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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Friedrich Schlegel.

Schuft in die Romantik hinein, und wir erinnern uns sogleich der Goethischen
Naturstudien, welche allein geeignet waren, die Verbindung zwischen so ver-
schiednen Disziplinen zu ermöglichen. Wie Goethe die Natur selbständig als
eine werdende, sich entwickelnde, nicht als eine fertige, ausgebildete darzustellen
liebte, so wollte auch Schlegel die Geschichte der griechischen Dichtung als die
Entwicklungsgeschichte eines Individuums hinstellen, welche zugleich die Geschichte
der Gattung vorstellen, d. h. Naturgeschichte sein sollte.

So verkündet Schlegel hier das Evangelium der "Griechheit," mit welcher
die Objektivität zusammenfällt, mit der schneidendsten Einseitigkeit. Wahrend
er sich in Herabsetzung der modernen Poesie und in Verhimmelung der griechischen
abarbeitet, erschien Schillers Abhandlung über naive und sentimentalische Dichter,
welche die Vorzüge und Schattenseiten viel gerechter verteilte. Schlegel war in seiner
Doktrin noch nicht so verhärtet, wie später nach seiner Entzweiung mit Schiller:
er sieht am Schlüsse, wo er die Gunst des Zeitpunktes für die ästhetische Revo¬
lution hervorhebt und zum ersten male das romantische Taglied "Es ist an
der Zeit" vor den Deutschen anstimme, die moderne Literatur mit weit günstigern
Augen an als am Anfange und hat es auch nicht verschmäht, sich mit Schiller
durch eine Vorrede soweit als möglich in Einklang zu bringen. So hatte sich
das Buch, welches den Fortschritt des menschlichen Geistes so hoch anzuschlagen
wußte und welches Novalis als eine interessante Indikation der zunehmenden
Geschwindigkeit und Progression des menschlichen Geistes bezeichnet, wirklich
während des Druckes selbstüberlcbt.

Das in dieser Schrift aufgestellte, viel- oder besser allumfassende Ideal
rein griechischer Literaturgeschichte hat Friedrich Schlegel in seiner "Geschichte
der Poesie der Griechen und Römer" (1798) zu erfüllen gesucht. Aber freilich
ist er auch hier mit dem ersten Bande stecken geblieben. Der weite Gesichts¬
punkt, nach welchem die Geschichte der griechischen Poesie zugleich auch Alter¬
tumswissenschaft der griechischen Literatur sein sollte, ist wirklich beibehalten.
Auch fehlt es dem Verfasser, der hiermit sein gründlichstes Werk von sich gab,
nicht an Kenntnis des Materials oder an Belesenheit. Aber auch hier wieder
zeigt er sich unfähig, im großen darzustellen. Das Kapitel über die homerische
Poesie bildet den Mittelpunkt und auch den Hauptinhalt des Werkes, neben
welchem vorher und besonders nachfolgend alles übrige abfällt. Durch die neuen
Forschungen F. A. Wolfs, welche Schlegel allenthalben zu Grunde legt und
welche er unsrer Literatur nutzbringend gemacht hat, war dieser Abschnitt auch
für den Zeitmoment in den Vordergrund gerückt. Indem aber Schlegel hier
den Nachweis führt, daß das Urteil des Aristoteles, welcher die attische Tragödie
beständig vor Augen gehabt habe und das homerische Epos zur Tragödie
umdeute, für Homer keineswegs der richtige Standpunkt sei, untergräbt er nicht
nur das klassische Ansehen des griechischen Kunstrichters, der seit Lessing als
die höchste Autorität galt, sondern bringt auch höchst fruchtbare Erörterungen


Friedrich Schlegel.

Schuft in die Romantik hinein, und wir erinnern uns sogleich der Goethischen
Naturstudien, welche allein geeignet waren, die Verbindung zwischen so ver-
schiednen Disziplinen zu ermöglichen. Wie Goethe die Natur selbständig als
eine werdende, sich entwickelnde, nicht als eine fertige, ausgebildete darzustellen
liebte, so wollte auch Schlegel die Geschichte der griechischen Dichtung als die
Entwicklungsgeschichte eines Individuums hinstellen, welche zugleich die Geschichte
der Gattung vorstellen, d. h. Naturgeschichte sein sollte.

So verkündet Schlegel hier das Evangelium der „Griechheit," mit welcher
die Objektivität zusammenfällt, mit der schneidendsten Einseitigkeit. Wahrend
er sich in Herabsetzung der modernen Poesie und in Verhimmelung der griechischen
abarbeitet, erschien Schillers Abhandlung über naive und sentimentalische Dichter,
welche die Vorzüge und Schattenseiten viel gerechter verteilte. Schlegel war in seiner
Doktrin noch nicht so verhärtet, wie später nach seiner Entzweiung mit Schiller:
er sieht am Schlüsse, wo er die Gunst des Zeitpunktes für die ästhetische Revo¬
lution hervorhebt und zum ersten male das romantische Taglied „Es ist an
der Zeit" vor den Deutschen anstimme, die moderne Literatur mit weit günstigern
Augen an als am Anfange und hat es auch nicht verschmäht, sich mit Schiller
durch eine Vorrede soweit als möglich in Einklang zu bringen. So hatte sich
das Buch, welches den Fortschritt des menschlichen Geistes so hoch anzuschlagen
wußte und welches Novalis als eine interessante Indikation der zunehmenden
Geschwindigkeit und Progression des menschlichen Geistes bezeichnet, wirklich
während des Druckes selbstüberlcbt.

Das in dieser Schrift aufgestellte, viel- oder besser allumfassende Ideal
rein griechischer Literaturgeschichte hat Friedrich Schlegel in seiner „Geschichte
der Poesie der Griechen und Römer" (1798) zu erfüllen gesucht. Aber freilich
ist er auch hier mit dem ersten Bande stecken geblieben. Der weite Gesichts¬
punkt, nach welchem die Geschichte der griechischen Poesie zugleich auch Alter¬
tumswissenschaft der griechischen Literatur sein sollte, ist wirklich beibehalten.
Auch fehlt es dem Verfasser, der hiermit sein gründlichstes Werk von sich gab,
nicht an Kenntnis des Materials oder an Belesenheit. Aber auch hier wieder
zeigt er sich unfähig, im großen darzustellen. Das Kapitel über die homerische
Poesie bildet den Mittelpunkt und auch den Hauptinhalt des Werkes, neben
welchem vorher und besonders nachfolgend alles übrige abfällt. Durch die neuen
Forschungen F. A. Wolfs, welche Schlegel allenthalben zu Grunde legt und
welche er unsrer Literatur nutzbringend gemacht hat, war dieser Abschnitt auch
für den Zeitmoment in den Vordergrund gerückt. Indem aber Schlegel hier
den Nachweis führt, daß das Urteil des Aristoteles, welcher die attische Tragödie
beständig vor Augen gehabt habe und das homerische Epos zur Tragödie
umdeute, für Homer keineswegs der richtige Standpunkt sei, untergräbt er nicht
nur das klassische Ansehen des griechischen Kunstrichters, der seit Lessing als
die höchste Autorität galt, sondern bringt auch höchst fruchtbare Erörterungen


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[0197] Friedrich Schlegel. Schuft in die Romantik hinein, und wir erinnern uns sogleich der Goethischen Naturstudien, welche allein geeignet waren, die Verbindung zwischen so ver- schiednen Disziplinen zu ermöglichen. Wie Goethe die Natur selbständig als eine werdende, sich entwickelnde, nicht als eine fertige, ausgebildete darzustellen liebte, so wollte auch Schlegel die Geschichte der griechischen Dichtung als die Entwicklungsgeschichte eines Individuums hinstellen, welche zugleich die Geschichte der Gattung vorstellen, d. h. Naturgeschichte sein sollte. So verkündet Schlegel hier das Evangelium der „Griechheit," mit welcher die Objektivität zusammenfällt, mit der schneidendsten Einseitigkeit. Wahrend er sich in Herabsetzung der modernen Poesie und in Verhimmelung der griechischen abarbeitet, erschien Schillers Abhandlung über naive und sentimentalische Dichter, welche die Vorzüge und Schattenseiten viel gerechter verteilte. Schlegel war in seiner Doktrin noch nicht so verhärtet, wie später nach seiner Entzweiung mit Schiller: er sieht am Schlüsse, wo er die Gunst des Zeitpunktes für die ästhetische Revo¬ lution hervorhebt und zum ersten male das romantische Taglied „Es ist an der Zeit" vor den Deutschen anstimme, die moderne Literatur mit weit günstigern Augen an als am Anfange und hat es auch nicht verschmäht, sich mit Schiller durch eine Vorrede soweit als möglich in Einklang zu bringen. So hatte sich das Buch, welches den Fortschritt des menschlichen Geistes so hoch anzuschlagen wußte und welches Novalis als eine interessante Indikation der zunehmenden Geschwindigkeit und Progression des menschlichen Geistes bezeichnet, wirklich während des Druckes selbstüberlcbt. Das in dieser Schrift aufgestellte, viel- oder besser allumfassende Ideal rein griechischer Literaturgeschichte hat Friedrich Schlegel in seiner „Geschichte der Poesie der Griechen und Römer" (1798) zu erfüllen gesucht. Aber freilich ist er auch hier mit dem ersten Bande stecken geblieben. Der weite Gesichts¬ punkt, nach welchem die Geschichte der griechischen Poesie zugleich auch Alter¬ tumswissenschaft der griechischen Literatur sein sollte, ist wirklich beibehalten. Auch fehlt es dem Verfasser, der hiermit sein gründlichstes Werk von sich gab, nicht an Kenntnis des Materials oder an Belesenheit. Aber auch hier wieder zeigt er sich unfähig, im großen darzustellen. Das Kapitel über die homerische Poesie bildet den Mittelpunkt und auch den Hauptinhalt des Werkes, neben welchem vorher und besonders nachfolgend alles übrige abfällt. Durch die neuen Forschungen F. A. Wolfs, welche Schlegel allenthalben zu Grunde legt und welche er unsrer Literatur nutzbringend gemacht hat, war dieser Abschnitt auch für den Zeitmoment in den Vordergrund gerückt. Indem aber Schlegel hier den Nachweis führt, daß das Urteil des Aristoteles, welcher die attische Tragödie beständig vor Augen gehabt habe und das homerische Epos zur Tragödie umdeute, für Homer keineswegs der richtige Standpunkt sei, untergräbt er nicht nur das klassische Ansehen des griechischen Kunstrichters, der seit Lessing als die höchste Autorität galt, sondern bringt auch höchst fruchtbare Erörterungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/197>, abgerufen am 08.09.2024.