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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Die Aufgabe der nachwagnerischen Vper.

Veredlung der ganzen Menschheit würde der Rückschritt der dramatischen Kunst
gleichen Schritt halten; aber vor dieser Gefahr sind wir vorläufig sicher. Das
hellsehende Auge des wahren Dichters sieht unter der Oberfläche jeder Art von
Kultur das wahre Wesen der Menschennatur in seiner ewig unveränderlichen
Originalgestalt und schöpft aus diesem unversieglichen Born alles menschlichen
Lebens und Werdens das Verständnis für die wahre innere Beschaffenheit dessen,
was sich in der Welt der äußern Erscheinung abspielt. Mit dem ersten Schritt
in diese äußere Welt befinden wir uns aber bereits auf der ersten Stufe der
Kultur. Dieser erste Schritt geschieht in dem Moment, wo der Mensch seiner
selbst bewußt wird. Von dem eogiw, or-M suirr fängt das Leben des Menschen,
der für dramatische Poesie in Betracht kommt, erst an, und mit diesem vozito,
MM 8no, haben wir bereits eine Kultur. Daß also eine Kultur den Hinter¬
grund für alle dramatische Poesie abgeben muß, liegt auf der Hand. Das
Wesen, welches hinter jener Kulturgrenze liegt, würde mehr Tier als Mensch
sein und uns schon deshalb nicht interessiren. Andrerseits kann das Rein-
menschliche einer Form der Bethätigung nicht entbehren, wenn es in die äußere
Erscheinungswelt treten soll. Was die Philosophie begrifflich abstrcchiren kann,
muß die Kunst für die Anschauung Hinstellen, und dazu kann sie konkrete Veo
Hältnisse nicht entbehren. Ob nun diese Verhältnisse diejenigen einer geringen
oder vorgeschrittenen Kultur sind, ist Geschmacksache des Dichters, für den
Hauptzweck, die Darstellung des Reinmenschlichen, ist es Nebensache; desgleichen,
ob es sich dabei, wie Schopenhauer sagt, um "Kronen oder Nüsse" handelt
oder ob die handelnden Personen Könige oder Bettler sind -- aber in irgend
einer Gestalt müssen sie erscheinen, und ebenso zu irgend einer Zeit und unter
irgend welchen Verhältnissen, entsprechend unserm Auffassungsvermögen, welches
an Raum, Zeit und Kausalität gebunden ist.

Wenn uns nun unter diesen Voraussetzungen die Kulturfrage nicht weiter
zu geniren braucht, so ist dagegen sehr wichtig, daß die Personen der drama¬
tischen Handlung den Eindruck individueller Wesen machen, da die Idee der
Menschheit nur in der Form einzelner Individuen offenbar wird, und wir nur
unter dieser Voraussetzung den Vorgängen der dramatischen Handlung tieferes
Interesse zuwenden können. Nicht, als wenn Verstöße gegen diese wichtige
Forderung ein Kunstwerk, das sonst viele vortrefflichen Eigenschaften hat, alsbald
ganz wertlos oder uninteressant machte -- es giebt Abstufungen des Wertes
und der Fähigkeit, zu interessiren --, aber für unsre Untersuchung handelt es sich
nicht darum, die Abstufungen verschiedenwertiger Stücke zu klassifizireu, souderu
darum, auf deu tiefsten, unumstößlichen Grund aller dramatischen Kunst hinabzu¬
steigen, um für unser Schaffensbedürfnis neue Kräfte zu holen, nachdem wir auf der
stürmisch bewegten Oberfläche des künstlerischen Lebens den Kompaß verloren haben.

Der Begriff des Reinmenschlichen, wie wir ihn erkannt haben, verschafft
uns zunächst die Beruhigung, daß es in keiner Periode menschlichen Lebens,


Die Aufgabe der nachwagnerischen Vper.

Veredlung der ganzen Menschheit würde der Rückschritt der dramatischen Kunst
gleichen Schritt halten; aber vor dieser Gefahr sind wir vorläufig sicher. Das
hellsehende Auge des wahren Dichters sieht unter der Oberfläche jeder Art von
Kultur das wahre Wesen der Menschennatur in seiner ewig unveränderlichen
Originalgestalt und schöpft aus diesem unversieglichen Born alles menschlichen
Lebens und Werdens das Verständnis für die wahre innere Beschaffenheit dessen,
was sich in der Welt der äußern Erscheinung abspielt. Mit dem ersten Schritt
in diese äußere Welt befinden wir uns aber bereits auf der ersten Stufe der
Kultur. Dieser erste Schritt geschieht in dem Moment, wo der Mensch seiner
selbst bewußt wird. Von dem eogiw, or-M suirr fängt das Leben des Menschen,
der für dramatische Poesie in Betracht kommt, erst an, und mit diesem vozito,
MM 8no, haben wir bereits eine Kultur. Daß also eine Kultur den Hinter¬
grund für alle dramatische Poesie abgeben muß, liegt auf der Hand. Das
Wesen, welches hinter jener Kulturgrenze liegt, würde mehr Tier als Mensch
sein und uns schon deshalb nicht interessiren. Andrerseits kann das Rein-
menschliche einer Form der Bethätigung nicht entbehren, wenn es in die äußere
Erscheinungswelt treten soll. Was die Philosophie begrifflich abstrcchiren kann,
muß die Kunst für die Anschauung Hinstellen, und dazu kann sie konkrete Veo
Hältnisse nicht entbehren. Ob nun diese Verhältnisse diejenigen einer geringen
oder vorgeschrittenen Kultur sind, ist Geschmacksache des Dichters, für den
Hauptzweck, die Darstellung des Reinmenschlichen, ist es Nebensache; desgleichen,
ob es sich dabei, wie Schopenhauer sagt, um „Kronen oder Nüsse" handelt
oder ob die handelnden Personen Könige oder Bettler sind — aber in irgend
einer Gestalt müssen sie erscheinen, und ebenso zu irgend einer Zeit und unter
irgend welchen Verhältnissen, entsprechend unserm Auffassungsvermögen, welches
an Raum, Zeit und Kausalität gebunden ist.

Wenn uns nun unter diesen Voraussetzungen die Kulturfrage nicht weiter
zu geniren braucht, so ist dagegen sehr wichtig, daß die Personen der drama¬
tischen Handlung den Eindruck individueller Wesen machen, da die Idee der
Menschheit nur in der Form einzelner Individuen offenbar wird, und wir nur
unter dieser Voraussetzung den Vorgängen der dramatischen Handlung tieferes
Interesse zuwenden können. Nicht, als wenn Verstöße gegen diese wichtige
Forderung ein Kunstwerk, das sonst viele vortrefflichen Eigenschaften hat, alsbald
ganz wertlos oder uninteressant machte — es giebt Abstufungen des Wertes
und der Fähigkeit, zu interessiren —, aber für unsre Untersuchung handelt es sich
nicht darum, die Abstufungen verschiedenwertiger Stücke zu klassifizireu, souderu
darum, auf deu tiefsten, unumstößlichen Grund aller dramatischen Kunst hinabzu¬
steigen, um für unser Schaffensbedürfnis neue Kräfte zu holen, nachdem wir auf der
stürmisch bewegten Oberfläche des künstlerischen Lebens den Kompaß verloren haben.

Der Begriff des Reinmenschlichen, wie wir ihn erkannt haben, verschafft
uns zunächst die Beruhigung, daß es in keiner Periode menschlichen Lebens,


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[0242] Die Aufgabe der nachwagnerischen Vper. Veredlung der ganzen Menschheit würde der Rückschritt der dramatischen Kunst gleichen Schritt halten; aber vor dieser Gefahr sind wir vorläufig sicher. Das hellsehende Auge des wahren Dichters sieht unter der Oberfläche jeder Art von Kultur das wahre Wesen der Menschennatur in seiner ewig unveränderlichen Originalgestalt und schöpft aus diesem unversieglichen Born alles menschlichen Lebens und Werdens das Verständnis für die wahre innere Beschaffenheit dessen, was sich in der Welt der äußern Erscheinung abspielt. Mit dem ersten Schritt in diese äußere Welt befinden wir uns aber bereits auf der ersten Stufe der Kultur. Dieser erste Schritt geschieht in dem Moment, wo der Mensch seiner selbst bewußt wird. Von dem eogiw, or-M suirr fängt das Leben des Menschen, der für dramatische Poesie in Betracht kommt, erst an, und mit diesem vozito, MM 8no, haben wir bereits eine Kultur. Daß also eine Kultur den Hinter¬ grund für alle dramatische Poesie abgeben muß, liegt auf der Hand. Das Wesen, welches hinter jener Kulturgrenze liegt, würde mehr Tier als Mensch sein und uns schon deshalb nicht interessiren. Andrerseits kann das Rein- menschliche einer Form der Bethätigung nicht entbehren, wenn es in die äußere Erscheinungswelt treten soll. Was die Philosophie begrifflich abstrcchiren kann, muß die Kunst für die Anschauung Hinstellen, und dazu kann sie konkrete Veo Hältnisse nicht entbehren. Ob nun diese Verhältnisse diejenigen einer geringen oder vorgeschrittenen Kultur sind, ist Geschmacksache des Dichters, für den Hauptzweck, die Darstellung des Reinmenschlichen, ist es Nebensache; desgleichen, ob es sich dabei, wie Schopenhauer sagt, um „Kronen oder Nüsse" handelt oder ob die handelnden Personen Könige oder Bettler sind — aber in irgend einer Gestalt müssen sie erscheinen, und ebenso zu irgend einer Zeit und unter irgend welchen Verhältnissen, entsprechend unserm Auffassungsvermögen, welches an Raum, Zeit und Kausalität gebunden ist. Wenn uns nun unter diesen Voraussetzungen die Kulturfrage nicht weiter zu geniren braucht, so ist dagegen sehr wichtig, daß die Personen der drama¬ tischen Handlung den Eindruck individueller Wesen machen, da die Idee der Menschheit nur in der Form einzelner Individuen offenbar wird, und wir nur unter dieser Voraussetzung den Vorgängen der dramatischen Handlung tieferes Interesse zuwenden können. Nicht, als wenn Verstöße gegen diese wichtige Forderung ein Kunstwerk, das sonst viele vortrefflichen Eigenschaften hat, alsbald ganz wertlos oder uninteressant machte — es giebt Abstufungen des Wertes und der Fähigkeit, zu interessiren —, aber für unsre Untersuchung handelt es sich nicht darum, die Abstufungen verschiedenwertiger Stücke zu klassifizireu, souderu darum, auf deu tiefsten, unumstößlichen Grund aller dramatischen Kunst hinabzu¬ steigen, um für unser Schaffensbedürfnis neue Kräfte zu holen, nachdem wir auf der stürmisch bewegten Oberfläche des künstlerischen Lebens den Kompaß verloren haben. Der Begriff des Reinmenschlichen, wie wir ihn erkannt haben, verschafft uns zunächst die Beruhigung, daß es in keiner Periode menschlichen Lebens,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/242>, abgerufen am 08.09.2024.