Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Friedrich Schlegel.

Frau, welche männliche Kraft und Selbständigkeit mit weiblicher Anmut ver¬
einigt, als das Ideal des Weibes: wieder wird ein historisches Vorbild als
absolutes hin- und besonders dem Ideal, welches das Schillersche Gedicht
"Würde der Frauen" entwarf, entgegengesetzt. Von hier aus nahmen die
amazonenhasten Charaktere, welche die Kleist, Werner, Arnim, Brentano und
ihre Nachfolger bis zum heutigen Tage mit solcher Vorliebe entwarfen, ihren
Anfang; die vorhergehende Zeit hatte höchstens dämonische Weiber, nach dem
Muster der Adelheid im Götz, gekannt. Hier fanden weiter die interessanten
Frauen der romantischen Kreise, welche die Männer so weit an Stolz, Scharf¬
sinn und Wissen hinter sich ließen, ihre Rechtfertigung gegen das Vorurteil
der verletzten Weiblichkeit. Hier ist der Ausgangspunkt der Emanzipation der
Frauen zu suchen, die sich in unsrer Zeit freilich nun mehr mit den Nützlichkeits-
idecn und den materiellen Interessen beschäftigt.

Den Aufsatz "Über die Diotima" hat Schlegel später in eine Schrift auf¬
genommen, welche unter dem Titel "Die Griechen und Römer" historische und
kritische Versuche über das klassische Altertum enthalten sollte, aber nach dem
ersten Bande liegen blieb. Den Hauptinhalt desselben bildet eine Abhandlung
"Über das Studium der griechischen Poesie," eine Ankündigung der Gesichts¬
punkte, unter welchen Schlegel selber dieses Studium in Deutschland erneuern
wollte, worin also auch viel mehr von der modernen Literatur als von den
Griechen und Römern die Rede ist. Von einem düstern Bilde der modernen
Literatur, deren einziger Charakter eine völlige Anarchie und Charakterlosigkeit
sei, nimmt der Verfasser seinen Ausgang. Was er bei dieser Gelegenheit über
die gemeinsamen Merkmale aller modernen Literaturen sagt, ist der geistreichste
Teil der Abhandlung und von bleibendem Werte. Schiller hatte der antiken
Bildung ein Mciximum zuerkannt, auf welchem sie nicht beharren konnte; Schlegel
läßt an diesem Punkte, bei dem Veruuglücken der natürliche" Bildung der
Alten, eine künstliche Bildung einsetzen, welche alle Verschiedenheiten der mo¬
dernen Dichtung von der antiken zu erklären geeignet erscheint. Schiller hatte
die Einseitigkeit und Zerstückelung des modernen Lebens als eine notwendige
Bedingung des Fortschritts zu einem höhern Ziele, dem Ideale, betrachtet; auch
für Schlegel ist die Herrschaft des "Jnteressanten," welche den Grundzug der
modernen Dichtung bildet, nur eine vorübergehende Krisis des Geschmacks, welche
uns dem objektiv Schönen, einem freilich unerreichbaren Ideale, näher bringen
soll. Die Zeit dieser Krisis aber ist nun gekommen: Goethes Poesie ist die
Morgenröte einer neuen Dichtkunst. Als Bedingung für diese ästhetische Revo¬
lution, welche das Objektive in der modernen Dichtung wieder zur Herrschaft
bringen soll, stellt Schlegel eine Geschichte der griechischen Poesie obenan, welche
uns zugleich die Regel und das Vorbild des objektiv Schönen vor Augen stellt
und also zu gleicher Zeit auch allgemeine Naturgeschichte der Poesie ist. Hier
zum ersten male spielt, vorläufig nur mit dem Schlagworte, die Naturwissen-


Friedrich Schlegel.

Frau, welche männliche Kraft und Selbständigkeit mit weiblicher Anmut ver¬
einigt, als das Ideal des Weibes: wieder wird ein historisches Vorbild als
absolutes hin- und besonders dem Ideal, welches das Schillersche Gedicht
„Würde der Frauen" entwarf, entgegengesetzt. Von hier aus nahmen die
amazonenhasten Charaktere, welche die Kleist, Werner, Arnim, Brentano und
ihre Nachfolger bis zum heutigen Tage mit solcher Vorliebe entwarfen, ihren
Anfang; die vorhergehende Zeit hatte höchstens dämonische Weiber, nach dem
Muster der Adelheid im Götz, gekannt. Hier fanden weiter die interessanten
Frauen der romantischen Kreise, welche die Männer so weit an Stolz, Scharf¬
sinn und Wissen hinter sich ließen, ihre Rechtfertigung gegen das Vorurteil
der verletzten Weiblichkeit. Hier ist der Ausgangspunkt der Emanzipation der
Frauen zu suchen, die sich in unsrer Zeit freilich nun mehr mit den Nützlichkeits-
idecn und den materiellen Interessen beschäftigt.

Den Aufsatz „Über die Diotima" hat Schlegel später in eine Schrift auf¬
genommen, welche unter dem Titel „Die Griechen und Römer" historische und
kritische Versuche über das klassische Altertum enthalten sollte, aber nach dem
ersten Bande liegen blieb. Den Hauptinhalt desselben bildet eine Abhandlung
„Über das Studium der griechischen Poesie," eine Ankündigung der Gesichts¬
punkte, unter welchen Schlegel selber dieses Studium in Deutschland erneuern
wollte, worin also auch viel mehr von der modernen Literatur als von den
Griechen und Römern die Rede ist. Von einem düstern Bilde der modernen
Literatur, deren einziger Charakter eine völlige Anarchie und Charakterlosigkeit
sei, nimmt der Verfasser seinen Ausgang. Was er bei dieser Gelegenheit über
die gemeinsamen Merkmale aller modernen Literaturen sagt, ist der geistreichste
Teil der Abhandlung und von bleibendem Werte. Schiller hatte der antiken
Bildung ein Mciximum zuerkannt, auf welchem sie nicht beharren konnte; Schlegel
läßt an diesem Punkte, bei dem Veruuglücken der natürliche» Bildung der
Alten, eine künstliche Bildung einsetzen, welche alle Verschiedenheiten der mo¬
dernen Dichtung von der antiken zu erklären geeignet erscheint. Schiller hatte
die Einseitigkeit und Zerstückelung des modernen Lebens als eine notwendige
Bedingung des Fortschritts zu einem höhern Ziele, dem Ideale, betrachtet; auch
für Schlegel ist die Herrschaft des „Jnteressanten," welche den Grundzug der
modernen Dichtung bildet, nur eine vorübergehende Krisis des Geschmacks, welche
uns dem objektiv Schönen, einem freilich unerreichbaren Ideale, näher bringen
soll. Die Zeit dieser Krisis aber ist nun gekommen: Goethes Poesie ist die
Morgenröte einer neuen Dichtkunst. Als Bedingung für diese ästhetische Revo¬
lution, welche das Objektive in der modernen Dichtung wieder zur Herrschaft
bringen soll, stellt Schlegel eine Geschichte der griechischen Poesie obenan, welche
uns zugleich die Regel und das Vorbild des objektiv Schönen vor Augen stellt
und also zu gleicher Zeit auch allgemeine Naturgeschichte der Poesie ist. Hier
zum ersten male spielt, vorläufig nur mit dem Schlagworte, die Naturwissen-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0196" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/153643"/>
          <fw type="header" place="top"> Friedrich Schlegel.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_816" prev="#ID_815"> Frau, welche männliche Kraft und Selbständigkeit mit weiblicher Anmut ver¬<lb/>
einigt, als das Ideal des Weibes: wieder wird ein historisches Vorbild als<lb/>
absolutes hin- und besonders dem Ideal, welches das Schillersche Gedicht<lb/>
&#x201E;Würde der Frauen" entwarf, entgegengesetzt. Von hier aus nahmen die<lb/>
amazonenhasten Charaktere, welche die Kleist, Werner, Arnim, Brentano und<lb/>
ihre Nachfolger bis zum heutigen Tage mit solcher Vorliebe entwarfen, ihren<lb/>
Anfang; die vorhergehende Zeit hatte höchstens dämonische Weiber, nach dem<lb/>
Muster der Adelheid im Götz, gekannt. Hier fanden weiter die interessanten<lb/>
Frauen der romantischen Kreise, welche die Männer so weit an Stolz, Scharf¬<lb/>
sinn und Wissen hinter sich ließen, ihre Rechtfertigung gegen das Vorurteil<lb/>
der verletzten Weiblichkeit. Hier ist der Ausgangspunkt der Emanzipation der<lb/>
Frauen zu suchen, die sich in unsrer Zeit freilich nun mehr mit den Nützlichkeits-<lb/>
idecn und den materiellen Interessen beschäftigt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_817" next="#ID_818"> Den Aufsatz &#x201E;Über die Diotima" hat Schlegel später in eine Schrift auf¬<lb/>
genommen, welche unter dem Titel &#x201E;Die Griechen und Römer" historische und<lb/>
kritische Versuche über das klassische Altertum enthalten sollte, aber nach dem<lb/>
ersten Bande liegen blieb. Den Hauptinhalt desselben bildet eine Abhandlung<lb/>
&#x201E;Über das Studium der griechischen Poesie," eine Ankündigung der Gesichts¬<lb/>
punkte, unter welchen Schlegel selber dieses Studium in Deutschland erneuern<lb/>
wollte, worin also auch viel mehr von der modernen Literatur als von den<lb/>
Griechen und Römern die Rede ist. Von einem düstern Bilde der modernen<lb/>
Literatur, deren einziger Charakter eine völlige Anarchie und Charakterlosigkeit<lb/>
sei, nimmt der Verfasser seinen Ausgang. Was er bei dieser Gelegenheit über<lb/>
die gemeinsamen Merkmale aller modernen Literaturen sagt, ist der geistreichste<lb/>
Teil der Abhandlung und von bleibendem Werte. Schiller hatte der antiken<lb/>
Bildung ein Mciximum zuerkannt, auf welchem sie nicht beharren konnte; Schlegel<lb/>
läßt an diesem Punkte, bei dem Veruuglücken der natürliche» Bildung der<lb/>
Alten, eine künstliche Bildung einsetzen, welche alle Verschiedenheiten der mo¬<lb/>
dernen Dichtung von der antiken zu erklären geeignet erscheint. Schiller hatte<lb/>
die Einseitigkeit und Zerstückelung des modernen Lebens als eine notwendige<lb/>
Bedingung des Fortschritts zu einem höhern Ziele, dem Ideale, betrachtet; auch<lb/>
für Schlegel ist die Herrschaft des &#x201E;Jnteressanten," welche den Grundzug der<lb/>
modernen Dichtung bildet, nur eine vorübergehende Krisis des Geschmacks, welche<lb/>
uns dem objektiv Schönen, einem freilich unerreichbaren Ideale, näher bringen<lb/>
soll. Die Zeit dieser Krisis aber ist nun gekommen: Goethes Poesie ist die<lb/>
Morgenröte einer neuen Dichtkunst. Als Bedingung für diese ästhetische Revo¬<lb/>
lution, welche das Objektive in der modernen Dichtung wieder zur Herrschaft<lb/>
bringen soll, stellt Schlegel eine Geschichte der griechischen Poesie obenan, welche<lb/>
uns zugleich die Regel und das Vorbild des objektiv Schönen vor Augen stellt<lb/>
und also zu gleicher Zeit auch allgemeine Naturgeschichte der Poesie ist. Hier<lb/>
zum ersten male spielt, vorläufig nur mit dem Schlagworte, die Naturwissen-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0196] Friedrich Schlegel. Frau, welche männliche Kraft und Selbständigkeit mit weiblicher Anmut ver¬ einigt, als das Ideal des Weibes: wieder wird ein historisches Vorbild als absolutes hin- und besonders dem Ideal, welches das Schillersche Gedicht „Würde der Frauen" entwarf, entgegengesetzt. Von hier aus nahmen die amazonenhasten Charaktere, welche die Kleist, Werner, Arnim, Brentano und ihre Nachfolger bis zum heutigen Tage mit solcher Vorliebe entwarfen, ihren Anfang; die vorhergehende Zeit hatte höchstens dämonische Weiber, nach dem Muster der Adelheid im Götz, gekannt. Hier fanden weiter die interessanten Frauen der romantischen Kreise, welche die Männer so weit an Stolz, Scharf¬ sinn und Wissen hinter sich ließen, ihre Rechtfertigung gegen das Vorurteil der verletzten Weiblichkeit. Hier ist der Ausgangspunkt der Emanzipation der Frauen zu suchen, die sich in unsrer Zeit freilich nun mehr mit den Nützlichkeits- idecn und den materiellen Interessen beschäftigt. Den Aufsatz „Über die Diotima" hat Schlegel später in eine Schrift auf¬ genommen, welche unter dem Titel „Die Griechen und Römer" historische und kritische Versuche über das klassische Altertum enthalten sollte, aber nach dem ersten Bande liegen blieb. Den Hauptinhalt desselben bildet eine Abhandlung „Über das Studium der griechischen Poesie," eine Ankündigung der Gesichts¬ punkte, unter welchen Schlegel selber dieses Studium in Deutschland erneuern wollte, worin also auch viel mehr von der modernen Literatur als von den Griechen und Römern die Rede ist. Von einem düstern Bilde der modernen Literatur, deren einziger Charakter eine völlige Anarchie und Charakterlosigkeit sei, nimmt der Verfasser seinen Ausgang. Was er bei dieser Gelegenheit über die gemeinsamen Merkmale aller modernen Literaturen sagt, ist der geistreichste Teil der Abhandlung und von bleibendem Werte. Schiller hatte der antiken Bildung ein Mciximum zuerkannt, auf welchem sie nicht beharren konnte; Schlegel läßt an diesem Punkte, bei dem Veruuglücken der natürliche» Bildung der Alten, eine künstliche Bildung einsetzen, welche alle Verschiedenheiten der mo¬ dernen Dichtung von der antiken zu erklären geeignet erscheint. Schiller hatte die Einseitigkeit und Zerstückelung des modernen Lebens als eine notwendige Bedingung des Fortschritts zu einem höhern Ziele, dem Ideale, betrachtet; auch für Schlegel ist die Herrschaft des „Jnteressanten," welche den Grundzug der modernen Dichtung bildet, nur eine vorübergehende Krisis des Geschmacks, welche uns dem objektiv Schönen, einem freilich unerreichbaren Ideale, näher bringen soll. Die Zeit dieser Krisis aber ist nun gekommen: Goethes Poesie ist die Morgenröte einer neuen Dichtkunst. Als Bedingung für diese ästhetische Revo¬ lution, welche das Objektive in der modernen Dichtung wieder zur Herrschaft bringen soll, stellt Schlegel eine Geschichte der griechischen Poesie obenan, welche uns zugleich die Regel und das Vorbild des objektiv Schönen vor Augen stellt und also zu gleicher Zeit auch allgemeine Naturgeschichte der Poesie ist. Hier zum ersten male spielt, vorläufig nur mit dem Schlagworte, die Naturwissen-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/196
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/196>, abgerufen am 08.09.2024.