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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Zum Raffael-Jubiläum.

Originalen kann nichts endgiltiges erreicht werden, weil die Photographie und
die mit ihr im Bündnis stehende Heliogravüre nicht einmal bei Handzeichnungen
das Original ersetzen kann, wie man bisher vielfach geglaubt hat. Wir haben
kürzlich in Berlin bei der Reproduktion der Handzeichnungen des Sandro Botticelli
zu der mit der Hamiltonschen Sammlung erworbenen Dantehandschrift eine aus¬
giebige Erfahrung nach dieser Richtung gemacht. Unter drei verschieden Re-
Prvduktionsversuchen durch Holzschnitt, Lithographie und Heliogravüre blieb die
letztere den Originalen das meiste schuldig.

Wir sind also für die nächste Zukunft allein auf den Scharfsinn von Männern
wie Morelli, Springer und Thausing, denen wir nach einem gründlichen Überblick
über den gegenwärtigen Stand der Raffaelforschung unbedingt die Superiorität
über alle Rivalen vindiziren müssen, angewiesen, um eine gereinigte Biographie
des Meisters erwarten zu dürfen. Wir sind dabei weit entfernt, die vorbe¬
reitenden Arbeiten eines Robinson und Ruland, eines Müntz und Milanesi zu
unterschätzen. Die beiden ersten haben sich in der kritische" Sichtung des spezifisch
künstlerischen Materials sogar große und bleibende Verdienste erworben. Müntz
hat eine Menge Urkunden herbeigeschafft; aber er hat in der Bilderkritik und in
der Wertschätzung der Dokumente eine bedauerliche Unsicherheit bekundet. Milanesi
endlich ist wie von Gott verlassen, sowie er die Nase aus den Fenstern der
Bibliotheken und Archive in die freie Natur hinaussteckt. Es ist vollkommen
unbegreiflich, daß ein Mann, der im Lande der Sonne lebt, nur in der staubigen
Atmosphäre der Bücherstuben atmen kann. Man sollte meinen, daß er sich über
seiner höchst verdienstvollen Goldgräberarbeit nicht die Zeit nehme, in Florenz
über die Straße zu gehen und in den Ufsizien und im Palazzo Pitti nachzu¬
sehen, was Raffael über sich selber sagt.

Indessen haben auch die literarischen Forscher noch genug zu thun, nur
Aufklärungen über dunkle Punkte zu schaffen. Über Raffciels Verhältnis zu
Michelangelo hat Müntz nichts neues beigebracht. Auch heute steht uoch nicht
fest, ob die beiden Männer jemals im Leben in nähere Berührung miteinander
gekommen sind. Über Raffael den Archäologen, den Rninenforscher und Re¬
staurator des modernen Roms hat Müntz trotz seiner Verteidigung des bekannten
Berichtes über die antiken Baudenkmäler Roms zu Gunsten Raffaels als des
vermeintlichen Autors ebenfalls keine zwingende Beweiskraft an den Tag ge¬
legt. Außer Herman Grimm hat, soviel mir bekannt geworden, die Münchner
Handschrift dieses Berichtes niemand so genau untersucht wie ich. (S. die zweite,
von mir besorgte Auflage der Guhlschen Künstlerbriefe.) Aus dem Vergleich
der Münchner, um ein Jahr jüngern Redaktion dieses Berichtes mit der ältern
römischen geht unzweifelhaft hervor, daß sein Verfasser nur ein Philologe sein
kann. Nimmermehr ist anzunehmen, daß, wenn wir auch alle chronologischen
Bedenken von Müntz gelten lassen, ein soviel beschäftigter Maler wie Raffael
die Zeit gehabt haben könne, sich mit so spitzfindigen antiquarischen, historischen


Gu'iizboten II, 188!;. ^
Zum Raffael-Jubiläum.

Originalen kann nichts endgiltiges erreicht werden, weil die Photographie und
die mit ihr im Bündnis stehende Heliogravüre nicht einmal bei Handzeichnungen
das Original ersetzen kann, wie man bisher vielfach geglaubt hat. Wir haben
kürzlich in Berlin bei der Reproduktion der Handzeichnungen des Sandro Botticelli
zu der mit der Hamiltonschen Sammlung erworbenen Dantehandschrift eine aus¬
giebige Erfahrung nach dieser Richtung gemacht. Unter drei verschieden Re-
Prvduktionsversuchen durch Holzschnitt, Lithographie und Heliogravüre blieb die
letztere den Originalen das meiste schuldig.

Wir sind also für die nächste Zukunft allein auf den Scharfsinn von Männern
wie Morelli, Springer und Thausing, denen wir nach einem gründlichen Überblick
über den gegenwärtigen Stand der Raffaelforschung unbedingt die Superiorität
über alle Rivalen vindiziren müssen, angewiesen, um eine gereinigte Biographie
des Meisters erwarten zu dürfen. Wir sind dabei weit entfernt, die vorbe¬
reitenden Arbeiten eines Robinson und Ruland, eines Müntz und Milanesi zu
unterschätzen. Die beiden ersten haben sich in der kritische» Sichtung des spezifisch
künstlerischen Materials sogar große und bleibende Verdienste erworben. Müntz
hat eine Menge Urkunden herbeigeschafft; aber er hat in der Bilderkritik und in
der Wertschätzung der Dokumente eine bedauerliche Unsicherheit bekundet. Milanesi
endlich ist wie von Gott verlassen, sowie er die Nase aus den Fenstern der
Bibliotheken und Archive in die freie Natur hinaussteckt. Es ist vollkommen
unbegreiflich, daß ein Mann, der im Lande der Sonne lebt, nur in der staubigen
Atmosphäre der Bücherstuben atmen kann. Man sollte meinen, daß er sich über
seiner höchst verdienstvollen Goldgräberarbeit nicht die Zeit nehme, in Florenz
über die Straße zu gehen und in den Ufsizien und im Palazzo Pitti nachzu¬
sehen, was Raffael über sich selber sagt.

Indessen haben auch die literarischen Forscher noch genug zu thun, nur
Aufklärungen über dunkle Punkte zu schaffen. Über Raffciels Verhältnis zu
Michelangelo hat Müntz nichts neues beigebracht. Auch heute steht uoch nicht
fest, ob die beiden Männer jemals im Leben in nähere Berührung miteinander
gekommen sind. Über Raffael den Archäologen, den Rninenforscher und Re¬
staurator des modernen Roms hat Müntz trotz seiner Verteidigung des bekannten
Berichtes über die antiken Baudenkmäler Roms zu Gunsten Raffaels als des
vermeintlichen Autors ebenfalls keine zwingende Beweiskraft an den Tag ge¬
legt. Außer Herman Grimm hat, soviel mir bekannt geworden, die Münchner
Handschrift dieses Berichtes niemand so genau untersucht wie ich. (S. die zweite,
von mir besorgte Auflage der Guhlschen Künstlerbriefe.) Aus dem Vergleich
der Münchner, um ein Jahr jüngern Redaktion dieses Berichtes mit der ältern
römischen geht unzweifelhaft hervor, daß sein Verfasser nur ein Philologe sein
kann. Nimmermehr ist anzunehmen, daß, wenn wir auch alle chronologischen
Bedenken von Müntz gelten lassen, ein soviel beschäftigter Maler wie Raffael
die Zeit gehabt haben könne, sich mit so spitzfindigen antiquarischen, historischen


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[0089] Zum Raffael-Jubiläum. Originalen kann nichts endgiltiges erreicht werden, weil die Photographie und die mit ihr im Bündnis stehende Heliogravüre nicht einmal bei Handzeichnungen das Original ersetzen kann, wie man bisher vielfach geglaubt hat. Wir haben kürzlich in Berlin bei der Reproduktion der Handzeichnungen des Sandro Botticelli zu der mit der Hamiltonschen Sammlung erworbenen Dantehandschrift eine aus¬ giebige Erfahrung nach dieser Richtung gemacht. Unter drei verschieden Re- Prvduktionsversuchen durch Holzschnitt, Lithographie und Heliogravüre blieb die letztere den Originalen das meiste schuldig. Wir sind also für die nächste Zukunft allein auf den Scharfsinn von Männern wie Morelli, Springer und Thausing, denen wir nach einem gründlichen Überblick über den gegenwärtigen Stand der Raffaelforschung unbedingt die Superiorität über alle Rivalen vindiziren müssen, angewiesen, um eine gereinigte Biographie des Meisters erwarten zu dürfen. Wir sind dabei weit entfernt, die vorbe¬ reitenden Arbeiten eines Robinson und Ruland, eines Müntz und Milanesi zu unterschätzen. Die beiden ersten haben sich in der kritische» Sichtung des spezifisch künstlerischen Materials sogar große und bleibende Verdienste erworben. Müntz hat eine Menge Urkunden herbeigeschafft; aber er hat in der Bilderkritik und in der Wertschätzung der Dokumente eine bedauerliche Unsicherheit bekundet. Milanesi endlich ist wie von Gott verlassen, sowie er die Nase aus den Fenstern der Bibliotheken und Archive in die freie Natur hinaussteckt. Es ist vollkommen unbegreiflich, daß ein Mann, der im Lande der Sonne lebt, nur in der staubigen Atmosphäre der Bücherstuben atmen kann. Man sollte meinen, daß er sich über seiner höchst verdienstvollen Goldgräberarbeit nicht die Zeit nehme, in Florenz über die Straße zu gehen und in den Ufsizien und im Palazzo Pitti nachzu¬ sehen, was Raffael über sich selber sagt. Indessen haben auch die literarischen Forscher noch genug zu thun, nur Aufklärungen über dunkle Punkte zu schaffen. Über Raffciels Verhältnis zu Michelangelo hat Müntz nichts neues beigebracht. Auch heute steht uoch nicht fest, ob die beiden Männer jemals im Leben in nähere Berührung miteinander gekommen sind. Über Raffael den Archäologen, den Rninenforscher und Re¬ staurator des modernen Roms hat Müntz trotz seiner Verteidigung des bekannten Berichtes über die antiken Baudenkmäler Roms zu Gunsten Raffaels als des vermeintlichen Autors ebenfalls keine zwingende Beweiskraft an den Tag ge¬ legt. Außer Herman Grimm hat, soviel mir bekannt geworden, die Münchner Handschrift dieses Berichtes niemand so genau untersucht wie ich. (S. die zweite, von mir besorgte Auflage der Guhlschen Künstlerbriefe.) Aus dem Vergleich der Münchner, um ein Jahr jüngern Redaktion dieses Berichtes mit der ältern römischen geht unzweifelhaft hervor, daß sein Verfasser nur ein Philologe sein kann. Nimmermehr ist anzunehmen, daß, wenn wir auch alle chronologischen Bedenken von Müntz gelten lassen, ein soviel beschäftigter Maler wie Raffael die Zeit gehabt haben könne, sich mit so spitzfindigen antiquarischen, historischen Gu'iizboten II, 188!;. ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/89>, abgerufen am 03.07.2024.