Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.Zur Auslegung Kants. selbst, wie sie wirklich ist? Die Empfindung ist doch eine Modifikation unsrer So hat denn Herr Professor Seydel, soviel ich sehen kann, nur in dem Zur Auslegung Kants. selbst, wie sie wirklich ist? Die Empfindung ist doch eine Modifikation unsrer So hat denn Herr Professor Seydel, soviel ich sehen kann, nur in dem <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0669" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/153418"/> <fw type="header" place="top"> Zur Auslegung Kants.</fw><lb/> <p xml:id="ID_2566" prev="#ID_2565"> selbst, wie sie wirklich ist? Die Empfindung ist doch eine Modifikation unsrer<lb/> Vorstellungskraft, hervorgerufen durch die Reizung der Sinnesnerven, aber<lb/> sie ist nicht die Reizung der Sinnesnerven selbst. Der Gegenstand der<lb/> Empfindung ist also nicht die Veränderung in den Siunesnerven, sondern<lb/> dasjenige Objekt, welches in jedem Falle durch die Nervenreizung in meiner<lb/> Vorstellungskraft hervorgerufen wird. Nun können wir auch Schmerzen<lb/> haben ohne Vorstellung eines äußern Objektes, welches sie hervorgerufen<lb/> hat. Aber auch diese fühlen wir nicht unmittelbar in den gereizten Nerven.<lb/> Wenn der Raum dieser Blätter es erlaubte, so würde ich Herrn Pro¬<lb/> fessor Seydel eine Reihe von interessanten Experimenten demonstriren können,<lb/> welche.beweisen, daß wir den Ort, an welchem irgend ein Schmerz in unserm<lb/> Körper erregt wird, nur dadurch genau bestimmen können, daß wir willkürliche<lb/> Muskelbewegungeu in Bezug auf diesen Ort ausführen und daß die Kenntnis<lb/> dieses Ortes für uns umso ungenauer und undeutlicher wird, als der Körper¬<lb/> teil, der die Ursache des Schmerzes ist, dem Einfluß solcher Bewegungen ent¬<lb/> zogen ist. Ja nicht einmal die Form irgend eines tastbaren Gegenstandes können<lb/> wir durch den Eindruck allein erkennen, mit dem er auf unsre Haut einwirkt,<lb/> wenn wir nicht außerdem in den Stand gesetzt sind, willkürliche Tastbewegungen<lb/> ihm entgegen auszuführen. Es ist einer der folgenreichsten Irrtümer der Phy¬<lb/> siologie gewesen, daß sie geglaubt hat, das nächste Objekt der Empfindung sei<lb/> in der gereizten Nervenfaser selbst zu finden, und von ihr aus müsse erst ein<lb/> Schluß auf die Ursache der Reizung, gleich dem Gegenstande der Wahrnehmung,<lb/> gemacht werden. Dadurch ist die Theorie der Sinneswahrnehmung geradezu in<lb/> die Gefahr geraten, der exakten Naturwissenschaft selbst, die doch auf Sinnes¬<lb/> wahrnehmung beruhen muß, die Axt an die Wurzel zu legen, indem sie das<lb/> Dasein äußerer Gegenstände überhaupt für problematisch erklären mußte. Auch<lb/> hier war wieder die oft erwähnte Verwechslung des transcendentalen und des<lb/> empirischen Verstandesgcbrauches Schuld an dem Irrtum, denn es ist richtig,<lb/> daß die Empfindungen in uns siud, »ud ihre Gegenstände müssen auch natür¬<lb/> lich in uns sein, aber nur in unsrer Vorstellungskraft, d. i. im transcendentalen<lb/> Sinne, nicht in unserm Körper oder unsern Nerven, wie der empirische Gebrauch<lb/> der Worte „in uns" behaupten würde.</p><lb/> <p xml:id="ID_2567" next="#ID_2568"> So hat denn Herr Professor Seydel, soviel ich sehen kann, nur in dem<lb/> einen Punkte Recht behalten, den wir aber auch garnicht bestritten haben, daß<lb/> unsre Auslegung der Kritik der reinen Vernunft in den wesentlichen Grundlehren<lb/> des ganzen Systems diametral entgegengesetzt sei der seit hundert Jahren über¬<lb/> lieferten und noch im allgemeinen herrschenden Schulweisheit. Ja wir gehe»<lb/> in unsrer Ketzerei sogar so weit, daß wir behaupten, Kant habe sich in seinem<lb/> Hauptwerke, in der ersten wie in der zweiten Auflage, nicht ein einziges mal<lb/> selbst widersprochen, und alle Vorwürfe, die man ihm in dieser Richtung ge¬<lb/> macht hat, seien lediglich durch das Mißverständnis der Leser und Darsteller</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0669]
Zur Auslegung Kants.
selbst, wie sie wirklich ist? Die Empfindung ist doch eine Modifikation unsrer
Vorstellungskraft, hervorgerufen durch die Reizung der Sinnesnerven, aber
sie ist nicht die Reizung der Sinnesnerven selbst. Der Gegenstand der
Empfindung ist also nicht die Veränderung in den Siunesnerven, sondern
dasjenige Objekt, welches in jedem Falle durch die Nervenreizung in meiner
Vorstellungskraft hervorgerufen wird. Nun können wir auch Schmerzen
haben ohne Vorstellung eines äußern Objektes, welches sie hervorgerufen
hat. Aber auch diese fühlen wir nicht unmittelbar in den gereizten Nerven.
Wenn der Raum dieser Blätter es erlaubte, so würde ich Herrn Pro¬
fessor Seydel eine Reihe von interessanten Experimenten demonstriren können,
welche.beweisen, daß wir den Ort, an welchem irgend ein Schmerz in unserm
Körper erregt wird, nur dadurch genau bestimmen können, daß wir willkürliche
Muskelbewegungeu in Bezug auf diesen Ort ausführen und daß die Kenntnis
dieses Ortes für uns umso ungenauer und undeutlicher wird, als der Körper¬
teil, der die Ursache des Schmerzes ist, dem Einfluß solcher Bewegungen ent¬
zogen ist. Ja nicht einmal die Form irgend eines tastbaren Gegenstandes können
wir durch den Eindruck allein erkennen, mit dem er auf unsre Haut einwirkt,
wenn wir nicht außerdem in den Stand gesetzt sind, willkürliche Tastbewegungen
ihm entgegen auszuführen. Es ist einer der folgenreichsten Irrtümer der Phy¬
siologie gewesen, daß sie geglaubt hat, das nächste Objekt der Empfindung sei
in der gereizten Nervenfaser selbst zu finden, und von ihr aus müsse erst ein
Schluß auf die Ursache der Reizung, gleich dem Gegenstande der Wahrnehmung,
gemacht werden. Dadurch ist die Theorie der Sinneswahrnehmung geradezu in
die Gefahr geraten, der exakten Naturwissenschaft selbst, die doch auf Sinnes¬
wahrnehmung beruhen muß, die Axt an die Wurzel zu legen, indem sie das
Dasein äußerer Gegenstände überhaupt für problematisch erklären mußte. Auch
hier war wieder die oft erwähnte Verwechslung des transcendentalen und des
empirischen Verstandesgcbrauches Schuld an dem Irrtum, denn es ist richtig,
daß die Empfindungen in uns siud, »ud ihre Gegenstände müssen auch natür¬
lich in uns sein, aber nur in unsrer Vorstellungskraft, d. i. im transcendentalen
Sinne, nicht in unserm Körper oder unsern Nerven, wie der empirische Gebrauch
der Worte „in uns" behaupten würde.
So hat denn Herr Professor Seydel, soviel ich sehen kann, nur in dem
einen Punkte Recht behalten, den wir aber auch garnicht bestritten haben, daß
unsre Auslegung der Kritik der reinen Vernunft in den wesentlichen Grundlehren
des ganzen Systems diametral entgegengesetzt sei der seit hundert Jahren über¬
lieferten und noch im allgemeinen herrschenden Schulweisheit. Ja wir gehe»
in unsrer Ketzerei sogar so weit, daß wir behaupten, Kant habe sich in seinem
Hauptwerke, in der ersten wie in der zweiten Auflage, nicht ein einziges mal
selbst widersprochen, und alle Vorwürfe, die man ihm in dieser Richtung ge¬
macht hat, seien lediglich durch das Mißverständnis der Leser und Darsteller
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