo die Kraft des großen Ta¬ lents fehlt, daß da das stofflich-Thatsächliche nicht ausreicht, uns zu interessiren, sei es an sich auch noch so bedeutungsvoll. Und umgekehrt, wo die künstlerische Gestaltungskraft großes geleistet hat, fühlen wir uns immer wieder hingezogen, selbst wenn es sich um thatsächlich unwichtige Dinge handelt, denn die äußere und innere Bedeutung der Dinge ist sehr verschieden von einander; die letztere spiegelt sich hauptsächlich in der Wirkung der Vorgänge auf die Gemüter der dabei Beteiligten und umgekehrt in dem bestimmenden Einfluß der Willensbe¬ strebungen auf die Vorgänge, also in der lebendigen Wechselwirkung zwischen beiden. Diese Wechselwirkung recht anschaulich zu gestalten, ist der nächste Zweck der künstlerischen Bearbeitung. Auch die äußern Reizmittel einer glänzenden Szenerie und Ausstattung sind gleichgiltig gegenüber der künstlerischen Bearbei¬ tung, sobald uns die Wahrheit und Schönheit der letztern zinn Bewußtsein ge¬ kommen ist. Wir lassen uns die jämmerlichste Ausstattung des Don Juan ge¬ fallen, ohne darin eine wesentliche Beeinträchtigung unsers Kunstgenusses zu erblicken, wenn nur die musikalische und gefängliche Darstellung uns die wunder¬ volle musikalische Charakteristik, die frisch packende Schilderung und den quellenden Fluß musikalischer Erfindung befriedigend wiedergiebt. An dieser künstlerischen Bearbeitung sind nun zwar alle bei der Oper mit¬ wirkenden Künste beteiligt, aber nicht alle in gleichem Grade, und keine in einem höhern als die Musik, dadurch daß sie auf alles, was sie mit ihren Klängen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/245>, abgerufen am 08.09.2024.