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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Zur Auslegung Kants.

im Raum, die Seele aber nicht; und nach der Lvtzeschen Auffassung würde sogar
Herr von Kirchmann Recht haben mit seiner Widerlegung Kants, nach dessen
Lehre die ganze Welt in einem Punkte sei, was allerdings absurd erscheint.

Aber was ist nicht alles an Absurdität in der Kantauslegnng geleistet worden!
Hat mau doch auch versucht, zu behaupten, daß die ganze Welt, die wir sehen,
mit Sonne, Mond und Sternen, eigentlich in unsrer Netzhaut im Auge wäre,
einfach in Folge derselben Verwechslung der Worte in uns im transcendentalen
und im empirischen Sinne.

Um die Absicht Kants, wie er die Bedeutung des Raums für unsre An¬
schauung und Vorstellung gefaßt haben wollte, noch einmal in ein möglichst
klares Licht zu setzen, will ich einige Stellen aus seinem nachgelassenen Manuskript
anführen, welches bis zum Januar 1882 in verschlossenem Kasten geruht hat
und erst jetzt von Dr. Neicke in Königsberg herausgegeben wird. Es sind
locker verbundene Notizen für eine gewaltige Arbeit, die nicht fertig geworden
ist, und die den Titel fuhren sollte: "Vom Übergang von den metaphysischen
Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik." Da das überaus interessante
Manuskript, dessen Inhalt vollkommen unsre Auslegung, nicht aber die seit hundert
Jahren überlieferte bestätigt, bisher von den Fachgenossen noch mit Stillschweigen
behandelt wird, so kann es nicht schaden, wiederholt darauf aufmerksam zu machen.
Es heißt in der "Altpreußischen Monatsschrift" Jahrgang 1882, S. 627: "Raum
und Zeit sind Anschauungen ohne Gegenstand, also blos subjektiv"; ebendaselbst
S. 621: "Der Raum ist eine Anschauung, nicht etwas, was angeschaut wird";
ferner S. 590: "Man kann sagen: Was den Raum zum Gegenstande der Er¬
fahrung (Wahrnehmung) mache, ist die Materie"; und ebendaselbst 1883, S. 115:
"Wir stellen uns den Raum so wie jedes Objekt der Sinnlichkeit auf zwiefache
Art vor: erstlich als etwas Denkbares (sMwrrr voKiwoilö), da er als eine Größe
des Mannichfnltigen außer einander eine bloße Form des Gegenstandes der
reinen Anschauung lediglich in unsrer Vorstellungskraft liegt: zweitens aber auch
als etwas Spürbares (sxakiurn, xizrosptibilo), als etwas außer unsrer
Vorstellung Existirendes, was wir wahrnehmen und zu unsrer Erfahrung
ziehe"? können, und als empirische Vorstellung ein Sinnenobjekt, den Stoff, der
den Raum erfüllt, ausmacht." Es kommt also nur darauf an, zu begreifen,
daß der Raum trcmseendentale Idealität und empirische Realität hat. Im
erster" Sinne ist er in uns, in unsrer Vorstellungskraft, im zweiten ist er anßer
uns, d. i. außer unserm Körper, ja selbst außer unsrer Seele, die selbst nur
empirische Erscheinung für unsern innern Sinn ist. Verwechselt man diese beiden
Arten des Verstandesgebrauches, so entstehen alle Irrtümer der bisherigen Kant'
ausleger in Bezug auf den Raum.

Nun aber zum Ding an sich, welches das Innere der Natur, die nicht¬
sinnliche Ursache der Erscheinungen sein soll, und zu welchem wir immer wieder
neuen Zugang durch Hinterthüren aufsuchen, da Kant uus alle bisher gang-


Zur Auslegung Kants.

im Raum, die Seele aber nicht; und nach der Lvtzeschen Auffassung würde sogar
Herr von Kirchmann Recht haben mit seiner Widerlegung Kants, nach dessen
Lehre die ganze Welt in einem Punkte sei, was allerdings absurd erscheint.

Aber was ist nicht alles an Absurdität in der Kantauslegnng geleistet worden!
Hat mau doch auch versucht, zu behaupten, daß die ganze Welt, die wir sehen,
mit Sonne, Mond und Sternen, eigentlich in unsrer Netzhaut im Auge wäre,
einfach in Folge derselben Verwechslung der Worte in uns im transcendentalen
und im empirischen Sinne.

Um die Absicht Kants, wie er die Bedeutung des Raums für unsre An¬
schauung und Vorstellung gefaßt haben wollte, noch einmal in ein möglichst
klares Licht zu setzen, will ich einige Stellen aus seinem nachgelassenen Manuskript
anführen, welches bis zum Januar 1882 in verschlossenem Kasten geruht hat
und erst jetzt von Dr. Neicke in Königsberg herausgegeben wird. Es sind
locker verbundene Notizen für eine gewaltige Arbeit, die nicht fertig geworden
ist, und die den Titel fuhren sollte: „Vom Übergang von den metaphysischen
Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik." Da das überaus interessante
Manuskript, dessen Inhalt vollkommen unsre Auslegung, nicht aber die seit hundert
Jahren überlieferte bestätigt, bisher von den Fachgenossen noch mit Stillschweigen
behandelt wird, so kann es nicht schaden, wiederholt darauf aufmerksam zu machen.
Es heißt in der „Altpreußischen Monatsschrift" Jahrgang 1882, S. 627: „Raum
und Zeit sind Anschauungen ohne Gegenstand, also blos subjektiv"; ebendaselbst
S. 621: „Der Raum ist eine Anschauung, nicht etwas, was angeschaut wird";
ferner S. 590: „Man kann sagen: Was den Raum zum Gegenstande der Er¬
fahrung (Wahrnehmung) mache, ist die Materie"; und ebendaselbst 1883, S. 115:
„Wir stellen uns den Raum so wie jedes Objekt der Sinnlichkeit auf zwiefache
Art vor: erstlich als etwas Denkbares (sMwrrr voKiwoilö), da er als eine Größe
des Mannichfnltigen außer einander eine bloße Form des Gegenstandes der
reinen Anschauung lediglich in unsrer Vorstellungskraft liegt: zweitens aber auch
als etwas Spürbares (sxakiurn, xizrosptibilo), als etwas außer unsrer
Vorstellung Existirendes, was wir wahrnehmen und zu unsrer Erfahrung
ziehe«? können, und als empirische Vorstellung ein Sinnenobjekt, den Stoff, der
den Raum erfüllt, ausmacht." Es kommt also nur darauf an, zu begreifen,
daß der Raum trcmseendentale Idealität und empirische Realität hat. Im
erster» Sinne ist er in uns, in unsrer Vorstellungskraft, im zweiten ist er anßer
uns, d. i. außer unserm Körper, ja selbst außer unsrer Seele, die selbst nur
empirische Erscheinung für unsern innern Sinn ist. Verwechselt man diese beiden
Arten des Verstandesgebrauches, so entstehen alle Irrtümer der bisherigen Kant'
ausleger in Bezug auf den Raum.

Nun aber zum Ding an sich, welches das Innere der Natur, die nicht¬
sinnliche Ursache der Erscheinungen sein soll, und zu welchem wir immer wieder
neuen Zugang durch Hinterthüren aufsuchen, da Kant uus alle bisher gang-


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[0663] Zur Auslegung Kants. im Raum, die Seele aber nicht; und nach der Lvtzeschen Auffassung würde sogar Herr von Kirchmann Recht haben mit seiner Widerlegung Kants, nach dessen Lehre die ganze Welt in einem Punkte sei, was allerdings absurd erscheint. Aber was ist nicht alles an Absurdität in der Kantauslegnng geleistet worden! Hat mau doch auch versucht, zu behaupten, daß die ganze Welt, die wir sehen, mit Sonne, Mond und Sternen, eigentlich in unsrer Netzhaut im Auge wäre, einfach in Folge derselben Verwechslung der Worte in uns im transcendentalen und im empirischen Sinne. Um die Absicht Kants, wie er die Bedeutung des Raums für unsre An¬ schauung und Vorstellung gefaßt haben wollte, noch einmal in ein möglichst klares Licht zu setzen, will ich einige Stellen aus seinem nachgelassenen Manuskript anführen, welches bis zum Januar 1882 in verschlossenem Kasten geruht hat und erst jetzt von Dr. Neicke in Königsberg herausgegeben wird. Es sind locker verbundene Notizen für eine gewaltige Arbeit, die nicht fertig geworden ist, und die den Titel fuhren sollte: „Vom Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik." Da das überaus interessante Manuskript, dessen Inhalt vollkommen unsre Auslegung, nicht aber die seit hundert Jahren überlieferte bestätigt, bisher von den Fachgenossen noch mit Stillschweigen behandelt wird, so kann es nicht schaden, wiederholt darauf aufmerksam zu machen. Es heißt in der „Altpreußischen Monatsschrift" Jahrgang 1882, S. 627: „Raum und Zeit sind Anschauungen ohne Gegenstand, also blos subjektiv"; ebendaselbst S. 621: „Der Raum ist eine Anschauung, nicht etwas, was angeschaut wird"; ferner S. 590: „Man kann sagen: Was den Raum zum Gegenstande der Er¬ fahrung (Wahrnehmung) mache, ist die Materie"; und ebendaselbst 1883, S. 115: „Wir stellen uns den Raum so wie jedes Objekt der Sinnlichkeit auf zwiefache Art vor: erstlich als etwas Denkbares (sMwrrr voKiwoilö), da er als eine Größe des Mannichfnltigen außer einander eine bloße Form des Gegenstandes der reinen Anschauung lediglich in unsrer Vorstellungskraft liegt: zweitens aber auch als etwas Spürbares (sxakiurn, xizrosptibilo), als etwas außer unsrer Vorstellung Existirendes, was wir wahrnehmen und zu unsrer Erfahrung ziehe«? können, und als empirische Vorstellung ein Sinnenobjekt, den Stoff, der den Raum erfüllt, ausmacht." Es kommt also nur darauf an, zu begreifen, daß der Raum trcmseendentale Idealität und empirische Realität hat. Im erster» Sinne ist er in uns, in unsrer Vorstellungskraft, im zweiten ist er anßer uns, d. i. außer unserm Körper, ja selbst außer unsrer Seele, die selbst nur empirische Erscheinung für unsern innern Sinn ist. Verwechselt man diese beiden Arten des Verstandesgebrauches, so entstehen alle Irrtümer der bisherigen Kant' ausleger in Bezug auf den Raum. Nun aber zum Ding an sich, welches das Innere der Natur, die nicht¬ sinnliche Ursache der Erscheinungen sein soll, und zu welchem wir immer wieder neuen Zugang durch Hinterthüren aufsuchen, da Kant uus alle bisher gang-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/663>, abgerufen am 03.07.2024.