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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Zur Auslegung Kants.

baren Wege versperrt hat. Herr Professor Seydel sagt, erfüllt von dem ganzen
Jahrhunderte alten Respekt vor dem Ding an sich, welchen die gelehrte Welt
ihm bisher gezollt hat: "Ins Jnn're der Natur dringt kein erschaffner Geist,"
und wir wollen ihm nicht das häßliche Wort zurufen, welches Goethe Albrecht
von Haller und allen, die ihm in diesem Satze beistimmen, widmete, und welches
sich auf Geschwister reimt, denn wir sind ihm zu vielem Dank verpflichtet.
Aber wir wollen ihn doch auf folgende Stelle aus Kants Amphibolie der Re¬
flexionsbegriffe aufmerksam machen (S. 227 der Ausg. von Rosenkranz): "Wenn
die Klagen: wir sehen das Innere der Dinge gar nicht ein, so viel bedeuten
sollen, als wir begreifen nicht durch den reinen Verstand, was die Dinge, die
uns erscheinen, an sich sein mögen, so sind sie ganz unbillig und unvernünftig;
denn sie wollen, daß man ohne Sinnen doch Dinge erkennen, mithin anschauen
könne, folglich daß wir ein von dem menschlichen nicht bloß dem Grade, sondern
sogar der Anschauung und Art nach gänzlich unterschiednes Erkenntnisvermögen
haben, also nicht Menschen, sondern Wesen sein sollen, von denen wir selbst nicht
angeben können, ob sie einmal möglich, viel weniger wie sie beschaffen seien.
Ins Innere der Natur dringt Beobachtung und Zergliederung der Erscheinungen,
und man kann nicht wissen, wie weit dies mit der Zeit gehen werde." Also
diejenigen, die ein Dasein, eine Existenz und sogar das Ursachesein für die Er¬
scheinung im Dinge an sich finden wollen, Hypostasiren etwas in Gedanken, von
dessen Möglichkeit sie nicht einmal reden können.

In der Tiefe unsers Gemütes lebt das Streben, alle sinnliche Erscheinung
an einen Gegenstand zu heften. Wir sehen nicht hell oder rot oder grün, sondern
etwas Helles, Rotes oder Grünes; wir fühlen nicht hart, sondern etwas Hartes
u. s. w. Das hätte Seydel bereits aus Helmholtzens physiologischer Optik lernen
können, ehe er schrieb, daß wir niemals Gegenstände sehen, sondern nur farbige
Flecke, als ob Flecke keine Gegenstände wären. In uns liegt g. priori die Nöti¬
gung, der wir uns niemals entziehen können, überall Gegenstände außer uns zu
sehen und wahrzunehmen. Die Gestalt und den Ort des Gegenstandes im Raum
und seine sonstigen Eigenschaften zu bestimmen, ist Sache der Funktionen unsers
Verstandes. Aber diese Nötigung in unserm Erkenntnisvermögen, überall Gegen¬
stände vorauszusetzen, auch bevor wir noch entschieden haben, ob die Erscheinung
so oder so zu bestimmen sei, nennt Kant den Gedanken vom Gegenstand überhaupt,
den transcendentalen Gegenstand, die Form der Gegenständlichkeit überhaupt.
Diese Form, der transcendentale Gegenstand, befähigt uns allein, Einheit in das
Mannichfaltige unsrer sinnlichen Anschauung zu bringen. Insofern ist es ein
unentbehrliches Element in unsrer Vorstellungskraft, ohne das wir gar keine Er¬
fahrung machen könnten; andrerseits werden wir durch dieses selbe Element wieder
getrieben, hinter der Erscheinung Dinge an sich zu Hypostasiren und damit wieder
in alle die dogmatischen Irrtümer der Leibnitzschen Philosophie zu verfallen, die
Kant beseitigt haben wollte und die bis auf den heutigen Tag bei seinen Auslegern
sich erhalten haben.


Zur Auslegung Kants.

baren Wege versperrt hat. Herr Professor Seydel sagt, erfüllt von dem ganzen
Jahrhunderte alten Respekt vor dem Ding an sich, welchen die gelehrte Welt
ihm bisher gezollt hat: „Ins Jnn're der Natur dringt kein erschaffner Geist,"
und wir wollen ihm nicht das häßliche Wort zurufen, welches Goethe Albrecht
von Haller und allen, die ihm in diesem Satze beistimmen, widmete, und welches
sich auf Geschwister reimt, denn wir sind ihm zu vielem Dank verpflichtet.
Aber wir wollen ihn doch auf folgende Stelle aus Kants Amphibolie der Re¬
flexionsbegriffe aufmerksam machen (S. 227 der Ausg. von Rosenkranz): „Wenn
die Klagen: wir sehen das Innere der Dinge gar nicht ein, so viel bedeuten
sollen, als wir begreifen nicht durch den reinen Verstand, was die Dinge, die
uns erscheinen, an sich sein mögen, so sind sie ganz unbillig und unvernünftig;
denn sie wollen, daß man ohne Sinnen doch Dinge erkennen, mithin anschauen
könne, folglich daß wir ein von dem menschlichen nicht bloß dem Grade, sondern
sogar der Anschauung und Art nach gänzlich unterschiednes Erkenntnisvermögen
haben, also nicht Menschen, sondern Wesen sein sollen, von denen wir selbst nicht
angeben können, ob sie einmal möglich, viel weniger wie sie beschaffen seien.
Ins Innere der Natur dringt Beobachtung und Zergliederung der Erscheinungen,
und man kann nicht wissen, wie weit dies mit der Zeit gehen werde." Also
diejenigen, die ein Dasein, eine Existenz und sogar das Ursachesein für die Er¬
scheinung im Dinge an sich finden wollen, Hypostasiren etwas in Gedanken, von
dessen Möglichkeit sie nicht einmal reden können.

In der Tiefe unsers Gemütes lebt das Streben, alle sinnliche Erscheinung
an einen Gegenstand zu heften. Wir sehen nicht hell oder rot oder grün, sondern
etwas Helles, Rotes oder Grünes; wir fühlen nicht hart, sondern etwas Hartes
u. s. w. Das hätte Seydel bereits aus Helmholtzens physiologischer Optik lernen
können, ehe er schrieb, daß wir niemals Gegenstände sehen, sondern nur farbige
Flecke, als ob Flecke keine Gegenstände wären. In uns liegt g. priori die Nöti¬
gung, der wir uns niemals entziehen können, überall Gegenstände außer uns zu
sehen und wahrzunehmen. Die Gestalt und den Ort des Gegenstandes im Raum
und seine sonstigen Eigenschaften zu bestimmen, ist Sache der Funktionen unsers
Verstandes. Aber diese Nötigung in unserm Erkenntnisvermögen, überall Gegen¬
stände vorauszusetzen, auch bevor wir noch entschieden haben, ob die Erscheinung
so oder so zu bestimmen sei, nennt Kant den Gedanken vom Gegenstand überhaupt,
den transcendentalen Gegenstand, die Form der Gegenständlichkeit überhaupt.
Diese Form, der transcendentale Gegenstand, befähigt uns allein, Einheit in das
Mannichfaltige unsrer sinnlichen Anschauung zu bringen. Insofern ist es ein
unentbehrliches Element in unsrer Vorstellungskraft, ohne das wir gar keine Er¬
fahrung machen könnten; andrerseits werden wir durch dieses selbe Element wieder
getrieben, hinter der Erscheinung Dinge an sich zu Hypostasiren und damit wieder
in alle die dogmatischen Irrtümer der Leibnitzschen Philosophie zu verfallen, die
Kant beseitigt haben wollte und die bis auf den heutigen Tag bei seinen Auslegern
sich erhalten haben.


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[0664] Zur Auslegung Kants. baren Wege versperrt hat. Herr Professor Seydel sagt, erfüllt von dem ganzen Jahrhunderte alten Respekt vor dem Ding an sich, welchen die gelehrte Welt ihm bisher gezollt hat: „Ins Jnn're der Natur dringt kein erschaffner Geist," und wir wollen ihm nicht das häßliche Wort zurufen, welches Goethe Albrecht von Haller und allen, die ihm in diesem Satze beistimmen, widmete, und welches sich auf Geschwister reimt, denn wir sind ihm zu vielem Dank verpflichtet. Aber wir wollen ihn doch auf folgende Stelle aus Kants Amphibolie der Re¬ flexionsbegriffe aufmerksam machen (S. 227 der Ausg. von Rosenkranz): „Wenn die Klagen: wir sehen das Innere der Dinge gar nicht ein, so viel bedeuten sollen, als wir begreifen nicht durch den reinen Verstand, was die Dinge, die uns erscheinen, an sich sein mögen, so sind sie ganz unbillig und unvernünftig; denn sie wollen, daß man ohne Sinnen doch Dinge erkennen, mithin anschauen könne, folglich daß wir ein von dem menschlichen nicht bloß dem Grade, sondern sogar der Anschauung und Art nach gänzlich unterschiednes Erkenntnisvermögen haben, also nicht Menschen, sondern Wesen sein sollen, von denen wir selbst nicht angeben können, ob sie einmal möglich, viel weniger wie sie beschaffen seien. Ins Innere der Natur dringt Beobachtung und Zergliederung der Erscheinungen, und man kann nicht wissen, wie weit dies mit der Zeit gehen werde." Also diejenigen, die ein Dasein, eine Existenz und sogar das Ursachesein für die Er¬ scheinung im Dinge an sich finden wollen, Hypostasiren etwas in Gedanken, von dessen Möglichkeit sie nicht einmal reden können. In der Tiefe unsers Gemütes lebt das Streben, alle sinnliche Erscheinung an einen Gegenstand zu heften. Wir sehen nicht hell oder rot oder grün, sondern etwas Helles, Rotes oder Grünes; wir fühlen nicht hart, sondern etwas Hartes u. s. w. Das hätte Seydel bereits aus Helmholtzens physiologischer Optik lernen können, ehe er schrieb, daß wir niemals Gegenstände sehen, sondern nur farbige Flecke, als ob Flecke keine Gegenstände wären. In uns liegt g. priori die Nöti¬ gung, der wir uns niemals entziehen können, überall Gegenstände außer uns zu sehen und wahrzunehmen. Die Gestalt und den Ort des Gegenstandes im Raum und seine sonstigen Eigenschaften zu bestimmen, ist Sache der Funktionen unsers Verstandes. Aber diese Nötigung in unserm Erkenntnisvermögen, überall Gegen¬ stände vorauszusetzen, auch bevor wir noch entschieden haben, ob die Erscheinung so oder so zu bestimmen sei, nennt Kant den Gedanken vom Gegenstand überhaupt, den transcendentalen Gegenstand, die Form der Gegenständlichkeit überhaupt. Diese Form, der transcendentale Gegenstand, befähigt uns allein, Einheit in das Mannichfaltige unsrer sinnlichen Anschauung zu bringen. Insofern ist es ein unentbehrliches Element in unsrer Vorstellungskraft, ohne das wir gar keine Er¬ fahrung machen könnten; andrerseits werden wir durch dieses selbe Element wieder getrieben, hinter der Erscheinung Dinge an sich zu Hypostasiren und damit wieder in alle die dogmatischen Irrtümer der Leibnitzschen Philosophie zu verfallen, die Kant beseitigt haben wollte und die bis auf den heutigen Tag bei seinen Auslegern sich erhalten haben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/664>, abgerufen am 03.07.2024.