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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Zur Auslegung Kants.

dadurch Gelegenheit gegeben hat, den Kern der Sache, welche nach meiner
Meinung ein weitgehendes allgemeines Interesse beansprucht, noch einmal mög¬
lichst hell zu beleuchten.

Herr Professor Sehdel hat ganz recht, wenn er bei einem Überblick über
die verflossenen hundert Jahre niemand findet, der den Krauseschen Standpunkt
geteilt hätte. Für die gegenwärtigen Kantinterpreten ist aber dieselbe Behaup¬
tung doch etwas gewagt, denn hie und da zeigen sich doch einzelne Schriftsteller,
die dieselbe Auffassung Kants gewonnen haben; namentlich hat Hermann Cohen
in seiner Darstellung von Kants Theorie der Erfahrung, die leider auf die Er-
fahrungswissenschaften bisher ohne Einfluß geblieben ist, eine nach unsern Be¬
griffen völlig korrekte Interpretation gegeben, und ganz neuerdings hat sich
Herr Laßwitz, mit dem wir den Prioritätsstreit ruhen lassen wollen, auf den¬
selben Standpunkt gestellt. Es handelt sich im wesentlichen um die richtige
Deutung des Begriffes vom Ding an sich. Wenn die Dinge an sich den Grund,
das eigentliche Innere, Wesentliche, Wirkliche in der Welt bilden und die Ur¬
sache aller Erscheinung sind, dann haben die ältern Ausleger und ebenso Seydel
recht. Dann hat uns Kant bewiesen, daß wir eben das niemals erkennen, was
wir gerade am meisten zu wissen erstreben; das, was uns am meisten interessirt,
bleibt uns ewig verborgen. Die Worte Kants, er habe das Wissen aufheben
müssen, um für den Glauben Platz zu bekommen, werden dann mit Recht auf
das Wissen der realen Wirklichkeit bezogen, und das ganze unleugbare Ver¬
dienst Kants fällt lediglich auf die praktische Seite seiner Philosophie, auf die
Begründung des Glaubens aus Gründen der Vernunft. Denn wer will es
unter solchen Umständen der Naturwissenschaft verargen, wenn sie sich von einem
Philosophen abwendet, der ihr das Erkennen der wirklichen Dinge verschlossen
hat, um sie mit dem trügerischen Scheine bloß äußerlicher Erscheinungen ab¬
zuspeisen?

Daß dies in der That der Lauf der Dinge gewesen ist, wissen wir alle
recht gut. Im Anfang der zwanziger Jahre, sagt der alte Steffens einmal
in seinen Aufzeichnungen, war man in den gelehrten Kreisen allgemein zu der
Überzeugung gelangt, daß die Kantische Philosophie, weil sie das wirkliche Wesen
der Dinge für unerklärbar hinstelle und alles Wissen streng ans die bloße Er¬
scheinung beschränken wolle, nicht brauchbar sei für die Naturwissenschaften, daß
man neue Wege aufsuchen müsse, die ein tieferes Eindringen in den eigentlichen
Kern der Natur versprachen. Eine Zeitlang versuchte man es dann mit Schel-
ling, aber man weiß, mit welchem Erfolge. Materialismus und Skeptizismus
in einer Blüte und Verbreitung wie nie zuvor sind am Ende an die Stelle
aller Philosophie getreten. Mochte man immer eine gewisse Ehrfurcht vor dem
kategorischen Imperativ beibehalten, mochte man selbst mit einer gewissen Kennt¬
nis von Kants Bedeutung und Werken kokettiren, im Grunde steht es noch
heute bei den Naturforschern so, daß die Kantische Philosophie für völlig un-


Zur Auslegung Kants.

dadurch Gelegenheit gegeben hat, den Kern der Sache, welche nach meiner
Meinung ein weitgehendes allgemeines Interesse beansprucht, noch einmal mög¬
lichst hell zu beleuchten.

Herr Professor Sehdel hat ganz recht, wenn er bei einem Überblick über
die verflossenen hundert Jahre niemand findet, der den Krauseschen Standpunkt
geteilt hätte. Für die gegenwärtigen Kantinterpreten ist aber dieselbe Behaup¬
tung doch etwas gewagt, denn hie und da zeigen sich doch einzelne Schriftsteller,
die dieselbe Auffassung Kants gewonnen haben; namentlich hat Hermann Cohen
in seiner Darstellung von Kants Theorie der Erfahrung, die leider auf die Er-
fahrungswissenschaften bisher ohne Einfluß geblieben ist, eine nach unsern Be¬
griffen völlig korrekte Interpretation gegeben, und ganz neuerdings hat sich
Herr Laßwitz, mit dem wir den Prioritätsstreit ruhen lassen wollen, auf den¬
selben Standpunkt gestellt. Es handelt sich im wesentlichen um die richtige
Deutung des Begriffes vom Ding an sich. Wenn die Dinge an sich den Grund,
das eigentliche Innere, Wesentliche, Wirkliche in der Welt bilden und die Ur¬
sache aller Erscheinung sind, dann haben die ältern Ausleger und ebenso Seydel
recht. Dann hat uns Kant bewiesen, daß wir eben das niemals erkennen, was
wir gerade am meisten zu wissen erstreben; das, was uns am meisten interessirt,
bleibt uns ewig verborgen. Die Worte Kants, er habe das Wissen aufheben
müssen, um für den Glauben Platz zu bekommen, werden dann mit Recht auf
das Wissen der realen Wirklichkeit bezogen, und das ganze unleugbare Ver¬
dienst Kants fällt lediglich auf die praktische Seite seiner Philosophie, auf die
Begründung des Glaubens aus Gründen der Vernunft. Denn wer will es
unter solchen Umständen der Naturwissenschaft verargen, wenn sie sich von einem
Philosophen abwendet, der ihr das Erkennen der wirklichen Dinge verschlossen
hat, um sie mit dem trügerischen Scheine bloß äußerlicher Erscheinungen ab¬
zuspeisen?

Daß dies in der That der Lauf der Dinge gewesen ist, wissen wir alle
recht gut. Im Anfang der zwanziger Jahre, sagt der alte Steffens einmal
in seinen Aufzeichnungen, war man in den gelehrten Kreisen allgemein zu der
Überzeugung gelangt, daß die Kantische Philosophie, weil sie das wirkliche Wesen
der Dinge für unerklärbar hinstelle und alles Wissen streng ans die bloße Er¬
scheinung beschränken wolle, nicht brauchbar sei für die Naturwissenschaften, daß
man neue Wege aufsuchen müsse, die ein tieferes Eindringen in den eigentlichen
Kern der Natur versprachen. Eine Zeitlang versuchte man es dann mit Schel-
ling, aber man weiß, mit welchem Erfolge. Materialismus und Skeptizismus
in einer Blüte und Verbreitung wie nie zuvor sind am Ende an die Stelle
aller Philosophie getreten. Mochte man immer eine gewisse Ehrfurcht vor dem
kategorischen Imperativ beibehalten, mochte man selbst mit einer gewissen Kennt¬
nis von Kants Bedeutung und Werken kokettiren, im Grunde steht es noch
heute bei den Naturforschern so, daß die Kantische Philosophie für völlig un-


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[0659] Zur Auslegung Kants. dadurch Gelegenheit gegeben hat, den Kern der Sache, welche nach meiner Meinung ein weitgehendes allgemeines Interesse beansprucht, noch einmal mög¬ lichst hell zu beleuchten. Herr Professor Sehdel hat ganz recht, wenn er bei einem Überblick über die verflossenen hundert Jahre niemand findet, der den Krauseschen Standpunkt geteilt hätte. Für die gegenwärtigen Kantinterpreten ist aber dieselbe Behaup¬ tung doch etwas gewagt, denn hie und da zeigen sich doch einzelne Schriftsteller, die dieselbe Auffassung Kants gewonnen haben; namentlich hat Hermann Cohen in seiner Darstellung von Kants Theorie der Erfahrung, die leider auf die Er- fahrungswissenschaften bisher ohne Einfluß geblieben ist, eine nach unsern Be¬ griffen völlig korrekte Interpretation gegeben, und ganz neuerdings hat sich Herr Laßwitz, mit dem wir den Prioritätsstreit ruhen lassen wollen, auf den¬ selben Standpunkt gestellt. Es handelt sich im wesentlichen um die richtige Deutung des Begriffes vom Ding an sich. Wenn die Dinge an sich den Grund, das eigentliche Innere, Wesentliche, Wirkliche in der Welt bilden und die Ur¬ sache aller Erscheinung sind, dann haben die ältern Ausleger und ebenso Seydel recht. Dann hat uns Kant bewiesen, daß wir eben das niemals erkennen, was wir gerade am meisten zu wissen erstreben; das, was uns am meisten interessirt, bleibt uns ewig verborgen. Die Worte Kants, er habe das Wissen aufheben müssen, um für den Glauben Platz zu bekommen, werden dann mit Recht auf das Wissen der realen Wirklichkeit bezogen, und das ganze unleugbare Ver¬ dienst Kants fällt lediglich auf die praktische Seite seiner Philosophie, auf die Begründung des Glaubens aus Gründen der Vernunft. Denn wer will es unter solchen Umständen der Naturwissenschaft verargen, wenn sie sich von einem Philosophen abwendet, der ihr das Erkennen der wirklichen Dinge verschlossen hat, um sie mit dem trügerischen Scheine bloß äußerlicher Erscheinungen ab¬ zuspeisen? Daß dies in der That der Lauf der Dinge gewesen ist, wissen wir alle recht gut. Im Anfang der zwanziger Jahre, sagt der alte Steffens einmal in seinen Aufzeichnungen, war man in den gelehrten Kreisen allgemein zu der Überzeugung gelangt, daß die Kantische Philosophie, weil sie das wirkliche Wesen der Dinge für unerklärbar hinstelle und alles Wissen streng ans die bloße Er¬ scheinung beschränken wolle, nicht brauchbar sei für die Naturwissenschaften, daß man neue Wege aufsuchen müsse, die ein tieferes Eindringen in den eigentlichen Kern der Natur versprachen. Eine Zeitlang versuchte man es dann mit Schel- ling, aber man weiß, mit welchem Erfolge. Materialismus und Skeptizismus in einer Blüte und Verbreitung wie nie zuvor sind am Ende an die Stelle aller Philosophie getreten. Mochte man immer eine gewisse Ehrfurcht vor dem kategorischen Imperativ beibehalten, mochte man selbst mit einer gewissen Kennt¬ nis von Kants Bedeutung und Werken kokettiren, im Grunde steht es noch heute bei den Naturforschern so, daß die Kantische Philosophie für völlig un-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/659>, abgerufen am 29.06.2024.