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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Die Aufgabe der nachwagnerischen Gper.

uns Anteil abgewonnen hat. Stellen wir uns vor, ein Berg versänke in die
Erde, und an seiner Stelle entstünde ein See, so stimmt uns diese Begebenheit
an sich weder traurig noch fröhlich. Sobald wir aber hören, daß lebende Wesen
bei diesem Naturereignis verunglückt sind, wird unsre Teilnahme als Mitleid
wachgerufen; und wenn das Gegenteil der Fall ist, wenn wir erfahren, daß
Menschen aus großer Gefahr und Angst glücklich errettet worden sind, fo
werden wir darüber Freude empfinden, während das Ereignis, wodurch die
Gefahr herbeigeführt wurde, ohne die Wirkung auf die Gemüter der durch sie
bedrohten Menschen uns völlig gleichgiltig gelassen haben würde. Wir stehen
also hier auf einem festen Untergrund für unsre Untersuchung, und wenn wir
einen so einfachen Fall, lvie das eben erwähnte Beispiel, im Gedächtnis be¬
halten, so wird es uns nicht schwer sein, anch in andern Füllen das poetisch
Verwendbare (im poetischen Sinne Interessante) vom poetisch nicht Verwendbaren
zu trennen. Mit unserm Beispiel haben wir uns auf die einzige feste Basis
gestellt, die es für uns giebt, wenn wir klar zu werdeu suchen über das, was
den Vorführungen dramatischer Begebenheiten die Wirkung auf das Gemüt des
Zuhörers sichern soll. Diese Basis ist nach meinen Begriffen das "Reinmenschliche,"
d. h. diese Basis sollte das "Reinmenschliche" genannt werden, nicht aber jener
vor- und anßergeschichtliche Mensch, der uns als der Vertreter des Neinmeusch-
lichen von Wagner vorgeführt worden, und der in Wirklichkeit nur ein roher,
nntttltivirter Mensch ist.

Der Mensch in Freud und Leid, Gefahr und Not, in Leidenschaft, Liebe,
Haß, Zorn, leidend oder handelnd oder beides zugleich -- das ist das eigent¬
liche Objekt der dramatischen Kunst, gleichviel ob er uun singt oder spricht,
aber ein bloß unkultivirter Mensch ebensowenig als ein bloß kultivirter; und für
die Behandlung der von uns gemeinten Art reiner Menschlichkeit ist keinerlei
Kultur ein Hindernis, ebenso wie andrerseits der Mangel an Kultur auch kein
Hindernis gewesen wäre, einen Naturmenschen, dessen Schönheit jedermann ent¬
zücken soll, mit edlern und gemütvollern Zügen auszustatten, als es im Ring
des Nibelungen geschehen ist. Denn der Naturmensch kann ebensowohl eine
liebevolle, gutmütige Seele, als ein rüpelhafter Egoist sein, gerade wie der
Kulturmensch. In dieser Hinsicht, und das ist doch die einzige, auf die es uns
hier ankommt, macht die Kultur innerlich wenig Unterschied; es ist leicht, sich
davon zu überzeugen, daß trotz unsrer Kultur die finstersten und schrecklichsten
Kräfte der Menschennatur noch in einer Stärke vorhanden sind, die jeden mit
Entsetzen erfüllen würde, der bei gelegentlichen vulkanischen Ausbrüchen derselben
in das Innere dieser Art "reiner Menschlichkeit" hineinblicken könnte. Wenn
das anders wäre, etwa so, daß die Menschen immer besser und endlich alle
gleich gut würden, so würden nach und nach auch alle Veranlassungen zu tra¬
gischen Verwicklungen wegfallen. Der moralische Mustermensch ist ein dramatisch
ganz unverweudbares Subjekt, und mit der innerlichen Vervollkommnung und


Grenzboten III. 1333. 30
Die Aufgabe der nachwagnerischen Gper.

uns Anteil abgewonnen hat. Stellen wir uns vor, ein Berg versänke in die
Erde, und an seiner Stelle entstünde ein See, so stimmt uns diese Begebenheit
an sich weder traurig noch fröhlich. Sobald wir aber hören, daß lebende Wesen
bei diesem Naturereignis verunglückt sind, wird unsre Teilnahme als Mitleid
wachgerufen; und wenn das Gegenteil der Fall ist, wenn wir erfahren, daß
Menschen aus großer Gefahr und Angst glücklich errettet worden sind, fo
werden wir darüber Freude empfinden, während das Ereignis, wodurch die
Gefahr herbeigeführt wurde, ohne die Wirkung auf die Gemüter der durch sie
bedrohten Menschen uns völlig gleichgiltig gelassen haben würde. Wir stehen
also hier auf einem festen Untergrund für unsre Untersuchung, und wenn wir
einen so einfachen Fall, lvie das eben erwähnte Beispiel, im Gedächtnis be¬
halten, so wird es uns nicht schwer sein, anch in andern Füllen das poetisch
Verwendbare (im poetischen Sinne Interessante) vom poetisch nicht Verwendbaren
zu trennen. Mit unserm Beispiel haben wir uns auf die einzige feste Basis
gestellt, die es für uns giebt, wenn wir klar zu werdeu suchen über das, was
den Vorführungen dramatischer Begebenheiten die Wirkung auf das Gemüt des
Zuhörers sichern soll. Diese Basis ist nach meinen Begriffen das „Reinmenschliche,"
d. h. diese Basis sollte das „Reinmenschliche" genannt werden, nicht aber jener
vor- und anßergeschichtliche Mensch, der uns als der Vertreter des Neinmeusch-
lichen von Wagner vorgeführt worden, und der in Wirklichkeit nur ein roher,
nntttltivirter Mensch ist.

Der Mensch in Freud und Leid, Gefahr und Not, in Leidenschaft, Liebe,
Haß, Zorn, leidend oder handelnd oder beides zugleich — das ist das eigent¬
liche Objekt der dramatischen Kunst, gleichviel ob er uun singt oder spricht,
aber ein bloß unkultivirter Mensch ebensowenig als ein bloß kultivirter; und für
die Behandlung der von uns gemeinten Art reiner Menschlichkeit ist keinerlei
Kultur ein Hindernis, ebenso wie andrerseits der Mangel an Kultur auch kein
Hindernis gewesen wäre, einen Naturmenschen, dessen Schönheit jedermann ent¬
zücken soll, mit edlern und gemütvollern Zügen auszustatten, als es im Ring
des Nibelungen geschehen ist. Denn der Naturmensch kann ebensowohl eine
liebevolle, gutmütige Seele, als ein rüpelhafter Egoist sein, gerade wie der
Kulturmensch. In dieser Hinsicht, und das ist doch die einzige, auf die es uns
hier ankommt, macht die Kultur innerlich wenig Unterschied; es ist leicht, sich
davon zu überzeugen, daß trotz unsrer Kultur die finstersten und schrecklichsten
Kräfte der Menschennatur noch in einer Stärke vorhanden sind, die jeden mit
Entsetzen erfüllen würde, der bei gelegentlichen vulkanischen Ausbrüchen derselben
in das Innere dieser Art „reiner Menschlichkeit" hineinblicken könnte. Wenn
das anders wäre, etwa so, daß die Menschen immer besser und endlich alle
gleich gut würden, so würden nach und nach auch alle Veranlassungen zu tra¬
gischen Verwicklungen wegfallen. Der moralische Mustermensch ist ein dramatisch
ganz unverweudbares Subjekt, und mit der innerlichen Vervollkommnung und


Grenzboten III. 1333. 30
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/241>, abgerufen am 08.09.2024.