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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Die Aufgabe der ttachwagnerischo" Dyer,

diesem Gestaltuugsprinzip so wenig außer Betracht, daß es vielmehr als der
Schlüssel zum dichterischen Erschauen und Verstehen alles noch zu Gestaltenden
von unerläßlicher Notwendigkeit ist; und je reicher es flutet, desto besser -- umso
reichlicher wird es seine Geisteskinder nähren können, daß sie sich zu vollem
eignen Leben entwickeln. Der dramatische Dichter, der nur dann dichten kann,
wenn er sich selbst zum Thema seiner Dichtungen macht, ist wie der Schau¬
spieler, der nur die Rollen gut darstellt, in denen er seine eignen Gefühle vor-
deklamirt, wogegen der wahrhafte dramatische Dichter sich in jeden beliebigen
Charakter hineinzudenken vermag, und auch gewiß derjenige Schauspieler der
größere ist, welcher das Talent hat, alle Charaktere in ihrer individuellen Eigen¬
artigkeit zu erfassen und darzustellen. Die "Entindividualisirung" ist nur eine
notwendige Folge der Symbolik, die mit dem, was sie sagen und geschehen läßt,
immer noch ein Andres, Begriffliches meint, welches erst der wahre Sinn der
Vorgänge sein soll. Durch die Forderung nach wahrhaft menschlichen Cha¬
rakteren schließen wir die Symbolik aus dem dramatischen Vorgang aus oder
beschränken sie doch wenigsteus auf ein unschädliches Maß und betreten
wieder den Boden der Anschaulichkeit. Die Dinge bekommen ihr natürliches
Aussehen wieder, wir befinden uns wieder auf dem Boden des Shakespeareschcn
Dramas und der Mozartschen Oper. Das ist nun nicht so gemeint, als wenn
unsre Oper wieder zur Form der Mozartschen zurückgreifen sollte -- sie soll
das weder in textlicher noch in musikalischer Hinsicht --, aber in Bezug auf
Charakteristik der Personen sollte sie es allerdings. Die reich entwickelte Kunst
der Musik gestattet es heutzutage, dem leeren Formenkram frühern Ungeschmacks
aus dem Wege zu gehen; also ist für denjenigen, welcher überhaupt künst¬
lerisches Gestaltungsvermögen besitzt, keine Gefahr vorhanden, in irgend eine
Formschablone zu verfallen. Im übrigen hat Wagner ja auch an Gluck ange¬
knüpft; knüpfen wir also der einseitigen Weiterentwicklung des Gluckschen Prinzips
gegenüber wieder an Mozart an, dessen dramatische Charakterschilderung und
Kunst der Jndividncilisirung ganz in Vergessenheit geraten ist. Das Resultat
unsrer bisherigen Untersuchung giebt schon einige erkennbare Linien zu dem Bilde,
das wir uns von der Oper zu gestalten bemüht sind. Aber fahre" wir fort:
Aus welchen Gebieten der Literatur oder des Lebens sollen wir nun die Stoffe,
welche sich zu einer Operndichtung in unserm Sinne verwenden lassei,, her¬
nehmen? Die Antwort ist folgende: Aus der Forderung nach der Natürlich¬
keit der Charaktere ergiebt sich auch die Forderung nach angemessener Natürlich¬
keit der darzustellenden Begebenheiten, und da bietet uns denn das Reich der
Wirklichkeit jedenfalls mehr Auswahl an dramatisch bedeutsamen Vorgängen
als das Reich der Sage und Einbildung, obschon Sagen und Mythen, wenn
sie der Umgestaltung zu einer dramatischen Handlung in unserm Sinne nicht
widerstreben, keineswegs prinzipiell ausgeschlossen zu werden brauchen, denn sie
haben meist einen nicht zu leugnenden Vorteil vor der Wirklichkeit voraus,


Die Aufgabe der ttachwagnerischo» Dyer,

diesem Gestaltuugsprinzip so wenig außer Betracht, daß es vielmehr als der
Schlüssel zum dichterischen Erschauen und Verstehen alles noch zu Gestaltenden
von unerläßlicher Notwendigkeit ist; und je reicher es flutet, desto besser — umso
reichlicher wird es seine Geisteskinder nähren können, daß sie sich zu vollem
eignen Leben entwickeln. Der dramatische Dichter, der nur dann dichten kann,
wenn er sich selbst zum Thema seiner Dichtungen macht, ist wie der Schau¬
spieler, der nur die Rollen gut darstellt, in denen er seine eignen Gefühle vor-
deklamirt, wogegen der wahrhafte dramatische Dichter sich in jeden beliebigen
Charakter hineinzudenken vermag, und auch gewiß derjenige Schauspieler der
größere ist, welcher das Talent hat, alle Charaktere in ihrer individuellen Eigen¬
artigkeit zu erfassen und darzustellen. Die „Entindividualisirung" ist nur eine
notwendige Folge der Symbolik, die mit dem, was sie sagen und geschehen läßt,
immer noch ein Andres, Begriffliches meint, welches erst der wahre Sinn der
Vorgänge sein soll. Durch die Forderung nach wahrhaft menschlichen Cha¬
rakteren schließen wir die Symbolik aus dem dramatischen Vorgang aus oder
beschränken sie doch wenigsteus auf ein unschädliches Maß und betreten
wieder den Boden der Anschaulichkeit. Die Dinge bekommen ihr natürliches
Aussehen wieder, wir befinden uns wieder auf dem Boden des Shakespeareschcn
Dramas und der Mozartschen Oper. Das ist nun nicht so gemeint, als wenn
unsre Oper wieder zur Form der Mozartschen zurückgreifen sollte — sie soll
das weder in textlicher noch in musikalischer Hinsicht —, aber in Bezug auf
Charakteristik der Personen sollte sie es allerdings. Die reich entwickelte Kunst
der Musik gestattet es heutzutage, dem leeren Formenkram frühern Ungeschmacks
aus dem Wege zu gehen; also ist für denjenigen, welcher überhaupt künst¬
lerisches Gestaltungsvermögen besitzt, keine Gefahr vorhanden, in irgend eine
Formschablone zu verfallen. Im übrigen hat Wagner ja auch an Gluck ange¬
knüpft; knüpfen wir also der einseitigen Weiterentwicklung des Gluckschen Prinzips
gegenüber wieder an Mozart an, dessen dramatische Charakterschilderung und
Kunst der Jndividncilisirung ganz in Vergessenheit geraten ist. Das Resultat
unsrer bisherigen Untersuchung giebt schon einige erkennbare Linien zu dem Bilde,
das wir uns von der Oper zu gestalten bemüht sind. Aber fahre» wir fort:
Aus welchen Gebieten der Literatur oder des Lebens sollen wir nun die Stoffe,
welche sich zu einer Operndichtung in unserm Sinne verwenden lassei,, her¬
nehmen? Die Antwort ist folgende: Aus der Forderung nach der Natürlich¬
keit der Charaktere ergiebt sich auch die Forderung nach angemessener Natürlich¬
keit der darzustellenden Begebenheiten, und da bietet uns denn das Reich der
Wirklichkeit jedenfalls mehr Auswahl an dramatisch bedeutsamen Vorgängen
als das Reich der Sage und Einbildung, obschon Sagen und Mythen, wenn
sie der Umgestaltung zu einer dramatischen Handlung in unserm Sinne nicht
widerstreben, keineswegs prinzipiell ausgeschlossen zu werden brauchen, denn sie
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[0244] Die Aufgabe der ttachwagnerischo» Dyer, diesem Gestaltuugsprinzip so wenig außer Betracht, daß es vielmehr als der Schlüssel zum dichterischen Erschauen und Verstehen alles noch zu Gestaltenden von unerläßlicher Notwendigkeit ist; und je reicher es flutet, desto besser — umso reichlicher wird es seine Geisteskinder nähren können, daß sie sich zu vollem eignen Leben entwickeln. Der dramatische Dichter, der nur dann dichten kann, wenn er sich selbst zum Thema seiner Dichtungen macht, ist wie der Schau¬ spieler, der nur die Rollen gut darstellt, in denen er seine eignen Gefühle vor- deklamirt, wogegen der wahrhafte dramatische Dichter sich in jeden beliebigen Charakter hineinzudenken vermag, und auch gewiß derjenige Schauspieler der größere ist, welcher das Talent hat, alle Charaktere in ihrer individuellen Eigen¬ artigkeit zu erfassen und darzustellen. Die „Entindividualisirung" ist nur eine notwendige Folge der Symbolik, die mit dem, was sie sagen und geschehen läßt, immer noch ein Andres, Begriffliches meint, welches erst der wahre Sinn der Vorgänge sein soll. Durch die Forderung nach wahrhaft menschlichen Cha¬ rakteren schließen wir die Symbolik aus dem dramatischen Vorgang aus oder beschränken sie doch wenigsteus auf ein unschädliches Maß und betreten wieder den Boden der Anschaulichkeit. Die Dinge bekommen ihr natürliches Aussehen wieder, wir befinden uns wieder auf dem Boden des Shakespeareschcn Dramas und der Mozartschen Oper. Das ist nun nicht so gemeint, als wenn unsre Oper wieder zur Form der Mozartschen zurückgreifen sollte — sie soll das weder in textlicher noch in musikalischer Hinsicht —, aber in Bezug auf Charakteristik der Personen sollte sie es allerdings. Die reich entwickelte Kunst der Musik gestattet es heutzutage, dem leeren Formenkram frühern Ungeschmacks aus dem Wege zu gehen; also ist für denjenigen, welcher überhaupt künst¬ lerisches Gestaltungsvermögen besitzt, keine Gefahr vorhanden, in irgend eine Formschablone zu verfallen. Im übrigen hat Wagner ja auch an Gluck ange¬ knüpft; knüpfen wir also der einseitigen Weiterentwicklung des Gluckschen Prinzips gegenüber wieder an Mozart an, dessen dramatische Charakterschilderung und Kunst der Jndividncilisirung ganz in Vergessenheit geraten ist. Das Resultat unsrer bisherigen Untersuchung giebt schon einige erkennbare Linien zu dem Bilde, das wir uns von der Oper zu gestalten bemüht sind. Aber fahre» wir fort: Aus welchen Gebieten der Literatur oder des Lebens sollen wir nun die Stoffe, welche sich zu einer Operndichtung in unserm Sinne verwenden lassei,, her¬ nehmen? Die Antwort ist folgende: Aus der Forderung nach der Natürlich¬ keit der Charaktere ergiebt sich auch die Forderung nach angemessener Natürlich¬ keit der darzustellenden Begebenheiten, und da bietet uns denn das Reich der Wirklichkeit jedenfalls mehr Auswahl an dramatisch bedeutsamen Vorgängen als das Reich der Sage und Einbildung, obschon Sagen und Mythen, wenn sie der Umgestaltung zu einer dramatischen Handlung in unserm Sinne nicht widerstreben, keineswegs prinzipiell ausgeschlossen zu werden brauchen, denn sie haben meist einen nicht zu leugnenden Vorteil vor der Wirklichkeit voraus,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/244>, abgerufen am 08.09.2024.