Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur Auslegung Kants.

fruchtbar für die Erfahrungswissenschaften gehalten wird, weil dieser größte aller
Naturforscher das Erkennen der wirklichen Dinge für unmöglich erklärt habe.
Was ist es anders, wenn Dubois-Reymond in einer seiner berühmten akade¬
mischen Reden Kant geradezu als abschreckendes Beispiel dafür anführt, daß
man mit Hilfe der Philosophie es in der Naturwissenschaft doch nicht weiter
bringen könne? Kant habe zwar in den metaphysischen Anfangsgründen das
Grenzgebiet zwischen Philosophie und Naturwissenschaft berührt, sei aber dabei
nicht einmal auf das Gesetz der Erhaltung der Kraft gekommen! Oder wenn
Helmholtz sich bei der Erklärung der psychischen Prozesse im Schale lieber an
die Grundlage von Stuart Mill hält als an Kant, weil dieser es doch nicht
zu einer allgemeinen Übereinstimmung unter den Gebildeten in diesen schwierigen
Fragen habe bringen können. Oder wenn Wundt Kant durchaus für einen
subjektiven Idealisten erklärt und den radikalsten Gegensatz zu Kant, den Skep¬
tiker Hume, für den heutigen Standpunkt der Naturwissenschaften noch ma߬
gebend hält. Es ist durchaus richtig, daß bis auf den heutigen Tag der Kriti¬
zismus für ein System des subjektiven Idealismus gehalten worden ist, daß
die Naturwissenschaften sich darum dem englischen Empirismus hingegeben haben,
und daß selbst die eignen Versuche Kants, dieses Mißverständnis zu beseitigen,
besonders in den Veränderungen seiner zweiten Auflage, für Widersprüche mit
seinem eignen System gehalten und erklärt worden sind. Selbst Lotze, der doch
naturwissenschaftliche und philosophische Bildung in hervorragender Weise ver¬
einigte, hat bei seinen natnrwisfenschciftlichen und psychologischen Arbeiten zwar
viel von angeblichen Irrtümern Kants geredet, aber seiner transcendentalen
Logik keinen Einfluß verstattet, höchstens der transcendentalen Ästhetik. Er
redet von einem Reich der Dinge an sich, welches hinter der sinnlichen Erschei¬
nung stecken soll, völlig in Widerspruch mit Kants Lehren, wie gleich bewiesen
werden soll.

Was verspricht man sich aber in unsrer Zeit von der Wiederbelebung
Kantischer Philosophie, von dem Rufe, den Liebmann so drastisch erhoben hat:
Zurück auf Kant? Kann ein einsichtiger Mann, sei er Staatsmann oder Ge¬
lehrter, von einem subjektiv idealistischen System eine heilsame Erneuerung unsrer
Denkweise in Wissenschaft und praktischem Leben erwarten? Das Bedürfnis nach
einer solchen Erneuerung ist vorhanden, das beweist ein Blick aus den Umfang
der philosophischen und besonders der dilettantisch philosophischen Literatur unsrer
Tage. Gewiß hat die Herrschaft des nackten Materialismus, der allmählich aus
den Werken der Gelehrten zugleich mit der wachsenden Schulbildung immer
weitere Kreise des Volkes durchdrungen hat, etwas Erschreckendes für jeden
Freund der Kultur. Denn von ihm droht uns der Rückfall in jede wüste Bar¬
barei. Aber so wie die Ausbreitung des Materialismus die Gegenwirkung gegen
die idealistische Schwärmerei der sogenannten großen Nachfolger Kants war, so
würde die Erneuerung des subjektiven Idealismus nur die Bedeutung einer


Zur Auslegung Kants.

fruchtbar für die Erfahrungswissenschaften gehalten wird, weil dieser größte aller
Naturforscher das Erkennen der wirklichen Dinge für unmöglich erklärt habe.
Was ist es anders, wenn Dubois-Reymond in einer seiner berühmten akade¬
mischen Reden Kant geradezu als abschreckendes Beispiel dafür anführt, daß
man mit Hilfe der Philosophie es in der Naturwissenschaft doch nicht weiter
bringen könne? Kant habe zwar in den metaphysischen Anfangsgründen das
Grenzgebiet zwischen Philosophie und Naturwissenschaft berührt, sei aber dabei
nicht einmal auf das Gesetz der Erhaltung der Kraft gekommen! Oder wenn
Helmholtz sich bei der Erklärung der psychischen Prozesse im Schale lieber an
die Grundlage von Stuart Mill hält als an Kant, weil dieser es doch nicht
zu einer allgemeinen Übereinstimmung unter den Gebildeten in diesen schwierigen
Fragen habe bringen können. Oder wenn Wundt Kant durchaus für einen
subjektiven Idealisten erklärt und den radikalsten Gegensatz zu Kant, den Skep¬
tiker Hume, für den heutigen Standpunkt der Naturwissenschaften noch ma߬
gebend hält. Es ist durchaus richtig, daß bis auf den heutigen Tag der Kriti¬
zismus für ein System des subjektiven Idealismus gehalten worden ist, daß
die Naturwissenschaften sich darum dem englischen Empirismus hingegeben haben,
und daß selbst die eignen Versuche Kants, dieses Mißverständnis zu beseitigen,
besonders in den Veränderungen seiner zweiten Auflage, für Widersprüche mit
seinem eignen System gehalten und erklärt worden sind. Selbst Lotze, der doch
naturwissenschaftliche und philosophische Bildung in hervorragender Weise ver¬
einigte, hat bei seinen natnrwisfenschciftlichen und psychologischen Arbeiten zwar
viel von angeblichen Irrtümern Kants geredet, aber seiner transcendentalen
Logik keinen Einfluß verstattet, höchstens der transcendentalen Ästhetik. Er
redet von einem Reich der Dinge an sich, welches hinter der sinnlichen Erschei¬
nung stecken soll, völlig in Widerspruch mit Kants Lehren, wie gleich bewiesen
werden soll.

Was verspricht man sich aber in unsrer Zeit von der Wiederbelebung
Kantischer Philosophie, von dem Rufe, den Liebmann so drastisch erhoben hat:
Zurück auf Kant? Kann ein einsichtiger Mann, sei er Staatsmann oder Ge¬
lehrter, von einem subjektiv idealistischen System eine heilsame Erneuerung unsrer
Denkweise in Wissenschaft und praktischem Leben erwarten? Das Bedürfnis nach
einer solchen Erneuerung ist vorhanden, das beweist ein Blick aus den Umfang
der philosophischen und besonders der dilettantisch philosophischen Literatur unsrer
Tage. Gewiß hat die Herrschaft des nackten Materialismus, der allmählich aus
den Werken der Gelehrten zugleich mit der wachsenden Schulbildung immer
weitere Kreise des Volkes durchdrungen hat, etwas Erschreckendes für jeden
Freund der Kultur. Denn von ihm droht uns der Rückfall in jede wüste Bar¬
barei. Aber so wie die Ausbreitung des Materialismus die Gegenwirkung gegen
die idealistische Schwärmerei der sogenannten großen Nachfolger Kants war, so
würde die Erneuerung des subjektiven Idealismus nur die Bedeutung einer


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0660" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/153409"/>
          <fw type="header" place="top"> Zur Auslegung Kants.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2545" prev="#ID_2544"> fruchtbar für die Erfahrungswissenschaften gehalten wird, weil dieser größte aller<lb/>
Naturforscher das Erkennen der wirklichen Dinge für unmöglich erklärt habe.<lb/>
Was ist es anders, wenn Dubois-Reymond in einer seiner berühmten akade¬<lb/>
mischen Reden Kant geradezu als abschreckendes Beispiel dafür anführt, daß<lb/>
man mit Hilfe der Philosophie es in der Naturwissenschaft doch nicht weiter<lb/>
bringen könne? Kant habe zwar in den metaphysischen Anfangsgründen das<lb/>
Grenzgebiet zwischen Philosophie und Naturwissenschaft berührt, sei aber dabei<lb/>
nicht einmal auf das Gesetz der Erhaltung der Kraft gekommen! Oder wenn<lb/>
Helmholtz sich bei der Erklärung der psychischen Prozesse im Schale lieber an<lb/>
die Grundlage von Stuart Mill hält als an Kant, weil dieser es doch nicht<lb/>
zu einer allgemeinen Übereinstimmung unter den Gebildeten in diesen schwierigen<lb/>
Fragen habe bringen können. Oder wenn Wundt Kant durchaus für einen<lb/>
subjektiven Idealisten erklärt und den radikalsten Gegensatz zu Kant, den Skep¬<lb/>
tiker Hume, für den heutigen Standpunkt der Naturwissenschaften noch ma߬<lb/>
gebend hält. Es ist durchaus richtig, daß bis auf den heutigen Tag der Kriti¬<lb/>
zismus für ein System des subjektiven Idealismus gehalten worden ist, daß<lb/>
die Naturwissenschaften sich darum dem englischen Empirismus hingegeben haben,<lb/>
und daß selbst die eignen Versuche Kants, dieses Mißverständnis zu beseitigen,<lb/>
besonders in den Veränderungen seiner zweiten Auflage, für Widersprüche mit<lb/>
seinem eignen System gehalten und erklärt worden sind. Selbst Lotze, der doch<lb/>
naturwissenschaftliche und philosophische Bildung in hervorragender Weise ver¬<lb/>
einigte, hat bei seinen natnrwisfenschciftlichen und psychologischen Arbeiten zwar<lb/>
viel von angeblichen Irrtümern Kants geredet, aber seiner transcendentalen<lb/>
Logik keinen Einfluß verstattet, höchstens der transcendentalen Ästhetik. Er<lb/>
redet von einem Reich der Dinge an sich, welches hinter der sinnlichen Erschei¬<lb/>
nung stecken soll, völlig in Widerspruch mit Kants Lehren, wie gleich bewiesen<lb/>
werden soll.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2546" next="#ID_2547"> Was verspricht man sich aber in unsrer Zeit von der Wiederbelebung<lb/>
Kantischer Philosophie, von dem Rufe, den Liebmann so drastisch erhoben hat:<lb/>
Zurück auf Kant? Kann ein einsichtiger Mann, sei er Staatsmann oder Ge¬<lb/>
lehrter, von einem subjektiv idealistischen System eine heilsame Erneuerung unsrer<lb/>
Denkweise in Wissenschaft und praktischem Leben erwarten? Das Bedürfnis nach<lb/>
einer solchen Erneuerung ist vorhanden, das beweist ein Blick aus den Umfang<lb/>
der philosophischen und besonders der dilettantisch philosophischen Literatur unsrer<lb/>
Tage. Gewiß hat die Herrschaft des nackten Materialismus, der allmählich aus<lb/>
den Werken der Gelehrten zugleich mit der wachsenden Schulbildung immer<lb/>
weitere Kreise des Volkes durchdrungen hat, etwas Erschreckendes für jeden<lb/>
Freund der Kultur. Denn von ihm droht uns der Rückfall in jede wüste Bar¬<lb/>
barei. Aber so wie die Ausbreitung des Materialismus die Gegenwirkung gegen<lb/>
die idealistische Schwärmerei der sogenannten großen Nachfolger Kants war, so<lb/>
würde die Erneuerung des subjektiven Idealismus nur die Bedeutung einer</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0660] Zur Auslegung Kants. fruchtbar für die Erfahrungswissenschaften gehalten wird, weil dieser größte aller Naturforscher das Erkennen der wirklichen Dinge für unmöglich erklärt habe. Was ist es anders, wenn Dubois-Reymond in einer seiner berühmten akade¬ mischen Reden Kant geradezu als abschreckendes Beispiel dafür anführt, daß man mit Hilfe der Philosophie es in der Naturwissenschaft doch nicht weiter bringen könne? Kant habe zwar in den metaphysischen Anfangsgründen das Grenzgebiet zwischen Philosophie und Naturwissenschaft berührt, sei aber dabei nicht einmal auf das Gesetz der Erhaltung der Kraft gekommen! Oder wenn Helmholtz sich bei der Erklärung der psychischen Prozesse im Schale lieber an die Grundlage von Stuart Mill hält als an Kant, weil dieser es doch nicht zu einer allgemeinen Übereinstimmung unter den Gebildeten in diesen schwierigen Fragen habe bringen können. Oder wenn Wundt Kant durchaus für einen subjektiven Idealisten erklärt und den radikalsten Gegensatz zu Kant, den Skep¬ tiker Hume, für den heutigen Standpunkt der Naturwissenschaften noch ma߬ gebend hält. Es ist durchaus richtig, daß bis auf den heutigen Tag der Kriti¬ zismus für ein System des subjektiven Idealismus gehalten worden ist, daß die Naturwissenschaften sich darum dem englischen Empirismus hingegeben haben, und daß selbst die eignen Versuche Kants, dieses Mißverständnis zu beseitigen, besonders in den Veränderungen seiner zweiten Auflage, für Widersprüche mit seinem eignen System gehalten und erklärt worden sind. Selbst Lotze, der doch naturwissenschaftliche und philosophische Bildung in hervorragender Weise ver¬ einigte, hat bei seinen natnrwisfenschciftlichen und psychologischen Arbeiten zwar viel von angeblichen Irrtümern Kants geredet, aber seiner transcendentalen Logik keinen Einfluß verstattet, höchstens der transcendentalen Ästhetik. Er redet von einem Reich der Dinge an sich, welches hinter der sinnlichen Erschei¬ nung stecken soll, völlig in Widerspruch mit Kants Lehren, wie gleich bewiesen werden soll. Was verspricht man sich aber in unsrer Zeit von der Wiederbelebung Kantischer Philosophie, von dem Rufe, den Liebmann so drastisch erhoben hat: Zurück auf Kant? Kann ein einsichtiger Mann, sei er Staatsmann oder Ge¬ lehrter, von einem subjektiv idealistischen System eine heilsame Erneuerung unsrer Denkweise in Wissenschaft und praktischem Leben erwarten? Das Bedürfnis nach einer solchen Erneuerung ist vorhanden, das beweist ein Blick aus den Umfang der philosophischen und besonders der dilettantisch philosophischen Literatur unsrer Tage. Gewiß hat die Herrschaft des nackten Materialismus, der allmählich aus den Werken der Gelehrten zugleich mit der wachsenden Schulbildung immer weitere Kreise des Volkes durchdrungen hat, etwas Erschreckendes für jeden Freund der Kultur. Denn von ihm droht uns der Rückfall in jede wüste Bar¬ barei. Aber so wie die Ausbreitung des Materialismus die Gegenwirkung gegen die idealistische Schwärmerei der sogenannten großen Nachfolger Kants war, so würde die Erneuerung des subjektiven Idealismus nur die Bedeutung einer

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/660
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/660>, abgerufen am 01.07.2024.