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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Musikalische Erziehung.

Nun ist es doch der Wunsch aller derer, welche sich mit der Kunst befassen,
zum mindesten ein Verständnis dafür zu erlangen, um Genuß daran haben
zu können, aber es ist leider ebenso wahr, daß der Weg des Unterrichts, der
dazu eingeschlagen wird, für die Stadien des Anfüngertums, in denen der Grund
für alle spätere Entwicklung gelegt werden soll, vielfach, wenn nicht meistens,
ein ganz verkehrter ist. Wenn es der Zufall will, daß ein jahrelang unrichtig
geleiteter Schüler, der Talent zeigt, in die Hände eines guten Lehrers kommt,
so muß wieder von vorn angefangen werden -- das Ablegen falscher Ange¬
wohnheiten ist ohnehin zeitraubender und mühseliger als das Neustudiren --,
und in vielen Fällen ist es überhaupt nicht mehr möglich, die Schäden wieder
gut zu machen: des Schülers Schönheitssinn ist gänzlich unentwickelt, die Frische
seiner Empfänglichkeit durch planloses Hernmtappen an Dingen, für die sein Ver¬
ständnis noch nicht reif war, verloren, er hat keine Lust mehr, Anfängerstudien
zu treiben, und so bleibt's denn immer etwas Halbes; ganz abgesehen von den
Pekuniären Opfern, die durch eine solche musikalische Erziehung nutzlos ge¬
bracht sind.

Will man diesen Übelsiänden ausweichen, so muß auf dem Gebiete der
Kunst das Publikum dieselbe Justiz üben, die auf dem Gebiete der Wissenschaft
der Staat übt. Wie dort niemand zum Unterrichte zugelassen wird, der in
seinem Fache nicht sein Examen gemacht hat, so sollte auch niemand sein Kind
einem Musiklehrer zum Unterrichten anvertrauen, der nicht in seinem Fache eine
Probe bestanden hat, oder wenigstens imstande ist, eine solche abzulegen. Diese
Probe müßte darin bestehen, daß entweder der Lehrer selbst auf dem Instru¬
mente, auf welchem er unterrichtet, tüchtiges leistet, oder daß er sich als einen
kenntnisreichen, gebildeten Künstler dokumentirt hat, oder aber, und dies unter
allen Umständen, daß er imstande ist, die pädagogischen Grundsätze eines guten
Musikunterrichts im Zusammenhange zu entwickeln. Wie dies zu erfahren, wenn
der betreffende Musiklehrer nicht zufällig eine Abhandlung über Musikunterricht
verfaßt hat, mag allerdings manchmal schwierig sein, allein es ließe sich viel¬
leicht in der Weise einrichten, daß sich an jedem größern Orte die tüchtigen,
gebildeten und bewährten Musiker vereinigten, und eine Art Kunsttribunal bil¬
deten, das nach Art der Meistersingerzunft niemand unter sich aufnähme, der
nicht eine genügende Probe seiner Kenntnisse und Fähigkeiten abzulegen vermag.
Dadurch würden wenigstens alle jüngern Musiker, welche die Bahn des Musik¬
lehrers betreten wollen, gezwungen, sich für ihren Beruf gründlich vorzubereiten,
und so würde nach und nach dem Überhandnehmen des Künstlerproletariats,
durch welches zur Zeit in enormem Maße sowohl das Publikum als auch die
tüchtigen Musiklehrer und Künstler geschädigt werden, Einhalt gethan. Wirk¬
lich künstlerische Bildung, die trotz der vielen Musikmacherei ziemlich selten ist,
würde allgemeiner werden; mit der erhöhten Befähigung, das Schöne in ver-
schiednen Formen zu genießen, würde die krankhafte Kritisirungswut, die sich


Musikalische Erziehung.

Nun ist es doch der Wunsch aller derer, welche sich mit der Kunst befassen,
zum mindesten ein Verständnis dafür zu erlangen, um Genuß daran haben
zu können, aber es ist leider ebenso wahr, daß der Weg des Unterrichts, der
dazu eingeschlagen wird, für die Stadien des Anfüngertums, in denen der Grund
für alle spätere Entwicklung gelegt werden soll, vielfach, wenn nicht meistens,
ein ganz verkehrter ist. Wenn es der Zufall will, daß ein jahrelang unrichtig
geleiteter Schüler, der Talent zeigt, in die Hände eines guten Lehrers kommt,
so muß wieder von vorn angefangen werden — das Ablegen falscher Ange¬
wohnheiten ist ohnehin zeitraubender und mühseliger als das Neustudiren —,
und in vielen Fällen ist es überhaupt nicht mehr möglich, die Schäden wieder
gut zu machen: des Schülers Schönheitssinn ist gänzlich unentwickelt, die Frische
seiner Empfänglichkeit durch planloses Hernmtappen an Dingen, für die sein Ver¬
ständnis noch nicht reif war, verloren, er hat keine Lust mehr, Anfängerstudien
zu treiben, und so bleibt's denn immer etwas Halbes; ganz abgesehen von den
Pekuniären Opfern, die durch eine solche musikalische Erziehung nutzlos ge¬
bracht sind.

Will man diesen Übelsiänden ausweichen, so muß auf dem Gebiete der
Kunst das Publikum dieselbe Justiz üben, die auf dem Gebiete der Wissenschaft
der Staat übt. Wie dort niemand zum Unterrichte zugelassen wird, der in
seinem Fache nicht sein Examen gemacht hat, so sollte auch niemand sein Kind
einem Musiklehrer zum Unterrichten anvertrauen, der nicht in seinem Fache eine
Probe bestanden hat, oder wenigstens imstande ist, eine solche abzulegen. Diese
Probe müßte darin bestehen, daß entweder der Lehrer selbst auf dem Instru¬
mente, auf welchem er unterrichtet, tüchtiges leistet, oder daß er sich als einen
kenntnisreichen, gebildeten Künstler dokumentirt hat, oder aber, und dies unter
allen Umständen, daß er imstande ist, die pädagogischen Grundsätze eines guten
Musikunterrichts im Zusammenhange zu entwickeln. Wie dies zu erfahren, wenn
der betreffende Musiklehrer nicht zufällig eine Abhandlung über Musikunterricht
verfaßt hat, mag allerdings manchmal schwierig sein, allein es ließe sich viel¬
leicht in der Weise einrichten, daß sich an jedem größern Orte die tüchtigen,
gebildeten und bewährten Musiker vereinigten, und eine Art Kunsttribunal bil¬
deten, das nach Art der Meistersingerzunft niemand unter sich aufnähme, der
nicht eine genügende Probe seiner Kenntnisse und Fähigkeiten abzulegen vermag.
Dadurch würden wenigstens alle jüngern Musiker, welche die Bahn des Musik¬
lehrers betreten wollen, gezwungen, sich für ihren Beruf gründlich vorzubereiten,
und so würde nach und nach dem Überhandnehmen des Künstlerproletariats,
durch welches zur Zeit in enormem Maße sowohl das Publikum als auch die
tüchtigen Musiklehrer und Künstler geschädigt werden, Einhalt gethan. Wirk¬
lich künstlerische Bildung, die trotz der vielen Musikmacherei ziemlich selten ist,
würde allgemeiner werden; mit der erhöhten Befähigung, das Schöne in ver-
schiednen Formen zu genießen, würde die krankhafte Kritisirungswut, die sich


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[0619] Musikalische Erziehung. Nun ist es doch der Wunsch aller derer, welche sich mit der Kunst befassen, zum mindesten ein Verständnis dafür zu erlangen, um Genuß daran haben zu können, aber es ist leider ebenso wahr, daß der Weg des Unterrichts, der dazu eingeschlagen wird, für die Stadien des Anfüngertums, in denen der Grund für alle spätere Entwicklung gelegt werden soll, vielfach, wenn nicht meistens, ein ganz verkehrter ist. Wenn es der Zufall will, daß ein jahrelang unrichtig geleiteter Schüler, der Talent zeigt, in die Hände eines guten Lehrers kommt, so muß wieder von vorn angefangen werden — das Ablegen falscher Ange¬ wohnheiten ist ohnehin zeitraubender und mühseliger als das Neustudiren —, und in vielen Fällen ist es überhaupt nicht mehr möglich, die Schäden wieder gut zu machen: des Schülers Schönheitssinn ist gänzlich unentwickelt, die Frische seiner Empfänglichkeit durch planloses Hernmtappen an Dingen, für die sein Ver¬ ständnis noch nicht reif war, verloren, er hat keine Lust mehr, Anfängerstudien zu treiben, und so bleibt's denn immer etwas Halbes; ganz abgesehen von den Pekuniären Opfern, die durch eine solche musikalische Erziehung nutzlos ge¬ bracht sind. Will man diesen Übelsiänden ausweichen, so muß auf dem Gebiete der Kunst das Publikum dieselbe Justiz üben, die auf dem Gebiete der Wissenschaft der Staat übt. Wie dort niemand zum Unterrichte zugelassen wird, der in seinem Fache nicht sein Examen gemacht hat, so sollte auch niemand sein Kind einem Musiklehrer zum Unterrichten anvertrauen, der nicht in seinem Fache eine Probe bestanden hat, oder wenigstens imstande ist, eine solche abzulegen. Diese Probe müßte darin bestehen, daß entweder der Lehrer selbst auf dem Instru¬ mente, auf welchem er unterrichtet, tüchtiges leistet, oder daß er sich als einen kenntnisreichen, gebildeten Künstler dokumentirt hat, oder aber, und dies unter allen Umständen, daß er imstande ist, die pädagogischen Grundsätze eines guten Musikunterrichts im Zusammenhange zu entwickeln. Wie dies zu erfahren, wenn der betreffende Musiklehrer nicht zufällig eine Abhandlung über Musikunterricht verfaßt hat, mag allerdings manchmal schwierig sein, allein es ließe sich viel¬ leicht in der Weise einrichten, daß sich an jedem größern Orte die tüchtigen, gebildeten und bewährten Musiker vereinigten, und eine Art Kunsttribunal bil¬ deten, das nach Art der Meistersingerzunft niemand unter sich aufnähme, der nicht eine genügende Probe seiner Kenntnisse und Fähigkeiten abzulegen vermag. Dadurch würden wenigstens alle jüngern Musiker, welche die Bahn des Musik¬ lehrers betreten wollen, gezwungen, sich für ihren Beruf gründlich vorzubereiten, und so würde nach und nach dem Überhandnehmen des Künstlerproletariats, durch welches zur Zeit in enormem Maße sowohl das Publikum als auch die tüchtigen Musiklehrer und Künstler geschädigt werden, Einhalt gethan. Wirk¬ lich künstlerische Bildung, die trotz der vielen Musikmacherei ziemlich selten ist, würde allgemeiner werden; mit der erhöhten Befähigung, das Schöne in ver- schiednen Formen zu genießen, würde die krankhafte Kritisirungswut, die sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/619>, abgerufen am 01.07.2024.