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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Zur Auslegung Kants,

Bedingungen der Wahrnehmung und Erfahrung überhaupt. Denn nichts
kann uns erscheinen, das sich nicht den Bedingungen der Wahrnehmung unter¬
würfe. Also ist im menschlichen Geiste wie das Gesetz für alle Erfahrung so
auch für alle Naturerscheinungen begründet, und der Verstand entnimmt die
Gesetze der Natur nicht aus der Abstraktion von außer" Dingen an sich,
sondern aus der Erkenntnis seines eignen Wesens. Er nimmt die Gesetze nicht
aus der Natur, sondern er schreibt sie ihr selbst vor. Das ist die zweite
kopernikanische Umkehr unsers Standpunktes gegenüber der Welt, durch welche
die Würde des Menschengeistes wieder hergestellt wird, wenn das Menschen¬
geschlecht nicht bereits zu klein geworden ist, um sie zu begreifen.

Zum Schluß komme ich uoch auf die physiologischen Bemerkungen des
Herrn Professor Sehdel aus dem Gebiete der Sinneswahrnehmungen, wo er
natürlich in voller Übereinstimmung mit der hundertjährigen Kantausleguug
und auch mit den physiologischen Autoritäten unsrer Tage behauptet, daß
Kants Lehre wenigstens in Bezug auf das Material der Empfindung schwerlich
der Konsequenz des subjektiven Idealismus entgehen könne, denn das heißt doch das¬
selbe wie der "individuelle Subjektivismus." Wenn man die großen Anstrengungen
bedenkt, die Kant selber gemacht hat, um diesen Vorwurf zu entkräften, ohne daß
von einem Erfolge in dieser Richtung die Rede sein kann, so darf es auch uns
nicht Wunder nehmen, daß auch meine Bemühungen, die seit etwa zehn Jahren
wesentlich auf diesen Punkt gerichtet sind, bisher keinen Anklang gefunden haben.
Wie der Weg zu finden ist, die Kantischen Prinzipien der Erkenntnistheorie
mit den Anforderungen der strengsten empirischen Realität in Einklang zu
bringen, das habe ich in einer ganzen Reihe von Arbeiten über physiologische
Optik gezeigt. Aber verstanden haben es wenige, und zu diesen wenigen ge¬
hört Krause, so wie ich mich rühme, zu den wenigen zu gehören, die ihn ver¬
standen und benutzt habe". Darum eben bringt Krause, obwohl Theologe von
Fach, zur Verwunderung Seydels so viel Beispiele vom Sehe". Es gelten
aber dieselben Prinzipien durchaus von allen Sinnen. Gegeben wird uns durch
die Reizung der Nerven eine Erscheinung, sei es von Licht, Ton, Geschmack,
Geruch oder Wärme, Härte, Weiche und den Qualitäten des Tastsinnes. Er¬
faßt wird sie sofort als Gegenstand, der irgendwo im Raume existirt, durch die
Form der Gegenständlichkeit (transcendentalen Gegenstand), die in unsrer Vor¬
stellungskraft liegt. An welcher Stelle des Raums der Gegenstand wirklich liegt,
das zu bestimmen ist Sache unsrer Verstaudesfuuktioueu. Dazu ist uns unsre körper-
liche Organisation noch behilflich durch das Mittel der Muskelkontraktion und Be¬
wegung. Allerdings bemerkt Seydel ganz richtig, daß man Schmerz empfindet,
wenn man mit der Stirn gegen eine Wand stößt, und dieser Schmerz ist nicht
die Wand. Aber warum muß man denn gleich so heftig gegen die Wand stoßen,
daß es weh thut? Man kann ja auch ohne Schmerz die Wand betasten. Und
tastet man dann etwa die Reizung der Nerven in der Haut, oder die Wand


Zur Auslegung Kants,

Bedingungen der Wahrnehmung und Erfahrung überhaupt. Denn nichts
kann uns erscheinen, das sich nicht den Bedingungen der Wahrnehmung unter¬
würfe. Also ist im menschlichen Geiste wie das Gesetz für alle Erfahrung so
auch für alle Naturerscheinungen begründet, und der Verstand entnimmt die
Gesetze der Natur nicht aus der Abstraktion von außer» Dingen an sich,
sondern aus der Erkenntnis seines eignen Wesens. Er nimmt die Gesetze nicht
aus der Natur, sondern er schreibt sie ihr selbst vor. Das ist die zweite
kopernikanische Umkehr unsers Standpunktes gegenüber der Welt, durch welche
die Würde des Menschengeistes wieder hergestellt wird, wenn das Menschen¬
geschlecht nicht bereits zu klein geworden ist, um sie zu begreifen.

Zum Schluß komme ich uoch auf die physiologischen Bemerkungen des
Herrn Professor Sehdel aus dem Gebiete der Sinneswahrnehmungen, wo er
natürlich in voller Übereinstimmung mit der hundertjährigen Kantausleguug
und auch mit den physiologischen Autoritäten unsrer Tage behauptet, daß
Kants Lehre wenigstens in Bezug auf das Material der Empfindung schwerlich
der Konsequenz des subjektiven Idealismus entgehen könne, denn das heißt doch das¬
selbe wie der „individuelle Subjektivismus." Wenn man die großen Anstrengungen
bedenkt, die Kant selber gemacht hat, um diesen Vorwurf zu entkräften, ohne daß
von einem Erfolge in dieser Richtung die Rede sein kann, so darf es auch uns
nicht Wunder nehmen, daß auch meine Bemühungen, die seit etwa zehn Jahren
wesentlich auf diesen Punkt gerichtet sind, bisher keinen Anklang gefunden haben.
Wie der Weg zu finden ist, die Kantischen Prinzipien der Erkenntnistheorie
mit den Anforderungen der strengsten empirischen Realität in Einklang zu
bringen, das habe ich in einer ganzen Reihe von Arbeiten über physiologische
Optik gezeigt. Aber verstanden haben es wenige, und zu diesen wenigen ge¬
hört Krause, so wie ich mich rühme, zu den wenigen zu gehören, die ihn ver¬
standen und benutzt habe». Darum eben bringt Krause, obwohl Theologe von
Fach, zur Verwunderung Seydels so viel Beispiele vom Sehe». Es gelten
aber dieselben Prinzipien durchaus von allen Sinnen. Gegeben wird uns durch
die Reizung der Nerven eine Erscheinung, sei es von Licht, Ton, Geschmack,
Geruch oder Wärme, Härte, Weiche und den Qualitäten des Tastsinnes. Er¬
faßt wird sie sofort als Gegenstand, der irgendwo im Raume existirt, durch die
Form der Gegenständlichkeit (transcendentalen Gegenstand), die in unsrer Vor¬
stellungskraft liegt. An welcher Stelle des Raums der Gegenstand wirklich liegt,
das zu bestimmen ist Sache unsrer Verstaudesfuuktioueu. Dazu ist uns unsre körper-
liche Organisation noch behilflich durch das Mittel der Muskelkontraktion und Be¬
wegung. Allerdings bemerkt Seydel ganz richtig, daß man Schmerz empfindet,
wenn man mit der Stirn gegen eine Wand stößt, und dieser Schmerz ist nicht
die Wand. Aber warum muß man denn gleich so heftig gegen die Wand stoßen,
daß es weh thut? Man kann ja auch ohne Schmerz die Wand betasten. Und
tastet man dann etwa die Reizung der Nerven in der Haut, oder die Wand


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[0668] Zur Auslegung Kants, Bedingungen der Wahrnehmung und Erfahrung überhaupt. Denn nichts kann uns erscheinen, das sich nicht den Bedingungen der Wahrnehmung unter¬ würfe. Also ist im menschlichen Geiste wie das Gesetz für alle Erfahrung so auch für alle Naturerscheinungen begründet, und der Verstand entnimmt die Gesetze der Natur nicht aus der Abstraktion von außer» Dingen an sich, sondern aus der Erkenntnis seines eignen Wesens. Er nimmt die Gesetze nicht aus der Natur, sondern er schreibt sie ihr selbst vor. Das ist die zweite kopernikanische Umkehr unsers Standpunktes gegenüber der Welt, durch welche die Würde des Menschengeistes wieder hergestellt wird, wenn das Menschen¬ geschlecht nicht bereits zu klein geworden ist, um sie zu begreifen. Zum Schluß komme ich uoch auf die physiologischen Bemerkungen des Herrn Professor Sehdel aus dem Gebiete der Sinneswahrnehmungen, wo er natürlich in voller Übereinstimmung mit der hundertjährigen Kantausleguug und auch mit den physiologischen Autoritäten unsrer Tage behauptet, daß Kants Lehre wenigstens in Bezug auf das Material der Empfindung schwerlich der Konsequenz des subjektiven Idealismus entgehen könne, denn das heißt doch das¬ selbe wie der „individuelle Subjektivismus." Wenn man die großen Anstrengungen bedenkt, die Kant selber gemacht hat, um diesen Vorwurf zu entkräften, ohne daß von einem Erfolge in dieser Richtung die Rede sein kann, so darf es auch uns nicht Wunder nehmen, daß auch meine Bemühungen, die seit etwa zehn Jahren wesentlich auf diesen Punkt gerichtet sind, bisher keinen Anklang gefunden haben. Wie der Weg zu finden ist, die Kantischen Prinzipien der Erkenntnistheorie mit den Anforderungen der strengsten empirischen Realität in Einklang zu bringen, das habe ich in einer ganzen Reihe von Arbeiten über physiologische Optik gezeigt. Aber verstanden haben es wenige, und zu diesen wenigen ge¬ hört Krause, so wie ich mich rühme, zu den wenigen zu gehören, die ihn ver¬ standen und benutzt habe». Darum eben bringt Krause, obwohl Theologe von Fach, zur Verwunderung Seydels so viel Beispiele vom Sehe». Es gelten aber dieselben Prinzipien durchaus von allen Sinnen. Gegeben wird uns durch die Reizung der Nerven eine Erscheinung, sei es von Licht, Ton, Geschmack, Geruch oder Wärme, Härte, Weiche und den Qualitäten des Tastsinnes. Er¬ faßt wird sie sofort als Gegenstand, der irgendwo im Raume existirt, durch die Form der Gegenständlichkeit (transcendentalen Gegenstand), die in unsrer Vor¬ stellungskraft liegt. An welcher Stelle des Raums der Gegenstand wirklich liegt, das zu bestimmen ist Sache unsrer Verstaudesfuuktioueu. Dazu ist uns unsre körper- liche Organisation noch behilflich durch das Mittel der Muskelkontraktion und Be¬ wegung. Allerdings bemerkt Seydel ganz richtig, daß man Schmerz empfindet, wenn man mit der Stirn gegen eine Wand stößt, und dieser Schmerz ist nicht die Wand. Aber warum muß man denn gleich so heftig gegen die Wand stoßen, daß es weh thut? Man kann ja auch ohne Schmerz die Wand betasten. Und tastet man dann etwa die Reizung der Nerven in der Haut, oder die Wand

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/668>, abgerufen am 03.07.2024.