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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Friedrich Schlegel.

dieser griechischen Literaturgeschichte erörtert der nächste Aufsatz: "Vom ästhe¬
tischen Werte der griechischen Komödie," welcher durch eine Apologie des
Aristophanes zugleich der Tieckschen Märchenkomödie und dem romantischen
Lustspiele überhaupt gegenüber Jffland und Kotzebue zu ihrem Rechte verhilft.
Während unser bürgerliches Lustspiel nur eine Mischung von Scherz und Ernst
ist, ist das Wesen der reinen (aristophanischen) Komödie die Darstellung der
Freude, welche ohne schrankenlose Freiheit nicht möglich ist und als die höchste
Regsamkeit des Lebens wirken, zerstören muß -- zuletzt auch sich selber. Damit
entschuldigt oder bestätigt vielmehr Schlegel die Selbstironie der attischen Komödie,
welche durch die häufigen Anspielungen auf Dichter und Publikum gewisser¬
maßen sich selbst aufhebt. Und wie dieser Aufsatz auf der einen Seite bereits
folgerichtig zur Umstürzung der Kunstform führt, so wird uns auch hier schon
für Schlegels Moral bange; denn der erhabene Zustand der Freude, der anfangs
fast ganz mit Schillers Ideal der schönen Seele übereinstimmt, ist je länger
je mehr in Gefahr, in die "göttliche Frechheit" der Lucinde umzukippen.

Hier war die Literaturgeschichte bereits Ästhetik: der historische Begriff
der aristophanischen Komödie war als Regel sür das reine Lustspiel überhaupt
hingestellt worden. In dem plcitonisirenden Aufsatze "Über die Grenzen des
Schönen," welchem Schiller mit Recht Verworrenheit der Begriffe und Härte
der Darstellung vorwarf, macht Schlegel seinen ersten und hier, wo ihn die
historische Stütze verläßt, nicht eben glücklichen Anfang im selbständigen Ästhe-
tisiren. Glücklicher ist er auf dem Gebiete der Kulturgeschichte, welche gleichfalls
in seiner großgedachten Literaturgeschichte enthalten sein sollte. Zwei Aufsätze,
welche sich mit der Stellung der griechischen Frauen im Leben und der Literatur
beschäftigen, gehören zu dem interessantesten und folgenschwersten, was Schlegel
in dieser Zeit und noch später geschrieben hat. Im Zusammenhange mit der
hervortretenden Stellung, welche die Frauen in der Dichtung des 18. Jahr¬
hunderts einnahmen, mit der hervorragenden Einwirkung, welche sie auf die
Dichter der klassischen Periode hatten und woraus dann wieder neue Frauen¬
ideale entstanden waren, muß es betrachtet werden, wenn sich auch andre
Schriftsteller in damaliger Zeit über die Stellung der Frauen bei den alten
Völkern, im heroischen Zeitalter u. s. w. vernehmen ließen. Schlegel widerlegt
in dem prachtvollen Aufsatze "Über die Diotima" zunächst an dem Beispiel
der Diotima in Platos Gastmahl die gangbare Meinung, daß die griechischen
Frauen von der Bildung und dein Umgange der Männer völlig ausgeschlossen
gewesen seien, und stellt es in deutlichem Anschlusse an einen Horenaufsatz
Wilhelm von Humboldts, welcher das Ideal der menschlichen Form in die
Verbindung des Männlichen und Weiblichen, also in die Geschlechtslosigkeit, ver¬
legt hatte, als das oberste Ziel der griechischen Bildung hin, daß sich der
Geschlechtsunterschied der Menschheit, die Männlichkeit und Weiblichkeit der
höhern Menschlichkeit unterordne. So erscheint ihm die Bildung der deutsche"


Friedrich Schlegel.

dieser griechischen Literaturgeschichte erörtert der nächste Aufsatz: „Vom ästhe¬
tischen Werte der griechischen Komödie," welcher durch eine Apologie des
Aristophanes zugleich der Tieckschen Märchenkomödie und dem romantischen
Lustspiele überhaupt gegenüber Jffland und Kotzebue zu ihrem Rechte verhilft.
Während unser bürgerliches Lustspiel nur eine Mischung von Scherz und Ernst
ist, ist das Wesen der reinen (aristophanischen) Komödie die Darstellung der
Freude, welche ohne schrankenlose Freiheit nicht möglich ist und als die höchste
Regsamkeit des Lebens wirken, zerstören muß — zuletzt auch sich selber. Damit
entschuldigt oder bestätigt vielmehr Schlegel die Selbstironie der attischen Komödie,
welche durch die häufigen Anspielungen auf Dichter und Publikum gewisser¬
maßen sich selbst aufhebt. Und wie dieser Aufsatz auf der einen Seite bereits
folgerichtig zur Umstürzung der Kunstform führt, so wird uns auch hier schon
für Schlegels Moral bange; denn der erhabene Zustand der Freude, der anfangs
fast ganz mit Schillers Ideal der schönen Seele übereinstimmt, ist je länger
je mehr in Gefahr, in die „göttliche Frechheit" der Lucinde umzukippen.

Hier war die Literaturgeschichte bereits Ästhetik: der historische Begriff
der aristophanischen Komödie war als Regel sür das reine Lustspiel überhaupt
hingestellt worden. In dem plcitonisirenden Aufsatze „Über die Grenzen des
Schönen," welchem Schiller mit Recht Verworrenheit der Begriffe und Härte
der Darstellung vorwarf, macht Schlegel seinen ersten und hier, wo ihn die
historische Stütze verläßt, nicht eben glücklichen Anfang im selbständigen Ästhe-
tisiren. Glücklicher ist er auf dem Gebiete der Kulturgeschichte, welche gleichfalls
in seiner großgedachten Literaturgeschichte enthalten sein sollte. Zwei Aufsätze,
welche sich mit der Stellung der griechischen Frauen im Leben und der Literatur
beschäftigen, gehören zu dem interessantesten und folgenschwersten, was Schlegel
in dieser Zeit und noch später geschrieben hat. Im Zusammenhange mit der
hervortretenden Stellung, welche die Frauen in der Dichtung des 18. Jahr¬
hunderts einnahmen, mit der hervorragenden Einwirkung, welche sie auf die
Dichter der klassischen Periode hatten und woraus dann wieder neue Frauen¬
ideale entstanden waren, muß es betrachtet werden, wenn sich auch andre
Schriftsteller in damaliger Zeit über die Stellung der Frauen bei den alten
Völkern, im heroischen Zeitalter u. s. w. vernehmen ließen. Schlegel widerlegt
in dem prachtvollen Aufsatze „Über die Diotima" zunächst an dem Beispiel
der Diotima in Platos Gastmahl die gangbare Meinung, daß die griechischen
Frauen von der Bildung und dein Umgange der Männer völlig ausgeschlossen
gewesen seien, und stellt es in deutlichem Anschlusse an einen Horenaufsatz
Wilhelm von Humboldts, welcher das Ideal der menschlichen Form in die
Verbindung des Männlichen und Weiblichen, also in die Geschlechtslosigkeit, ver¬
legt hatte, als das oberste Ziel der griechischen Bildung hin, daß sich der
Geschlechtsunterschied der Menschheit, die Männlichkeit und Weiblichkeit der
höhern Menschlichkeit unterordne. So erscheint ihm die Bildung der deutsche»


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[0195] Friedrich Schlegel. dieser griechischen Literaturgeschichte erörtert der nächste Aufsatz: „Vom ästhe¬ tischen Werte der griechischen Komödie," welcher durch eine Apologie des Aristophanes zugleich der Tieckschen Märchenkomödie und dem romantischen Lustspiele überhaupt gegenüber Jffland und Kotzebue zu ihrem Rechte verhilft. Während unser bürgerliches Lustspiel nur eine Mischung von Scherz und Ernst ist, ist das Wesen der reinen (aristophanischen) Komödie die Darstellung der Freude, welche ohne schrankenlose Freiheit nicht möglich ist und als die höchste Regsamkeit des Lebens wirken, zerstören muß — zuletzt auch sich selber. Damit entschuldigt oder bestätigt vielmehr Schlegel die Selbstironie der attischen Komödie, welche durch die häufigen Anspielungen auf Dichter und Publikum gewisser¬ maßen sich selbst aufhebt. Und wie dieser Aufsatz auf der einen Seite bereits folgerichtig zur Umstürzung der Kunstform führt, so wird uns auch hier schon für Schlegels Moral bange; denn der erhabene Zustand der Freude, der anfangs fast ganz mit Schillers Ideal der schönen Seele übereinstimmt, ist je länger je mehr in Gefahr, in die „göttliche Frechheit" der Lucinde umzukippen. Hier war die Literaturgeschichte bereits Ästhetik: der historische Begriff der aristophanischen Komödie war als Regel sür das reine Lustspiel überhaupt hingestellt worden. In dem plcitonisirenden Aufsatze „Über die Grenzen des Schönen," welchem Schiller mit Recht Verworrenheit der Begriffe und Härte der Darstellung vorwarf, macht Schlegel seinen ersten und hier, wo ihn die historische Stütze verläßt, nicht eben glücklichen Anfang im selbständigen Ästhe- tisiren. Glücklicher ist er auf dem Gebiete der Kulturgeschichte, welche gleichfalls in seiner großgedachten Literaturgeschichte enthalten sein sollte. Zwei Aufsätze, welche sich mit der Stellung der griechischen Frauen im Leben und der Literatur beschäftigen, gehören zu dem interessantesten und folgenschwersten, was Schlegel in dieser Zeit und noch später geschrieben hat. Im Zusammenhange mit der hervortretenden Stellung, welche die Frauen in der Dichtung des 18. Jahr¬ hunderts einnahmen, mit der hervorragenden Einwirkung, welche sie auf die Dichter der klassischen Periode hatten und woraus dann wieder neue Frauen¬ ideale entstanden waren, muß es betrachtet werden, wenn sich auch andre Schriftsteller in damaliger Zeit über die Stellung der Frauen bei den alten Völkern, im heroischen Zeitalter u. s. w. vernehmen ließen. Schlegel widerlegt in dem prachtvollen Aufsatze „Über die Diotima" zunächst an dem Beispiel der Diotima in Platos Gastmahl die gangbare Meinung, daß die griechischen Frauen von der Bildung und dein Umgange der Männer völlig ausgeschlossen gewesen seien, und stellt es in deutlichem Anschlusse an einen Horenaufsatz Wilhelm von Humboldts, welcher das Ideal der menschlichen Form in die Verbindung des Männlichen und Weiblichen, also in die Geschlechtslosigkeit, ver¬ legt hatte, als das oberste Ziel der griechischen Bildung hin, daß sich der Geschlechtsunterschied der Menschheit, die Männlichkeit und Weiblichkeit der höhern Menschlichkeit unterordne. So erscheint ihm die Bildung der deutsche»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/195>, abgerufen am 08.09.2024.