Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.Rußland und der alleinseligmachende llonstitutionalismus. Vor kurzem ließ sich in der Wiener "Politischen Korrespondenz" eine offi¬ Wenn ein Kranker einem Freunde sein Leiden klagt, so pflegt dieser sich Rußland und der alleinseligmachende llonstitutionalismus. Vor kurzem ließ sich in der Wiener „Politischen Korrespondenz" eine offi¬ Wenn ein Kranker einem Freunde sein Leiden klagt, so pflegt dieser sich <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0011" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/153458"/> <fw type="header" place="top"> Rußland und der alleinseligmachende llonstitutionalismus.</fw><lb/> <p xml:id="ID_7"> Vor kurzem ließ sich in der Wiener „Politischen Korrespondenz" eine offi¬<lb/> ziöse Stimme aus Petersburg über diese Angelegenheit vernehmen, welche das<lb/> hier Bemerkte in sehr einleuchtender Weise ausführte. Wir halten es deshalb<lb/> für nützlich, diese Polemik gegen die oben erwähnte Erwartung und schließliche<lb/> Enttäuschung wiederzugeben, wobei wir alle Längen kürzen, häufige Wieder¬<lb/> holungen weglassen und andrerseits einige Hauptpunkte an der Hand guter Ge¬<lb/> währsmänner ausführlicher behandeln als der Verfasser des betreffenden<lb/> Artikels.</p><lb/> <p xml:id="ID_8" next="#ID_9"> Wenn ein Kranker einem Freunde sein Leiden klagt, so pflegt dieser sich<lb/> meist zu erinnern, daß ihm einmal dasselbe begegnet sei, und daß ihm dieses<lb/> oder jenes Heilmittel dabei geholfen oder doch gut gethan habe, und darau deu<lb/> Rat zu knüpfen, der Freund möge es auch damit probiren. Der Rat ist natürlich<lb/> wohlgemeint, aber die Organismen sind verschieden, und wenn die Shmptvme<lb/> bei beiden Fällen ähnlich sind, so brauchen deshalb die Krankheiten nicht dieselben<lb/> zu sein. Die Folge ist, daß auch das Mittel, das die eine hob oder milderte,<lb/> nicht das zur Beseitigung der andern geeignete sein kaun, diese vielmehr anders<lb/> behandelt werden müßte. Rußland ist krank, es leidet an Unregelmäßigkeiten<lb/> der Verwaltung, und es ist dringend zu wünschen, daß dies beseitigt werde.<lb/> Man hat es unter dem vorigen Zaren mit Medikamenten der westlichen Schule<lb/> versucht, und zwar in starken Dosen, die rasch hinter einander verabreicht wurden.<lb/> Schlag auf Schlag folgten sich Verordnungen, welche eine Art Selbstverwaltung<lb/> einführten, Geschwornengerichte schufen, die Presse freier stellten u. dergl. Er¬<lb/> folge aber sah mau davon nicht. Die Selbstverwaltung wurde liederlich, ohne<lb/> Ausdauer, ungeschickt geübt, oft sogar dem Eigennutz dienstbar gemacht. Wege,<lb/> Brücken, andre Verkehrsmittel, wohlthätige Anstalten verfielen unter ihr, der<lb/> Gemeinde- oder Kreissückel kam dabei zu Schaden. In Betreff der Geschwornen<lb/> sei nur an den dörrenden Ausgang des Prozesses der Meuchelmörder!» Wera<lb/> Sassulitsch erinnert. Die Preßfreiheit hat weder die Zeitungen gebessert noch<lb/> dem Publikum geholfen. Die alten Übelstände der Verwaltung blieben nach<lb/> wie vor bestehen. Was kam bei den aus Wahlen hervorgegangenen Munizipalräten<lb/> oder Stadtverordneten Alexander des Zweiten heraus? Anfangs drängte sich die<lb/> Blüte der Gesellschaft zu ihnen hin, und die Geschäfte verliefen recht befriedigend.<lb/> Nach wenigen Jahren aber waren die Bessern der Sache überdrüssig, und ihre Posten<lb/> wurden mit Leuten besetzt, die sich weniger dafür eigneten. Noch ein paar Jahre,<lb/> und diese Zemstwos bestanden nur noch aus unfähigen Menschen, und oft befanden<lb/> sich darunter sogar unsaubere Charaktere. Die Regierung sollte die Schuld trage».<lb/> Das Übel saß aber in der russischen Natur. Der Russe ist ein „flüchtiger Sohn<lb/> der Stunde," er denkt nicht viel an Vergangenes, beladet sich nicht gern mit<lb/> dem Gepäck der Pflicht, hat keine Ausdauer, wenn es sich ums Zahlen oder<lb/> Arbeiten handelt, und kommt sehr selten zu dem Entschlüsse, sich der Pflege<lb/> gemeinnütziger, aber bescheidener Aufgaben mit Liebe und Geduld zu widmen.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0011]
Rußland und der alleinseligmachende llonstitutionalismus.
Vor kurzem ließ sich in der Wiener „Politischen Korrespondenz" eine offi¬
ziöse Stimme aus Petersburg über diese Angelegenheit vernehmen, welche das
hier Bemerkte in sehr einleuchtender Weise ausführte. Wir halten es deshalb
für nützlich, diese Polemik gegen die oben erwähnte Erwartung und schließliche
Enttäuschung wiederzugeben, wobei wir alle Längen kürzen, häufige Wieder¬
holungen weglassen und andrerseits einige Hauptpunkte an der Hand guter Ge¬
währsmänner ausführlicher behandeln als der Verfasser des betreffenden
Artikels.
Wenn ein Kranker einem Freunde sein Leiden klagt, so pflegt dieser sich
meist zu erinnern, daß ihm einmal dasselbe begegnet sei, und daß ihm dieses
oder jenes Heilmittel dabei geholfen oder doch gut gethan habe, und darau deu
Rat zu knüpfen, der Freund möge es auch damit probiren. Der Rat ist natürlich
wohlgemeint, aber die Organismen sind verschieden, und wenn die Shmptvme
bei beiden Fällen ähnlich sind, so brauchen deshalb die Krankheiten nicht dieselben
zu sein. Die Folge ist, daß auch das Mittel, das die eine hob oder milderte,
nicht das zur Beseitigung der andern geeignete sein kaun, diese vielmehr anders
behandelt werden müßte. Rußland ist krank, es leidet an Unregelmäßigkeiten
der Verwaltung, und es ist dringend zu wünschen, daß dies beseitigt werde.
Man hat es unter dem vorigen Zaren mit Medikamenten der westlichen Schule
versucht, und zwar in starken Dosen, die rasch hinter einander verabreicht wurden.
Schlag auf Schlag folgten sich Verordnungen, welche eine Art Selbstverwaltung
einführten, Geschwornengerichte schufen, die Presse freier stellten u. dergl. Er¬
folge aber sah mau davon nicht. Die Selbstverwaltung wurde liederlich, ohne
Ausdauer, ungeschickt geübt, oft sogar dem Eigennutz dienstbar gemacht. Wege,
Brücken, andre Verkehrsmittel, wohlthätige Anstalten verfielen unter ihr, der
Gemeinde- oder Kreissückel kam dabei zu Schaden. In Betreff der Geschwornen
sei nur an den dörrenden Ausgang des Prozesses der Meuchelmörder!» Wera
Sassulitsch erinnert. Die Preßfreiheit hat weder die Zeitungen gebessert noch
dem Publikum geholfen. Die alten Übelstände der Verwaltung blieben nach
wie vor bestehen. Was kam bei den aus Wahlen hervorgegangenen Munizipalräten
oder Stadtverordneten Alexander des Zweiten heraus? Anfangs drängte sich die
Blüte der Gesellschaft zu ihnen hin, und die Geschäfte verliefen recht befriedigend.
Nach wenigen Jahren aber waren die Bessern der Sache überdrüssig, und ihre Posten
wurden mit Leuten besetzt, die sich weniger dafür eigneten. Noch ein paar Jahre,
und diese Zemstwos bestanden nur noch aus unfähigen Menschen, und oft befanden
sich darunter sogar unsaubere Charaktere. Die Regierung sollte die Schuld trage».
Das Übel saß aber in der russischen Natur. Der Russe ist ein „flüchtiger Sohn
der Stunde," er denkt nicht viel an Vergangenes, beladet sich nicht gern mit
dem Gepäck der Pflicht, hat keine Ausdauer, wenn es sich ums Zahlen oder
Arbeiten handelt, und kommt sehr selten zu dem Entschlüsse, sich der Pflege
gemeinnütziger, aber bescheidener Aufgaben mit Liebe und Geduld zu widmen.
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