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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Die Sache ist langweilig geworden, es läßt sich nicht mit ihr prahlen, und so
zieht man sich bei Zeiten von ihr zurück.

Die Mittel, die der vorige Zar dem Westen zur Heilung der rassischen
Krankheit entlehnte, haben nichts geholfen. Nun solls das große Universal-
mittel, der alleinseligmachende Konstitutionalismus besorgen. Aber die Natur
des Russen verträgt sich mit dem Mechanismus eines Regiments nach diesem
Muster nicht, die Anschauung des russischen Volkes vom Staate steht mit dem
konstitutionellen Programm in schroffsten Widerspruche, und der zur Übertreibung,
zum Extremen geneigte Charakter der Nation würde sehr bald eine Katastrophe
herbeiführen, wenn es zu parlamentarischen Einrichtungen käme.

Bevor wir der Begründung dieser Behauptungen folgen, fragen wir mit
dem Verfasser unsers Artikels: Wer verlangt denn eine Konstitution für Ru߬
land, für wen wäre diese Wohlthat bestimmt? Man antwortet: Für das Volk
und für die gebildete Klasse desselben. Aber im Volle giebt sich weder ein
Bedürfnis und Verlangen noch auch nur ein Verständnis der Sache kund.
Selten wie weiße Sperlinge werden die Ausnahmen von dieser Regel sein, und
es wird Millionen geben, die, gleich den Soldaten, welche bei der Empörung
von 1825 auf Befehl ihrer Führer vor dem Wiuterpalaste in Petersburg die
Konstitution leben ließen, diesen Ausdruck für den Namen einer Großfürstin
halten würden, wenn sie ihn überhaupt einmal zu hören bekämen.

Das russische Volk will in seiner ungeheuern Mehrheit den Absolutismus,
es begreift keine andre Regierungsform. Vortrefflich ist das in einem Auf¬
sätze auseinandergesetzt, der vor einigen Jahren in der "Wage" stand (187S,
Ur. 5 und 6). Es heißt da u. a.: "Der Russe findet in seinem eignen Ich
nicht den unerschütterlichen Grund des Guten, des Rechtes und Maßes, sondern
die Impulse kommen ihm von außen, in Gestalt eines befehlenden Herrn und
der Satzungen religiösen Brauches. Er birgt in seinem Innern keine reiche
eigne Welt; wo er nicht fürchten kann, da ist er verlassen und haltlos, da
fehlt die Stütze für seine Schwäche, der Inhalt für sein Gemüt und die wohl¬
thätige Schranke gegen böse Versuchungen und Begierden. Je fühlbarer die
despotische Gewalt, desto tiefer die Anhänglichkeit derer, um denen sie ausgeübt
wird. Gerade der launische, bald grausame, bald lässige und spielende Herr
ist der beliebteste; er stellt das Schicksal dar, das mich unerforschlich und
wechselnd den Einzelnen hebt und verwirft und ihm Qualen und Freude bereitet,
wie es ihm gefällt. Die Macht desselben an sich erfahren, seine Gegenwart
immerfort empfinden ist für den Menschen des Ostens ein tiefes Bedürfnis,
sich selbst bestimmen das größte Unglück, eine Aufgabe, die ihn erdrückt. Hat
er einen Fehler begangen, z. B. in Branntwein seine Besinnung verloren und
dabei den Dienst versäumt oder sich sein Geld aus der Tasche stehle" lassen,
dann verlangt er nach Strafe, wo möglich nach körperlicher Züchtigung, und
ist ihm diese zu Teil geworden, dann fühlt er sich frei und gehoben und hat in


Die Sache ist langweilig geworden, es läßt sich nicht mit ihr prahlen, und so
zieht man sich bei Zeiten von ihr zurück.

Die Mittel, die der vorige Zar dem Westen zur Heilung der rassischen
Krankheit entlehnte, haben nichts geholfen. Nun solls das große Universal-
mittel, der alleinseligmachende Konstitutionalismus besorgen. Aber die Natur
des Russen verträgt sich mit dem Mechanismus eines Regiments nach diesem
Muster nicht, die Anschauung des russischen Volkes vom Staate steht mit dem
konstitutionellen Programm in schroffsten Widerspruche, und der zur Übertreibung,
zum Extremen geneigte Charakter der Nation würde sehr bald eine Katastrophe
herbeiführen, wenn es zu parlamentarischen Einrichtungen käme.

Bevor wir der Begründung dieser Behauptungen folgen, fragen wir mit
dem Verfasser unsers Artikels: Wer verlangt denn eine Konstitution für Ru߬
land, für wen wäre diese Wohlthat bestimmt? Man antwortet: Für das Volk
und für die gebildete Klasse desselben. Aber im Volle giebt sich weder ein
Bedürfnis und Verlangen noch auch nur ein Verständnis der Sache kund.
Selten wie weiße Sperlinge werden die Ausnahmen von dieser Regel sein, und
es wird Millionen geben, die, gleich den Soldaten, welche bei der Empörung
von 1825 auf Befehl ihrer Führer vor dem Wiuterpalaste in Petersburg die
Konstitution leben ließen, diesen Ausdruck für den Namen einer Großfürstin
halten würden, wenn sie ihn überhaupt einmal zu hören bekämen.

Das russische Volk will in seiner ungeheuern Mehrheit den Absolutismus,
es begreift keine andre Regierungsform. Vortrefflich ist das in einem Auf¬
sätze auseinandergesetzt, der vor einigen Jahren in der „Wage" stand (187S,
Ur. 5 und 6). Es heißt da u. a.: „Der Russe findet in seinem eignen Ich
nicht den unerschütterlichen Grund des Guten, des Rechtes und Maßes, sondern
die Impulse kommen ihm von außen, in Gestalt eines befehlenden Herrn und
der Satzungen religiösen Brauches. Er birgt in seinem Innern keine reiche
eigne Welt; wo er nicht fürchten kann, da ist er verlassen und haltlos, da
fehlt die Stütze für seine Schwäche, der Inhalt für sein Gemüt und die wohl¬
thätige Schranke gegen böse Versuchungen und Begierden. Je fühlbarer die
despotische Gewalt, desto tiefer die Anhänglichkeit derer, um denen sie ausgeübt
wird. Gerade der launische, bald grausame, bald lässige und spielende Herr
ist der beliebteste; er stellt das Schicksal dar, das mich unerforschlich und
wechselnd den Einzelnen hebt und verwirft und ihm Qualen und Freude bereitet,
wie es ihm gefällt. Die Macht desselben an sich erfahren, seine Gegenwart
immerfort empfinden ist für den Menschen des Ostens ein tiefes Bedürfnis,
sich selbst bestimmen das größte Unglück, eine Aufgabe, die ihn erdrückt. Hat
er einen Fehler begangen, z. B. in Branntwein seine Besinnung verloren und
dabei den Dienst versäumt oder sich sein Geld aus der Tasche stehle» lassen,
dann verlangt er nach Strafe, wo möglich nach körperlicher Züchtigung, und
ist ihm diese zu Teil geworden, dann fühlt er sich frei und gehoben und hat in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/12>, abgerufen am 08.09.2024.