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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Zur Auslegung Kants.

blieb, wenn wir nicht einmal mehr, so wie Leibnitz gelehrt hatte, die sinnliche
Wahrnehmung als eine niedre und verworrene Art der Erkenntnis betrachten
und dnrch Spekulation in das Innere der Natur zur Erkenntnis der Dinge
an sich weiter vorzudringen hoffen durften? Die angeblichen Naturgesetze, die
Kant aus der Natur unsers Erkenntnisvermögens abgeleitet hatte, galten ja
nur für die täuschende Welt der Sinneswahrnehmungen, nicht für die reale
Wirklichkeit des Reiches der Dinge an sich, die dahintersteckte. Wenn Kant ge¬
zeigt hatte, daß die Wahrheit in der Wissenschaft niemals dnrch Induktion
allein gewonnen werden könne, sondern daß alle Gesetze der Natur durch die
Übereinstimmung mit den Prinzipien unsers Verstandes bewiesen würden, so
war mau davon niemals überzeugt, weil man hörte, daß die Funktionen des
Verstandes nur auf Erscheinungen anwendbar sein sollten, und Erscheinung mit
Schein verwechselte. Die Naturwissenschaft wollte nichts mit Kant zu thun
haben; mau erhob geflissentlich die Empirie und die induktive Methode zur
Würde der einzig leitenden Theorie, und man fälschte, weil man sich anderweitig
nicht zu helfen wußte, den Begriff der Wahrheit in den der möglichst großen
Wahrscheinlichkeit.

Daß dabei der Standpunkt des Menschengeistes gegenüber der Natur un¬
verändert derselbe bleiben mußte, ist selbstverständlich. Seit Kopernikus erkannt
hatte, daß die Erde nicht der Mittelpunkt der Welt, sondern nur ein kleiner
Körper unter unendlich vielen andern und größeren sei, war der anthropo¬
zentrische Standpunkt in der Welt auch für den Menschen verloren gegangen.
Unsre Koryphäen der Naturwissenschaft werden auch heutzutage nicht müde,
selbst als Reiseprediger die Gesellschaft darüber aufzuklären, daß die Erde im
Weltall unendlich wenig bedeute, daß der menschliche Geist voller Einbildungen
über seine eigne Wichtigkeit sei, und daß doch alles einmal entweder erfroren
oder zu Schlacken verbrannt, in Atome aufgelöst durch den öden Weltraum
auseinander stieben müsse. Der einzige Trost, den sie dem Gemüte noch
gönnen, ist der, daß es wahrscheinlich noch recht lange bis zum letzten Ende
dauern werde. Diesen Anschauungen gegenüber ist der Wechsel, den Kant
unserm Standpunkt gegeben hat, wenn man ihn nur verstehen wollte, der
großartigste, den man sich denken kann. Die Dinge in der Natur lehrt er uns
betrachten nicht als Dinge an sich, von denen wir nichts wissen könnten,
sondern als Erscheinungen in und durch unsre Vorstellungskraft. Aber gerade
umgekehrt, wie man gewöhnlich dies Wort gedeutet hat, ist das eben der Grund
dafür, daß wir die reale Wirklichkeit der Gegenstände in der Natur nach allen
ihren Verhältnissen vollständig bis auf den letzten Rest durchschauen können.
Es liegt nur an uns, ob wir es wollen. Denn Erscheinungen sind abhängig
vom Subjekt, dem sie erscheinen, und ihre Art und Beschaffenheit, ihre Ver¬
hältnisse und Wirklichkeit müssen erklärt werden durch die Bedingungen im
Subjekt, unter denen die Erscheinungen zu Stande kommen; das sind die


Zur Auslegung Kants.

blieb, wenn wir nicht einmal mehr, so wie Leibnitz gelehrt hatte, die sinnliche
Wahrnehmung als eine niedre und verworrene Art der Erkenntnis betrachten
und dnrch Spekulation in das Innere der Natur zur Erkenntnis der Dinge
an sich weiter vorzudringen hoffen durften? Die angeblichen Naturgesetze, die
Kant aus der Natur unsers Erkenntnisvermögens abgeleitet hatte, galten ja
nur für die täuschende Welt der Sinneswahrnehmungen, nicht für die reale
Wirklichkeit des Reiches der Dinge an sich, die dahintersteckte. Wenn Kant ge¬
zeigt hatte, daß die Wahrheit in der Wissenschaft niemals dnrch Induktion
allein gewonnen werden könne, sondern daß alle Gesetze der Natur durch die
Übereinstimmung mit den Prinzipien unsers Verstandes bewiesen würden, so
war mau davon niemals überzeugt, weil man hörte, daß die Funktionen des
Verstandes nur auf Erscheinungen anwendbar sein sollten, und Erscheinung mit
Schein verwechselte. Die Naturwissenschaft wollte nichts mit Kant zu thun
haben; mau erhob geflissentlich die Empirie und die induktive Methode zur
Würde der einzig leitenden Theorie, und man fälschte, weil man sich anderweitig
nicht zu helfen wußte, den Begriff der Wahrheit in den der möglichst großen
Wahrscheinlichkeit.

Daß dabei der Standpunkt des Menschengeistes gegenüber der Natur un¬
verändert derselbe bleiben mußte, ist selbstverständlich. Seit Kopernikus erkannt
hatte, daß die Erde nicht der Mittelpunkt der Welt, sondern nur ein kleiner
Körper unter unendlich vielen andern und größeren sei, war der anthropo¬
zentrische Standpunkt in der Welt auch für den Menschen verloren gegangen.
Unsre Koryphäen der Naturwissenschaft werden auch heutzutage nicht müde,
selbst als Reiseprediger die Gesellschaft darüber aufzuklären, daß die Erde im
Weltall unendlich wenig bedeute, daß der menschliche Geist voller Einbildungen
über seine eigne Wichtigkeit sei, und daß doch alles einmal entweder erfroren
oder zu Schlacken verbrannt, in Atome aufgelöst durch den öden Weltraum
auseinander stieben müsse. Der einzige Trost, den sie dem Gemüte noch
gönnen, ist der, daß es wahrscheinlich noch recht lange bis zum letzten Ende
dauern werde. Diesen Anschauungen gegenüber ist der Wechsel, den Kant
unserm Standpunkt gegeben hat, wenn man ihn nur verstehen wollte, der
großartigste, den man sich denken kann. Die Dinge in der Natur lehrt er uns
betrachten nicht als Dinge an sich, von denen wir nichts wissen könnten,
sondern als Erscheinungen in und durch unsre Vorstellungskraft. Aber gerade
umgekehrt, wie man gewöhnlich dies Wort gedeutet hat, ist das eben der Grund
dafür, daß wir die reale Wirklichkeit der Gegenstände in der Natur nach allen
ihren Verhältnissen vollständig bis auf den letzten Rest durchschauen können.
Es liegt nur an uns, ob wir es wollen. Denn Erscheinungen sind abhängig
vom Subjekt, dem sie erscheinen, und ihre Art und Beschaffenheit, ihre Ver¬
hältnisse und Wirklichkeit müssen erklärt werden durch die Bedingungen im
Subjekt, unter denen die Erscheinungen zu Stande kommen; das sind die


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[0667] Zur Auslegung Kants. blieb, wenn wir nicht einmal mehr, so wie Leibnitz gelehrt hatte, die sinnliche Wahrnehmung als eine niedre und verworrene Art der Erkenntnis betrachten und dnrch Spekulation in das Innere der Natur zur Erkenntnis der Dinge an sich weiter vorzudringen hoffen durften? Die angeblichen Naturgesetze, die Kant aus der Natur unsers Erkenntnisvermögens abgeleitet hatte, galten ja nur für die täuschende Welt der Sinneswahrnehmungen, nicht für die reale Wirklichkeit des Reiches der Dinge an sich, die dahintersteckte. Wenn Kant ge¬ zeigt hatte, daß die Wahrheit in der Wissenschaft niemals dnrch Induktion allein gewonnen werden könne, sondern daß alle Gesetze der Natur durch die Übereinstimmung mit den Prinzipien unsers Verstandes bewiesen würden, so war mau davon niemals überzeugt, weil man hörte, daß die Funktionen des Verstandes nur auf Erscheinungen anwendbar sein sollten, und Erscheinung mit Schein verwechselte. Die Naturwissenschaft wollte nichts mit Kant zu thun haben; mau erhob geflissentlich die Empirie und die induktive Methode zur Würde der einzig leitenden Theorie, und man fälschte, weil man sich anderweitig nicht zu helfen wußte, den Begriff der Wahrheit in den der möglichst großen Wahrscheinlichkeit. Daß dabei der Standpunkt des Menschengeistes gegenüber der Natur un¬ verändert derselbe bleiben mußte, ist selbstverständlich. Seit Kopernikus erkannt hatte, daß die Erde nicht der Mittelpunkt der Welt, sondern nur ein kleiner Körper unter unendlich vielen andern und größeren sei, war der anthropo¬ zentrische Standpunkt in der Welt auch für den Menschen verloren gegangen. Unsre Koryphäen der Naturwissenschaft werden auch heutzutage nicht müde, selbst als Reiseprediger die Gesellschaft darüber aufzuklären, daß die Erde im Weltall unendlich wenig bedeute, daß der menschliche Geist voller Einbildungen über seine eigne Wichtigkeit sei, und daß doch alles einmal entweder erfroren oder zu Schlacken verbrannt, in Atome aufgelöst durch den öden Weltraum auseinander stieben müsse. Der einzige Trost, den sie dem Gemüte noch gönnen, ist der, daß es wahrscheinlich noch recht lange bis zum letzten Ende dauern werde. Diesen Anschauungen gegenüber ist der Wechsel, den Kant unserm Standpunkt gegeben hat, wenn man ihn nur verstehen wollte, der großartigste, den man sich denken kann. Die Dinge in der Natur lehrt er uns betrachten nicht als Dinge an sich, von denen wir nichts wissen könnten, sondern als Erscheinungen in und durch unsre Vorstellungskraft. Aber gerade umgekehrt, wie man gewöhnlich dies Wort gedeutet hat, ist das eben der Grund dafür, daß wir die reale Wirklichkeit der Gegenstände in der Natur nach allen ihren Verhältnissen vollständig bis auf den letzten Rest durchschauen können. Es liegt nur an uns, ob wir es wollen. Denn Erscheinungen sind abhängig vom Subjekt, dem sie erscheinen, und ihre Art und Beschaffenheit, ihre Ver¬ hältnisse und Wirklichkeit müssen erklärt werden durch die Bedingungen im Subjekt, unter denen die Erscheinungen zu Stande kommen; das sind die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/667>, abgerufen am 01.10.2024.