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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Zur Auslegung Kants.

kurzen Reaktionsperiode gegen den Materialismus haben. Wer es nicht gerade
nötig hat, die Dinge dieser Welt zum Hauptgegenstande seiner Betrachtungen und
Bestrebungen zu machen, wer nicht von Beruf Naturforscher oder Arzt ist, dem
mag es leicht sein, die Wirklichkeit der Dinge mit Descartes und Berkeley für
problematisch zu erklären und in vermeintlicher Übereinstimmung mit Kant den
höchsten Idealen der Menschheit nachzustreben. Für eine solche Richtung läßt
sich vorübergehend immer eine Begeisterung unter strebsamen Schülern erregen.
Aber Begeisterung, sagt Goethe, ist keine Heringswaare, die man einpökelt auf
einige Jahre. Die Not des Lebens, der Zwang, die Dinge dieser Welt doch
beherrschen und erwerben zu müssen, um ein idealeres Dasein führen zu können,
sie werden immer die Opposition erzeugen, welche, gestützt auf die Thatsachen
der wirklichen Erfahrung, die idealistische Richtung für Thorheit und Schwärmerei
erklärt und so dem Materialismus wieder breite Thüren öffnet. Wenn es dem
Idealismus nicht gelingt, sich vollständig mit der realen Welt zu versöhnen und
ihre Wirklichkeit, so wie wir sie wahrnehmen, nicht nur anzuerkennen, sondern
zu beweisen, so kann er niemals einen dauernden Einfluß auf unsre An¬
schauungsweise gewinnen. Daß das aber Kant gewollt und auch erreicht hat, dafür
wollen wir nun das Verständnis zu erschließen suchen. Wir behaupten, daß
Kant nicht nur die Un erkenn harten des Dinges n" sich erklärt, sondern diesen
ganzen Begriff bis auf den ersten Ursprung in unserm eignen Verstände zurück¬
geführt und dadurch bewiesen hat, daß wir nicht einmal berechtigt sind, vom
Dasein und der wirklichen Existenz von solchen Dingen, die diesem Begriff ent¬
sprächen, zu reden, obwohl Herr Professor Seydel gerade das letztere ganz un-
motivirter Weise behauptet.

Freilich ist es etwas andres, einen Beweis auf dem Papier zu liefern,
und die Überzeugung von der Wahrheit desselben beim Gegner hervorzurufen.
Das erstere haben Krause und ich schon sehr häufig unternommen, das letzte
ist uns noch bei wenigen gelungen. Die lebhafte Vortragsweise in dem Krause¬
schen "Werkchen" und die drastische Dialektik ist zwar für unvorbereitete, mit
dem Gegenstand weniger vertraute Gemüter wirksam und überzeugend, wofür
uns die Zeugnisse vieler Studenten und namentlich das des Herrn Laßwitz in seiner
Schrift vorliegt, aber für solche, die lange in einer andern Richtung geschult
sind, wirkt sie oft anstatt überzeugend beinahe abstoßend, wofür uns wieder die
Zeugnisse mancher ältern Fachgenossen vorliegen. Wenn der Gegner bei allen
Streitfragen zu schnell und heftig ins Unrecht gesetzt wird, so erweckt das leicht
ein unbehagliches Gefühl, als habe man es mit Übereilungen zu thun. Und
doch ist das hier in Wahrheit nicht der Fall. Denn bevor Krause sein "Büch¬
lein" schrieb, hatte er bereits 22 Jahre lang Kant zum Hauptstudium und zur
Grundlage seiner weitern Arbeiten gemacht. Die allerunangenehmste Erfah¬
rung ist es aber, wenn, wie es mir geschehen ist, die Gegner eine Arbeit voll¬
ständig billigen, nur aus dem Grunde, weil sie die eigentliche Absicht garnicht


Zur Auslegung Kants.

kurzen Reaktionsperiode gegen den Materialismus haben. Wer es nicht gerade
nötig hat, die Dinge dieser Welt zum Hauptgegenstande seiner Betrachtungen und
Bestrebungen zu machen, wer nicht von Beruf Naturforscher oder Arzt ist, dem
mag es leicht sein, die Wirklichkeit der Dinge mit Descartes und Berkeley für
problematisch zu erklären und in vermeintlicher Übereinstimmung mit Kant den
höchsten Idealen der Menschheit nachzustreben. Für eine solche Richtung läßt
sich vorübergehend immer eine Begeisterung unter strebsamen Schülern erregen.
Aber Begeisterung, sagt Goethe, ist keine Heringswaare, die man einpökelt auf
einige Jahre. Die Not des Lebens, der Zwang, die Dinge dieser Welt doch
beherrschen und erwerben zu müssen, um ein idealeres Dasein führen zu können,
sie werden immer die Opposition erzeugen, welche, gestützt auf die Thatsachen
der wirklichen Erfahrung, die idealistische Richtung für Thorheit und Schwärmerei
erklärt und so dem Materialismus wieder breite Thüren öffnet. Wenn es dem
Idealismus nicht gelingt, sich vollständig mit der realen Welt zu versöhnen und
ihre Wirklichkeit, so wie wir sie wahrnehmen, nicht nur anzuerkennen, sondern
zu beweisen, so kann er niemals einen dauernden Einfluß auf unsre An¬
schauungsweise gewinnen. Daß das aber Kant gewollt und auch erreicht hat, dafür
wollen wir nun das Verständnis zu erschließen suchen. Wir behaupten, daß
Kant nicht nur die Un erkenn harten des Dinges n» sich erklärt, sondern diesen
ganzen Begriff bis auf den ersten Ursprung in unserm eignen Verstände zurück¬
geführt und dadurch bewiesen hat, daß wir nicht einmal berechtigt sind, vom
Dasein und der wirklichen Existenz von solchen Dingen, die diesem Begriff ent¬
sprächen, zu reden, obwohl Herr Professor Seydel gerade das letztere ganz un-
motivirter Weise behauptet.

Freilich ist es etwas andres, einen Beweis auf dem Papier zu liefern,
und die Überzeugung von der Wahrheit desselben beim Gegner hervorzurufen.
Das erstere haben Krause und ich schon sehr häufig unternommen, das letzte
ist uns noch bei wenigen gelungen. Die lebhafte Vortragsweise in dem Krause¬
schen „Werkchen" und die drastische Dialektik ist zwar für unvorbereitete, mit
dem Gegenstand weniger vertraute Gemüter wirksam und überzeugend, wofür
uns die Zeugnisse vieler Studenten und namentlich das des Herrn Laßwitz in seiner
Schrift vorliegt, aber für solche, die lange in einer andern Richtung geschult
sind, wirkt sie oft anstatt überzeugend beinahe abstoßend, wofür uns wieder die
Zeugnisse mancher ältern Fachgenossen vorliegen. Wenn der Gegner bei allen
Streitfragen zu schnell und heftig ins Unrecht gesetzt wird, so erweckt das leicht
ein unbehagliches Gefühl, als habe man es mit Übereilungen zu thun. Und
doch ist das hier in Wahrheit nicht der Fall. Denn bevor Krause sein „Büch¬
lein" schrieb, hatte er bereits 22 Jahre lang Kant zum Hauptstudium und zur
Grundlage seiner weitern Arbeiten gemacht. Die allerunangenehmste Erfah¬
rung ist es aber, wenn, wie es mir geschehen ist, die Gegner eine Arbeit voll¬
ständig billigen, nur aus dem Grunde, weil sie die eigentliche Absicht garnicht


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[0661] Zur Auslegung Kants. kurzen Reaktionsperiode gegen den Materialismus haben. Wer es nicht gerade nötig hat, die Dinge dieser Welt zum Hauptgegenstande seiner Betrachtungen und Bestrebungen zu machen, wer nicht von Beruf Naturforscher oder Arzt ist, dem mag es leicht sein, die Wirklichkeit der Dinge mit Descartes und Berkeley für problematisch zu erklären und in vermeintlicher Übereinstimmung mit Kant den höchsten Idealen der Menschheit nachzustreben. Für eine solche Richtung läßt sich vorübergehend immer eine Begeisterung unter strebsamen Schülern erregen. Aber Begeisterung, sagt Goethe, ist keine Heringswaare, die man einpökelt auf einige Jahre. Die Not des Lebens, der Zwang, die Dinge dieser Welt doch beherrschen und erwerben zu müssen, um ein idealeres Dasein führen zu können, sie werden immer die Opposition erzeugen, welche, gestützt auf die Thatsachen der wirklichen Erfahrung, die idealistische Richtung für Thorheit und Schwärmerei erklärt und so dem Materialismus wieder breite Thüren öffnet. Wenn es dem Idealismus nicht gelingt, sich vollständig mit der realen Welt zu versöhnen und ihre Wirklichkeit, so wie wir sie wahrnehmen, nicht nur anzuerkennen, sondern zu beweisen, so kann er niemals einen dauernden Einfluß auf unsre An¬ schauungsweise gewinnen. Daß das aber Kant gewollt und auch erreicht hat, dafür wollen wir nun das Verständnis zu erschließen suchen. Wir behaupten, daß Kant nicht nur die Un erkenn harten des Dinges n» sich erklärt, sondern diesen ganzen Begriff bis auf den ersten Ursprung in unserm eignen Verstände zurück¬ geführt und dadurch bewiesen hat, daß wir nicht einmal berechtigt sind, vom Dasein und der wirklichen Existenz von solchen Dingen, die diesem Begriff ent¬ sprächen, zu reden, obwohl Herr Professor Seydel gerade das letztere ganz un- motivirter Weise behauptet. Freilich ist es etwas andres, einen Beweis auf dem Papier zu liefern, und die Überzeugung von der Wahrheit desselben beim Gegner hervorzurufen. Das erstere haben Krause und ich schon sehr häufig unternommen, das letzte ist uns noch bei wenigen gelungen. Die lebhafte Vortragsweise in dem Krause¬ schen „Werkchen" und die drastische Dialektik ist zwar für unvorbereitete, mit dem Gegenstand weniger vertraute Gemüter wirksam und überzeugend, wofür uns die Zeugnisse vieler Studenten und namentlich das des Herrn Laßwitz in seiner Schrift vorliegt, aber für solche, die lange in einer andern Richtung geschult sind, wirkt sie oft anstatt überzeugend beinahe abstoßend, wofür uns wieder die Zeugnisse mancher ältern Fachgenossen vorliegen. Wenn der Gegner bei allen Streitfragen zu schnell und heftig ins Unrecht gesetzt wird, so erweckt das leicht ein unbehagliches Gefühl, als habe man es mit Übereilungen zu thun. Und doch ist das hier in Wahrheit nicht der Fall. Denn bevor Krause sein „Büch¬ lein" schrieb, hatte er bereits 22 Jahre lang Kant zum Hauptstudium und zur Grundlage seiner weitern Arbeiten gemacht. Die allerunangenehmste Erfah¬ rung ist es aber, wenn, wie es mir geschehen ist, die Gegner eine Arbeit voll¬ ständig billigen, nur aus dem Grunde, weil sie die eigentliche Absicht garnicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/661>, abgerufen am 03.07.2024.