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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Musikalische Erziehung.

zum Spielen in der Stunde bleibe, und schlagen bei ihren Klienten alle Be¬
denken mit dem Argument, daß der Schüler unzweifelhaft mehr lernen müsse,
wenn er seinen verehrten Lehrer 60 Minuten zwei mal in der Woche neben
sich am Klavier sitzen habe, als wenn er sich mit einem oder zwei andern
Schülern in die Stunde teilen müsse. Als wenn eine halbe Stunde richtiger
Unterweisung nicht zehnmal nützlicher wäre als ein paar ganze Stunden schlechten
Unterrichts; als wenn das Beispiel der Mitschüler nicht auch ein wirksamer
Faktor der Anregung wäre; als wenn auch der Lehrer an einer öffentlichen
Anstalt, der Kritik seiner Schüler, seines vorgesetzten Direktors, des Publikums
ausgesetzt, nicht weit mehr gezwungen wäre, erstens dafür zu sorgen, daß er
seinen Kollegen gegenüber selber gut in seinem Fache beschlagen sei, zweitens
im Unterricht stets sein bestes zu geben! Und wenn wirklich an einer öffent¬
lichen Schule irgend welche Nachlässigkeiten oder Mißgriffe vorkommen, so
können sie doch nie einreißen, weil alles gleich an den Tag kommt, während
es im Privatunterricht nicht schwer ist, eine Mutter oder eine Tante -- denn
die Väter bekümmern sich im allgemeinen nicht viel um den Musikunterricht
ihrer Kinder -- zu beschwichtigen, wenn's nicht vorwärtsgehe.

Außerdem ist aber die Kunst ihrem ganzen Wesen nach eine Sache, die
auf gemeinschaftlichen geistigen Austausch hindrängt, keineswegs aber bloß eine
technische Fertigkeit, die man in der Stille erlernt, um nachher als fertiger
Kunsthandwerker das Erlernte zu praktiziren. Daher denn auch alle guten und
einsichtigen Privatlehrer sehr darauf bedacht sind, durch Veranstaltungen zum
Vorspielen oder zum musikalischen Verkehr ihrer Schüler unter einander das
Studium geistig zu beleben. In der That ist eine gewisse Gemeinschaftlichkeit
des Studiums außer der notwendigen richtigen technischen Anleitung zur Er¬
langung von selbständiger Auffassung und gutem Geschmack unerläßlich, denn
diese Gemeinschaftlichkeit verschafft dem Schüler allmählich einen Einblick in
weit mehr Dinge als in die Stücke, die er selbst studirt, welche der Zahl nach
ja naturgemäß nur beschränkt sein können, und dieser Einblick, das daraus sich
entwickelnde höhere Verständnis, der Zuwachs an historischen Kenntnissen wirkt wie¬
derum befruchtend auf das eigne Studium zurück. Der gemeinschaftliche Unterricht
führt aber auf Schritt und Tritt zur Heranziehung teils geschichtlicher, teils
theoretischer Erläuterungen, verhütet Selbsttäuschung und schroffe Einseitigkeit
und führt dem Lernenden weit mehr geistigen Nahrungsstoff zu, als es der
Einzelunterricht auch beim besten Willen thun kann, sodaß selbst solche Schüler,
welche wenig eignes Talent zum Spielen besitzen, doch mit der Zeit wenigstens
im Wissen und Verständnis so viel Fortschritte machen, daß sie befähigt sind,
an musikalischen Vorträgen und Aufführungen mehr Genuß zu haben als
derjenige, der sich im Einzelunterricht resultatlos jahrelang abgemüht hat, eine
Fertigkeit zu erlernen, zu der er wenig Talent und obendrein manchmal noch
einen schlechten Lehrer gehabt hat.


Musikalische Erziehung.

zum Spielen in der Stunde bleibe, und schlagen bei ihren Klienten alle Be¬
denken mit dem Argument, daß der Schüler unzweifelhaft mehr lernen müsse,
wenn er seinen verehrten Lehrer 60 Minuten zwei mal in der Woche neben
sich am Klavier sitzen habe, als wenn er sich mit einem oder zwei andern
Schülern in die Stunde teilen müsse. Als wenn eine halbe Stunde richtiger
Unterweisung nicht zehnmal nützlicher wäre als ein paar ganze Stunden schlechten
Unterrichts; als wenn das Beispiel der Mitschüler nicht auch ein wirksamer
Faktor der Anregung wäre; als wenn auch der Lehrer an einer öffentlichen
Anstalt, der Kritik seiner Schüler, seines vorgesetzten Direktors, des Publikums
ausgesetzt, nicht weit mehr gezwungen wäre, erstens dafür zu sorgen, daß er
seinen Kollegen gegenüber selber gut in seinem Fache beschlagen sei, zweitens
im Unterricht stets sein bestes zu geben! Und wenn wirklich an einer öffent¬
lichen Schule irgend welche Nachlässigkeiten oder Mißgriffe vorkommen, so
können sie doch nie einreißen, weil alles gleich an den Tag kommt, während
es im Privatunterricht nicht schwer ist, eine Mutter oder eine Tante — denn
die Väter bekümmern sich im allgemeinen nicht viel um den Musikunterricht
ihrer Kinder — zu beschwichtigen, wenn's nicht vorwärtsgehe.

Außerdem ist aber die Kunst ihrem ganzen Wesen nach eine Sache, die
auf gemeinschaftlichen geistigen Austausch hindrängt, keineswegs aber bloß eine
technische Fertigkeit, die man in der Stille erlernt, um nachher als fertiger
Kunsthandwerker das Erlernte zu praktiziren. Daher denn auch alle guten und
einsichtigen Privatlehrer sehr darauf bedacht sind, durch Veranstaltungen zum
Vorspielen oder zum musikalischen Verkehr ihrer Schüler unter einander das
Studium geistig zu beleben. In der That ist eine gewisse Gemeinschaftlichkeit
des Studiums außer der notwendigen richtigen technischen Anleitung zur Er¬
langung von selbständiger Auffassung und gutem Geschmack unerläßlich, denn
diese Gemeinschaftlichkeit verschafft dem Schüler allmählich einen Einblick in
weit mehr Dinge als in die Stücke, die er selbst studirt, welche der Zahl nach
ja naturgemäß nur beschränkt sein können, und dieser Einblick, das daraus sich
entwickelnde höhere Verständnis, der Zuwachs an historischen Kenntnissen wirkt wie¬
derum befruchtend auf das eigne Studium zurück. Der gemeinschaftliche Unterricht
führt aber auf Schritt und Tritt zur Heranziehung teils geschichtlicher, teils
theoretischer Erläuterungen, verhütet Selbsttäuschung und schroffe Einseitigkeit
und führt dem Lernenden weit mehr geistigen Nahrungsstoff zu, als es der
Einzelunterricht auch beim besten Willen thun kann, sodaß selbst solche Schüler,
welche wenig eignes Talent zum Spielen besitzen, doch mit der Zeit wenigstens
im Wissen und Verständnis so viel Fortschritte machen, daß sie befähigt sind,
an musikalischen Vorträgen und Aufführungen mehr Genuß zu haben als
derjenige, der sich im Einzelunterricht resultatlos jahrelang abgemüht hat, eine
Fertigkeit zu erlernen, zu der er wenig Talent und obendrein manchmal noch
einen schlechten Lehrer gehabt hat.


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[0618] Musikalische Erziehung. zum Spielen in der Stunde bleibe, und schlagen bei ihren Klienten alle Be¬ denken mit dem Argument, daß der Schüler unzweifelhaft mehr lernen müsse, wenn er seinen verehrten Lehrer 60 Minuten zwei mal in der Woche neben sich am Klavier sitzen habe, als wenn er sich mit einem oder zwei andern Schülern in die Stunde teilen müsse. Als wenn eine halbe Stunde richtiger Unterweisung nicht zehnmal nützlicher wäre als ein paar ganze Stunden schlechten Unterrichts; als wenn das Beispiel der Mitschüler nicht auch ein wirksamer Faktor der Anregung wäre; als wenn auch der Lehrer an einer öffentlichen Anstalt, der Kritik seiner Schüler, seines vorgesetzten Direktors, des Publikums ausgesetzt, nicht weit mehr gezwungen wäre, erstens dafür zu sorgen, daß er seinen Kollegen gegenüber selber gut in seinem Fache beschlagen sei, zweitens im Unterricht stets sein bestes zu geben! Und wenn wirklich an einer öffent¬ lichen Schule irgend welche Nachlässigkeiten oder Mißgriffe vorkommen, so können sie doch nie einreißen, weil alles gleich an den Tag kommt, während es im Privatunterricht nicht schwer ist, eine Mutter oder eine Tante — denn die Väter bekümmern sich im allgemeinen nicht viel um den Musikunterricht ihrer Kinder — zu beschwichtigen, wenn's nicht vorwärtsgehe. Außerdem ist aber die Kunst ihrem ganzen Wesen nach eine Sache, die auf gemeinschaftlichen geistigen Austausch hindrängt, keineswegs aber bloß eine technische Fertigkeit, die man in der Stille erlernt, um nachher als fertiger Kunsthandwerker das Erlernte zu praktiziren. Daher denn auch alle guten und einsichtigen Privatlehrer sehr darauf bedacht sind, durch Veranstaltungen zum Vorspielen oder zum musikalischen Verkehr ihrer Schüler unter einander das Studium geistig zu beleben. In der That ist eine gewisse Gemeinschaftlichkeit des Studiums außer der notwendigen richtigen technischen Anleitung zur Er¬ langung von selbständiger Auffassung und gutem Geschmack unerläßlich, denn diese Gemeinschaftlichkeit verschafft dem Schüler allmählich einen Einblick in weit mehr Dinge als in die Stücke, die er selbst studirt, welche der Zahl nach ja naturgemäß nur beschränkt sein können, und dieser Einblick, das daraus sich entwickelnde höhere Verständnis, der Zuwachs an historischen Kenntnissen wirkt wie¬ derum befruchtend auf das eigne Studium zurück. Der gemeinschaftliche Unterricht führt aber auf Schritt und Tritt zur Heranziehung teils geschichtlicher, teils theoretischer Erläuterungen, verhütet Selbsttäuschung und schroffe Einseitigkeit und führt dem Lernenden weit mehr geistigen Nahrungsstoff zu, als es der Einzelunterricht auch beim besten Willen thun kann, sodaß selbst solche Schüler, welche wenig eignes Talent zum Spielen besitzen, doch mit der Zeit wenigstens im Wissen und Verständnis so viel Fortschritte machen, daß sie befähigt sind, an musikalischen Vorträgen und Aufführungen mehr Genuß zu haben als derjenige, der sich im Einzelunterricht resultatlos jahrelang abgemüht hat, eine Fertigkeit zu erlernen, zu der er wenig Talent und obendrein manchmal noch einen schlechten Lehrer gehabt hat.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/618>, abgerufen am 03.07.2024.