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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Friedrich Schlegel.

Joch zu finden, den juristischen Studien den Laufpaß, und will in Leipzig sich
selbst leben, als schriftstellerischer Libertin natürlich, seinem Wissensdurst" und
seiner Großmannssucht gleichmäßig wie den höchsten und den niedrigsten Be¬
gierden seines Herzens fröhnend. In den "Lehrjahren der Männlichkeit," einem
Kapitel seiner "Lucinde," welches den Anschluß an "Wilhelm Meisters Lehrjahre"
schon im Titel aufzeigt, hat er die folgende neueste Periode seines Lebens in
seiner gestaltlosen, mehr andeutenden als veranschaulichenden Manier dargestellt.
Mit dem Verstände genießen, leben wie im Schlafe, kränklichen Herzens jeder
Laune dienend: so hatte er schon in Göttingen gelebt. In Leipzig wird Hamlets
heroische Verzweiflung sein eigentliches Element, welches er wiederum in der
Größe und Übermacht des Verstandes sucht. Das peinliche, qualvolle Ringen
einer egoistischen, lieblosen Seele, welche ein scharfer Verstand bis in ihre letzten
Schlupfwinkel erleuchtet und nirgends über sich selbst in einem glücklichen Dunkel
läßt, offenbart sich in seinen Briefen an den Bruder, verbunden mit der Freude
des Karikaturenzeichners, der sein Selbstporträt mit eigner Hand bis ins Grinsen
verzerrt. Ein unendliches, unersättliches Liebesbedürfnis stürzt ihn in den Taumel
von allerlei Ausschweifungen und Zerstreuungen, steigert seine Freundschaft zu
jungen Männern wie Hardenberg und Graf Schweinitz nach dem Muster der
Heldenfreundschaften des Altertums bis zur Liebe -- aber mit der Wut der
Unbefriedigung wendet er sich, nachdem er in vollen Zügen gesogen, von dem
Gegenstande seiner Zuneigung alsbald wieder ab. Da bewirkt der Anblick jener
Frau, welche auch im Leben seines Bruders eine so bedeutende Rolle spielt, eine
völlige Umwandlung in ihm: Karoline kommt im August 1793 nach Sachsen,
nach ihrer Mainzer Gefangenschaft, welche in den Augen der übrigen Welt sie
eher zu ruiniren geeignet war, in denen Friedrich Schlegels aber glorifizirte;
in Umständen noch dazu, welche wenig geeignet waren, ihren Eindruck in physischer
und psychischer Beziehung zu erhöhen. Dennoch sah Friedrich in ihr die einzige
Frau, welcher er den "Trieb nach dem Unendlichen" zuerkennen wollte, dessen
Mangel ihn bisher unfähig gemacht hatte, ein Weib zu lieben. Ihre Zurück¬
haltung und halbe Mißachtung reizt den jungen Mann, der sich ihr mit un¬
bedingtem Zutrauen übergeben hat, noch mehr zur Liebe. Tugendhaft zu fein
war seinem vom Studium Plutos genährten Geiste einmal als das Höchste er¬
schienen, das er sich zu denken vermochte; dann hatte ihn die Tugend wieder
angeekelt, wenn er sie auch hätte erreichen können. Hier ergab sich die Ge¬
legenheit, seinen Jugendenthusiasmus zu bethätigen: er gefiel sich in der Rolle
des Entsagenden, denn Karoline war längst die Auserwählte seines Bruders,
welche dieser vertrauensvoll der Obhut Friedrichs übergeben hatte. Und wie
den sittlichen, so weckt Karoline gleichzeitig auch seinen intellektuellen Ehrgeiz:
um ihr eine bessere Meinung von seinen Talenten abzuzwingen, zieht er sich
in sich selbst zurück, giebt die Selbstmordgedanken auf und sammelt seine
Kräfte.


GrcuzbotenIII, 1LL3, 24
Friedrich Schlegel.

Joch zu finden, den juristischen Studien den Laufpaß, und will in Leipzig sich
selbst leben, als schriftstellerischer Libertin natürlich, seinem Wissensdurst« und
seiner Großmannssucht gleichmäßig wie den höchsten und den niedrigsten Be¬
gierden seines Herzens fröhnend. In den „Lehrjahren der Männlichkeit," einem
Kapitel seiner „Lucinde," welches den Anschluß an „Wilhelm Meisters Lehrjahre"
schon im Titel aufzeigt, hat er die folgende neueste Periode seines Lebens in
seiner gestaltlosen, mehr andeutenden als veranschaulichenden Manier dargestellt.
Mit dem Verstände genießen, leben wie im Schlafe, kränklichen Herzens jeder
Laune dienend: so hatte er schon in Göttingen gelebt. In Leipzig wird Hamlets
heroische Verzweiflung sein eigentliches Element, welches er wiederum in der
Größe und Übermacht des Verstandes sucht. Das peinliche, qualvolle Ringen
einer egoistischen, lieblosen Seele, welche ein scharfer Verstand bis in ihre letzten
Schlupfwinkel erleuchtet und nirgends über sich selbst in einem glücklichen Dunkel
läßt, offenbart sich in seinen Briefen an den Bruder, verbunden mit der Freude
des Karikaturenzeichners, der sein Selbstporträt mit eigner Hand bis ins Grinsen
verzerrt. Ein unendliches, unersättliches Liebesbedürfnis stürzt ihn in den Taumel
von allerlei Ausschweifungen und Zerstreuungen, steigert seine Freundschaft zu
jungen Männern wie Hardenberg und Graf Schweinitz nach dem Muster der
Heldenfreundschaften des Altertums bis zur Liebe — aber mit der Wut der
Unbefriedigung wendet er sich, nachdem er in vollen Zügen gesogen, von dem
Gegenstande seiner Zuneigung alsbald wieder ab. Da bewirkt der Anblick jener
Frau, welche auch im Leben seines Bruders eine so bedeutende Rolle spielt, eine
völlige Umwandlung in ihm: Karoline kommt im August 1793 nach Sachsen,
nach ihrer Mainzer Gefangenschaft, welche in den Augen der übrigen Welt sie
eher zu ruiniren geeignet war, in denen Friedrich Schlegels aber glorifizirte;
in Umständen noch dazu, welche wenig geeignet waren, ihren Eindruck in physischer
und psychischer Beziehung zu erhöhen. Dennoch sah Friedrich in ihr die einzige
Frau, welcher er den „Trieb nach dem Unendlichen" zuerkennen wollte, dessen
Mangel ihn bisher unfähig gemacht hatte, ein Weib zu lieben. Ihre Zurück¬
haltung und halbe Mißachtung reizt den jungen Mann, der sich ihr mit un¬
bedingtem Zutrauen übergeben hat, noch mehr zur Liebe. Tugendhaft zu fein
war seinem vom Studium Plutos genährten Geiste einmal als das Höchste er¬
schienen, das er sich zu denken vermochte; dann hatte ihn die Tugend wieder
angeekelt, wenn er sie auch hätte erreichen können. Hier ergab sich die Ge¬
legenheit, seinen Jugendenthusiasmus zu bethätigen: er gefiel sich in der Rolle
des Entsagenden, denn Karoline war längst die Auserwählte seines Bruders,
welche dieser vertrauensvoll der Obhut Friedrichs übergeben hatte. Und wie
den sittlichen, so weckt Karoline gleichzeitig auch seinen intellektuellen Ehrgeiz:
um ihr eine bessere Meinung von seinen Talenten abzuzwingen, zieht er sich
in sich selbst zurück, giebt die Selbstmordgedanken auf und sammelt seine
Kräfte.


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[0193] Friedrich Schlegel. Joch zu finden, den juristischen Studien den Laufpaß, und will in Leipzig sich selbst leben, als schriftstellerischer Libertin natürlich, seinem Wissensdurst« und seiner Großmannssucht gleichmäßig wie den höchsten und den niedrigsten Be¬ gierden seines Herzens fröhnend. In den „Lehrjahren der Männlichkeit," einem Kapitel seiner „Lucinde," welches den Anschluß an „Wilhelm Meisters Lehrjahre" schon im Titel aufzeigt, hat er die folgende neueste Periode seines Lebens in seiner gestaltlosen, mehr andeutenden als veranschaulichenden Manier dargestellt. Mit dem Verstände genießen, leben wie im Schlafe, kränklichen Herzens jeder Laune dienend: so hatte er schon in Göttingen gelebt. In Leipzig wird Hamlets heroische Verzweiflung sein eigentliches Element, welches er wiederum in der Größe und Übermacht des Verstandes sucht. Das peinliche, qualvolle Ringen einer egoistischen, lieblosen Seele, welche ein scharfer Verstand bis in ihre letzten Schlupfwinkel erleuchtet und nirgends über sich selbst in einem glücklichen Dunkel läßt, offenbart sich in seinen Briefen an den Bruder, verbunden mit der Freude des Karikaturenzeichners, der sein Selbstporträt mit eigner Hand bis ins Grinsen verzerrt. Ein unendliches, unersättliches Liebesbedürfnis stürzt ihn in den Taumel von allerlei Ausschweifungen und Zerstreuungen, steigert seine Freundschaft zu jungen Männern wie Hardenberg und Graf Schweinitz nach dem Muster der Heldenfreundschaften des Altertums bis zur Liebe — aber mit der Wut der Unbefriedigung wendet er sich, nachdem er in vollen Zügen gesogen, von dem Gegenstande seiner Zuneigung alsbald wieder ab. Da bewirkt der Anblick jener Frau, welche auch im Leben seines Bruders eine so bedeutende Rolle spielt, eine völlige Umwandlung in ihm: Karoline kommt im August 1793 nach Sachsen, nach ihrer Mainzer Gefangenschaft, welche in den Augen der übrigen Welt sie eher zu ruiniren geeignet war, in denen Friedrich Schlegels aber glorifizirte; in Umständen noch dazu, welche wenig geeignet waren, ihren Eindruck in physischer und psychischer Beziehung zu erhöhen. Dennoch sah Friedrich in ihr die einzige Frau, welcher er den „Trieb nach dem Unendlichen" zuerkennen wollte, dessen Mangel ihn bisher unfähig gemacht hatte, ein Weib zu lieben. Ihre Zurück¬ haltung und halbe Mißachtung reizt den jungen Mann, der sich ihr mit un¬ bedingtem Zutrauen übergeben hat, noch mehr zur Liebe. Tugendhaft zu fein war seinem vom Studium Plutos genährten Geiste einmal als das Höchste er¬ schienen, das er sich zu denken vermochte; dann hatte ihn die Tugend wieder angeekelt, wenn er sie auch hätte erreichen können. Hier ergab sich die Ge¬ legenheit, seinen Jugendenthusiasmus zu bethätigen: er gefiel sich in der Rolle des Entsagenden, denn Karoline war längst die Auserwählte seines Bruders, welche dieser vertrauensvoll der Obhut Friedrichs übergeben hatte. Und wie den sittlichen, so weckt Karoline gleichzeitig auch seinen intellektuellen Ehrgeiz: um ihr eine bessere Meinung von seinen Talenten abzuzwingen, zieht er sich in sich selbst zurück, giebt die Selbstmordgedanken auf und sammelt seine Kräfte. GrcuzbotenIII, 1LL3, 24

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/193>, abgerufen am 08.09.2024.