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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Die Aufgabe der iiachrvcignenschen Gpev.

angelangt und weiteres nicht mehr nötig; es genüge, sich auf den Kultus des
Allknnstwerkes zu beschränken. Für Menschen mit gesunden Sinnen spricht
solcher Anmaßung gegenüber die unerschöpfliche Schaffenskraft der Natur mit
erhabenem Lächeln folgendes: "Seit Jahrtausenden bringe ist stets neue Talente
hervor, von denen wohl eins größer als das andre, aber keins so gering ist,
daß sein Streben nach hohen Idealen für das Ange der Liebe nicht noch den
Reiz einer besondern Individualität besäße. Und sinken anch Hunderte wieder
ins Reich der Vergessenheit, ohne es jemals zu allgemeiner Anerkennung ge¬
bracht zu haben, so ist doch noch niemals der Fall eingetreten, daß sich meine
Triebkraft in einem hervorragenden Geiste erschöpft hätte. Das einzelne Indi¬
viduum, auch das genialste, ist begreuzt und erschöpft seine Kräfte, aber nicht
ich, die Mutter Natur, obschon die Genies, die ich hervorgebracht habe, schon
nach Hunderten, wenn nicht nach tausenden zählen." So spricht Natur und
Geschichte zu jedem halbwegs vernünftige" Menschen, und es ist nicht daran zu
zweifeln, daß wir auch nach dem Bayreuther Allkunstwerk noch Werke erwarten
dürfen, die anderm Boden entsprossen, neue Gaben der Poesie voll neuen Lebens
und eigenartiger Empfindung der Welt darbringe" werden. Aber wohin solle"
wir die Blicke wenden, wodurch können wir nus aus dem Wirrwarr von An¬
sprüchen und Aussichten Herausfinden?

Meiner Ansicht nach kann nnr folgendes helfen: erstens die Erwägung,
daß aus allen Sphären der poetischen Literatur und selbst aus der Geschichte
gehaltvolle, zweckentsprechende Opernstoffe, die sich wirksam erwiesen haben, vor¬
liegen, daß es also offenbar garnicht nötig ist, sich in der Wahl der Opernstoffc
auf irgend eine bestimmte Sphäre zu beschränken, wenn nur gewisse Grund¬
bedingungen, von denen sofort noch die Rede sein soll, erfüllt werden; zweitens
die Rekonstruktion der Musik als selbständiger Kunst, aber ohne die dramatischen
Anforderungen preiszugeben.

Da es sich in der Oper, soweit sie einen dramatischen Hergang repräsen-
tirt, um menschliche Angelegenheiten handelt, so müssen wir von diesen Ange¬
legenheiten zunächst begrifflich als nicht hierher gehörig das aussondern, was
nicht geeignet ist, zur Teilnahme anzuregen. Der in der dramatischen Handlung
vorgeführte Mensch gewinnt uns nur insofern Anteil ab, als er bei allem, was
er thut nud leidet, stark empfindet; auch seine Denkthätigkeit interessirt uns nur,
soweit sie auf konkrete Dinge gerichtet ist, die den Gegenstand seiner Willens-
bestrcbnngen bilden. Aber die Erörterung von reinen Erkenntnisfragen, die
ins Gebiet der Wissenschaft und Philosophie gehören, interessirt in einem dra¬
matischen Werke nicht, weil das Gefühl nicht dabei beteiligt ist, und wenn ja
einmal ausnahmsweise ein solches Thema in einem dramatischen Werke berührt
wird, ohne den Zuschauer aus der Stimmung zu reißen, wie z. B. im Hamlet,
so ist es jedenfalls nicht der theoretische Bestandteil, der interessirt, sonder" irgend
eine besondre Beziehung dieses Gegenstandes zu dem Schicksal einer Person, die


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angelangt und weiteres nicht mehr nötig; es genüge, sich auf den Kultus des
Allknnstwerkes zu beschränken. Für Menschen mit gesunden Sinnen spricht
solcher Anmaßung gegenüber die unerschöpfliche Schaffenskraft der Natur mit
erhabenem Lächeln folgendes: „Seit Jahrtausenden bringe ist stets neue Talente
hervor, von denen wohl eins größer als das andre, aber keins so gering ist,
daß sein Streben nach hohen Idealen für das Ange der Liebe nicht noch den
Reiz einer besondern Individualität besäße. Und sinken anch Hunderte wieder
ins Reich der Vergessenheit, ohne es jemals zu allgemeiner Anerkennung ge¬
bracht zu haben, so ist doch noch niemals der Fall eingetreten, daß sich meine
Triebkraft in einem hervorragenden Geiste erschöpft hätte. Das einzelne Indi¬
viduum, auch das genialste, ist begreuzt und erschöpft seine Kräfte, aber nicht
ich, die Mutter Natur, obschon die Genies, die ich hervorgebracht habe, schon
nach Hunderten, wenn nicht nach tausenden zählen." So spricht Natur und
Geschichte zu jedem halbwegs vernünftige» Menschen, und es ist nicht daran zu
zweifeln, daß wir auch nach dem Bayreuther Allkunstwerk noch Werke erwarten
dürfen, die anderm Boden entsprossen, neue Gaben der Poesie voll neuen Lebens
und eigenartiger Empfindung der Welt darbringe» werden. Aber wohin solle»
wir die Blicke wenden, wodurch können wir nus aus dem Wirrwarr von An¬
sprüchen und Aussichten Herausfinden?

Meiner Ansicht nach kann nnr folgendes helfen: erstens die Erwägung,
daß aus allen Sphären der poetischen Literatur und selbst aus der Geschichte
gehaltvolle, zweckentsprechende Opernstoffe, die sich wirksam erwiesen haben, vor¬
liegen, daß es also offenbar garnicht nötig ist, sich in der Wahl der Opernstoffc
auf irgend eine bestimmte Sphäre zu beschränken, wenn nur gewisse Grund¬
bedingungen, von denen sofort noch die Rede sein soll, erfüllt werden; zweitens
die Rekonstruktion der Musik als selbständiger Kunst, aber ohne die dramatischen
Anforderungen preiszugeben.

Da es sich in der Oper, soweit sie einen dramatischen Hergang repräsen-
tirt, um menschliche Angelegenheiten handelt, so müssen wir von diesen Ange¬
legenheiten zunächst begrifflich als nicht hierher gehörig das aussondern, was
nicht geeignet ist, zur Teilnahme anzuregen. Der in der dramatischen Handlung
vorgeführte Mensch gewinnt uns nur insofern Anteil ab, als er bei allem, was
er thut nud leidet, stark empfindet; auch seine Denkthätigkeit interessirt uns nur,
soweit sie auf konkrete Dinge gerichtet ist, die den Gegenstand seiner Willens-
bestrcbnngen bilden. Aber die Erörterung von reinen Erkenntnisfragen, die
ins Gebiet der Wissenschaft und Philosophie gehören, interessirt in einem dra¬
matischen Werke nicht, weil das Gefühl nicht dabei beteiligt ist, und wenn ja
einmal ausnahmsweise ein solches Thema in einem dramatischen Werke berührt
wird, ohne den Zuschauer aus der Stimmung zu reißen, wie z. B. im Hamlet,
so ist es jedenfalls nicht der theoretische Bestandteil, der interessirt, sonder» irgend
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/240>, abgerufen am 08.09.2024.