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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Zum Raffael-Jubiläum.

ahnen wir aber, daß es sich tief in die Phantasie des Künstlers einsenkte.
Denn wir entdecken verwandte Züge in der Magdalena auf dem Cäcilienbilde
und in der sixtinischen Madonna und nehmen mit gutem Grunde an, daß die
Gestalt der "Donna velata" vor seinen Augen schwebte, als er jene beiden
verklärten Frauen schuf." Thausing, welcher sich in ähnlichem Sinne ausspricht,
hebt den Umstand hervor, daß das Bild unvollendet ist, woraus man doch
schließen darf, daß es Raffael für sich und nicht für einen Besteller bestimmt
und demnach nicht weiter ausgeführt hat, als es ihm für seine Stimmung
nötig schien. "Wer sie auch immer gewesen ist, dieses blühende und doch zarte,
von duftiger Blässe angehauchte Mädchen, das munter und schüchtern zugleich
aus der prunkenden Gewandung hernusblickt, als wäre sie derselben ungewohnt,
so kann man sich das Weib wohl vorstellen, das dem Herzen Raffaels nahe ge¬
standen und dessen Erscheinung er zu der Apotheose der sixtinischen Madonna
umgedichtet hat... Das Bildnis verdankt vielleicht irgend einem Maskenscherze
seine Entstehung und dürfte sich unvollendet, wie es ist, im Nachlasse Raffaels
vorgefunden haben." Damit würde dann auch der Ausdruck "Reliquie," den
Vasari vielleicht nicht ohne Absicht mit Bezug auf das Bild im Besitze des
Matteo Botel gebraucht hat, sehr gut Harmoniren. Lermolieff begnügt sich,
soviel ich gesehen habe, mit der kurzen Notiz, daß die "Donna velata" von
Raffael selbst ausgeführt sei.

Die zweimalige Übereinstimmung von hervorragenden und gewissenhaften
Kunstforschern, die sich sonst nicht scheuen, in streitigen Fragen auf einander
loszuschlagen, daß die Stücken fliegen, muß für jeden, der auf die wissenschaft¬
liche Methodik etwas hält, überzeugend sein. Wir haben also als zweiten
positiven Gewinn aus diesen Untersuchungen die Thatsache hervorgehen sehen,
daß die Dame mit dem Schleier eine eigenhändige Arbeit Raffaels ist.
Weiter dürfen wir vor der Hand nicht gehen. Die Annahme, daß die "Donna
velata" uns die von der Sage vollkommen verschleierte Geliebte Raffaels ver¬
gegenwärtigt, ist zwar sehr wahrscheinlich, aber wir haben keine Gründe von
urkundlicher Beweiskraft, welche diese Annahme über allen Zweifel erheben.

Mit der Hervorhebung dieser beiden Punkte sind aber bei weitem noch
nicht alle übrigen erschöpft, über welche wir heute, vierhundert Jahre nach
Raffaels Geburt, noch im unklaren sind. Springer betont zwar Lermolieff
gegenüber, daß wir nach Beseitigung aller dem Raffael zugeschriebenen Gemälde,
auf welchen auch nur der leiseste Schatten eines Zweifels haftet, immer noch
genug Material besäßen, um uns seine Künstlergröße daraus zu konstruiren;
aber eben so sicher hat Lermolieff recht, wenn er sagt, daß von den "dem
Raffael zugeschriebenen Bildern wohl mehr als ein Drittel demselben nicht
angehören." In Bezug auf die ihm zugeschriebenen Porträts dürfte sich das
Verhältnis sogar wie 1:4 oder gar 5 stellen. Gerade die Porträts wurden
von gleichzeitigen und späteren Kopisten mit besonderer Vorliebe wiederholt, so


Zum Raffael-Jubiläum.

ahnen wir aber, daß es sich tief in die Phantasie des Künstlers einsenkte.
Denn wir entdecken verwandte Züge in der Magdalena auf dem Cäcilienbilde
und in der sixtinischen Madonna und nehmen mit gutem Grunde an, daß die
Gestalt der „Donna velata" vor seinen Augen schwebte, als er jene beiden
verklärten Frauen schuf." Thausing, welcher sich in ähnlichem Sinne ausspricht,
hebt den Umstand hervor, daß das Bild unvollendet ist, woraus man doch
schließen darf, daß es Raffael für sich und nicht für einen Besteller bestimmt
und demnach nicht weiter ausgeführt hat, als es ihm für seine Stimmung
nötig schien. „Wer sie auch immer gewesen ist, dieses blühende und doch zarte,
von duftiger Blässe angehauchte Mädchen, das munter und schüchtern zugleich
aus der prunkenden Gewandung hernusblickt, als wäre sie derselben ungewohnt,
so kann man sich das Weib wohl vorstellen, das dem Herzen Raffaels nahe ge¬
standen und dessen Erscheinung er zu der Apotheose der sixtinischen Madonna
umgedichtet hat... Das Bildnis verdankt vielleicht irgend einem Maskenscherze
seine Entstehung und dürfte sich unvollendet, wie es ist, im Nachlasse Raffaels
vorgefunden haben." Damit würde dann auch der Ausdruck „Reliquie," den
Vasari vielleicht nicht ohne Absicht mit Bezug auf das Bild im Besitze des
Matteo Botel gebraucht hat, sehr gut Harmoniren. Lermolieff begnügt sich,
soviel ich gesehen habe, mit der kurzen Notiz, daß die „Donna velata" von
Raffael selbst ausgeführt sei.

Die zweimalige Übereinstimmung von hervorragenden und gewissenhaften
Kunstforschern, die sich sonst nicht scheuen, in streitigen Fragen auf einander
loszuschlagen, daß die Stücken fliegen, muß für jeden, der auf die wissenschaft¬
liche Methodik etwas hält, überzeugend sein. Wir haben also als zweiten
positiven Gewinn aus diesen Untersuchungen die Thatsache hervorgehen sehen,
daß die Dame mit dem Schleier eine eigenhändige Arbeit Raffaels ist.
Weiter dürfen wir vor der Hand nicht gehen. Die Annahme, daß die „Donna
velata" uns die von der Sage vollkommen verschleierte Geliebte Raffaels ver¬
gegenwärtigt, ist zwar sehr wahrscheinlich, aber wir haben keine Gründe von
urkundlicher Beweiskraft, welche diese Annahme über allen Zweifel erheben.

Mit der Hervorhebung dieser beiden Punkte sind aber bei weitem noch
nicht alle übrigen erschöpft, über welche wir heute, vierhundert Jahre nach
Raffaels Geburt, noch im unklaren sind. Springer betont zwar Lermolieff
gegenüber, daß wir nach Beseitigung aller dem Raffael zugeschriebenen Gemälde,
auf welchen auch nur der leiseste Schatten eines Zweifels haftet, immer noch
genug Material besäßen, um uns seine Künstlergröße daraus zu konstruiren;
aber eben so sicher hat Lermolieff recht, wenn er sagt, daß von den „dem
Raffael zugeschriebenen Bildern wohl mehr als ein Drittel demselben nicht
angehören." In Bezug auf die ihm zugeschriebenen Porträts dürfte sich das
Verhältnis sogar wie 1:4 oder gar 5 stellen. Gerade die Porträts wurden
von gleichzeitigen und späteren Kopisten mit besonderer Vorliebe wiederholt, so


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[0087] Zum Raffael-Jubiläum. ahnen wir aber, daß es sich tief in die Phantasie des Künstlers einsenkte. Denn wir entdecken verwandte Züge in der Magdalena auf dem Cäcilienbilde und in der sixtinischen Madonna und nehmen mit gutem Grunde an, daß die Gestalt der „Donna velata" vor seinen Augen schwebte, als er jene beiden verklärten Frauen schuf." Thausing, welcher sich in ähnlichem Sinne ausspricht, hebt den Umstand hervor, daß das Bild unvollendet ist, woraus man doch schließen darf, daß es Raffael für sich und nicht für einen Besteller bestimmt und demnach nicht weiter ausgeführt hat, als es ihm für seine Stimmung nötig schien. „Wer sie auch immer gewesen ist, dieses blühende und doch zarte, von duftiger Blässe angehauchte Mädchen, das munter und schüchtern zugleich aus der prunkenden Gewandung hernusblickt, als wäre sie derselben ungewohnt, so kann man sich das Weib wohl vorstellen, das dem Herzen Raffaels nahe ge¬ standen und dessen Erscheinung er zu der Apotheose der sixtinischen Madonna umgedichtet hat... Das Bildnis verdankt vielleicht irgend einem Maskenscherze seine Entstehung und dürfte sich unvollendet, wie es ist, im Nachlasse Raffaels vorgefunden haben." Damit würde dann auch der Ausdruck „Reliquie," den Vasari vielleicht nicht ohne Absicht mit Bezug auf das Bild im Besitze des Matteo Botel gebraucht hat, sehr gut Harmoniren. Lermolieff begnügt sich, soviel ich gesehen habe, mit der kurzen Notiz, daß die „Donna velata" von Raffael selbst ausgeführt sei. Die zweimalige Übereinstimmung von hervorragenden und gewissenhaften Kunstforschern, die sich sonst nicht scheuen, in streitigen Fragen auf einander loszuschlagen, daß die Stücken fliegen, muß für jeden, der auf die wissenschaft¬ liche Methodik etwas hält, überzeugend sein. Wir haben also als zweiten positiven Gewinn aus diesen Untersuchungen die Thatsache hervorgehen sehen, daß die Dame mit dem Schleier eine eigenhändige Arbeit Raffaels ist. Weiter dürfen wir vor der Hand nicht gehen. Die Annahme, daß die „Donna velata" uns die von der Sage vollkommen verschleierte Geliebte Raffaels ver¬ gegenwärtigt, ist zwar sehr wahrscheinlich, aber wir haben keine Gründe von urkundlicher Beweiskraft, welche diese Annahme über allen Zweifel erheben. Mit der Hervorhebung dieser beiden Punkte sind aber bei weitem noch nicht alle übrigen erschöpft, über welche wir heute, vierhundert Jahre nach Raffaels Geburt, noch im unklaren sind. Springer betont zwar Lermolieff gegenüber, daß wir nach Beseitigung aller dem Raffael zugeschriebenen Gemälde, auf welchen auch nur der leiseste Schatten eines Zweifels haftet, immer noch genug Material besäßen, um uns seine Künstlergröße daraus zu konstruiren; aber eben so sicher hat Lermolieff recht, wenn er sagt, daß von den „dem Raffael zugeschriebenen Bildern wohl mehr als ein Drittel demselben nicht angehören." In Bezug auf die ihm zugeschriebenen Porträts dürfte sich das Verhältnis sogar wie 1:4 oder gar 5 stellen. Gerade die Porträts wurden von gleichzeitigen und späteren Kopisten mit besonderer Vorliebe wiederholt, so

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/87>, abgerufen am 03.07.2024.