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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Musikalische Erziehung.

wir in dieser Beziehung selbst an denjenigen Bildungsstätten, welche durch das
Studium des Altertums und der alten Sprachen eine humanistische Bildung
erstreben, unserm angeblichen Bildungsideale durchaus nicht nachstreben, indem
wir uns wohl mit dem linguistischen Teil der alten Literatur, aber nur sehr
wenig mit dem künstlerischen befassen. Thatsächlich ist in unsern öffentlichen
Erziehungsanstalten die Kunst als Bildungsmittel sogut wie ausgeschlossen, und
da man um die Sache nicht damit gut sein lassen kann, daß man die Kunst
als unnötig oder mindestens unwichtig bei der Erziehung übergeht, so muß diese
Lücke in unserm Erziehungssystem auf eine andre Weise ausgefüllt werden.
Ersteres wird aber nicht gut möglich sein, denn die Anlage zur Kunst, die
Neigung zu künstlerischem Bilden ist ein so integrirender Bestandteil der mensch¬
lichen Natur, daß sie sich überall bemerkbar macht und hervordrängt, und wenn
dieser Trieb in unsrer vorwiegend auf wissenschaftliche Zwecke gerichteten Er¬
ziehungsmethode nicht genügende Pflege findet, so wird er sich entweder in will¬
kürlicher, isolirter, dem Zufall preisgegebener Beschäftigung der einzelnen zer¬
splittern, oder es muß eine Privatlehrthätigkeit versuchen, diesen Trieb in die
richtigen Bahnen zu lenken, damit das allgemeine Geistesleben der heranwach¬
senden Jngend nicht verständnislos den reichen Schätzen der Kunst gegenüber
heranwachse, sondern aller der harmonischen menschlichen Ausbildung zu Gute
kommenden Einflüsse teilhaftig werde, die ihr aus dem Verständnis der Kunst
und aus der Beschäftigung mit derselben zufließen können. Wenn wir dadurch
den antiken Vorbildern unsrer Kultur uns wieder mehr nähern würden, so
bliebe trotzdem immer noch die Selbständigkeit unsrer Zeit und unsers Volks¬
charakters insofern gewahrt, als wir ja, ebenso wie die Alten, eine nationale
Kunst haben. Aber während es bei den Alten mehr die plastischen Künste waren,
welche im Vordergrund des Interesses standen, sind es bei uns, die wir durch
ein andres Klima an einer der griechischen ähnlichen Pflege der plastischen
Künste gehindert sind, mehr die Poesie und Musik, die den Mittelpunkt unsers
künstlerischen Lebens ausmachen, und unter diesen wiederum die letztere, die
nicht nur ein allgemeines Interesse genießt, sondern sich auch mehr als jede
andre Kunst eignet, allgemein, auch von bescheidnen Talenten, ausgeübt zu
werden. Da dies nun thatsächlich in überreichen Maße geschieht, so ist es
ganz natürlich, daß die Pflege der Musik ein Gegenstand ist, der es verdient,
daß mau sehr reiflich über die Art und Weise, wie er betrieben ist, nachdenke.

Wenn wir uns als Ziel der Beschäftigung mit der Musik die Erlangung
einer gewissen Fertigkeit in der praktischen Ausübung, sowie eines noch über die
durch die letztere bedingte Beschränkung hinausreichenden Verständnisses denken,
so sind es zweierlei Dinge, die als Mittel zum Zweck hier in Betracht kommen,
nämlich das Studium eines bestimmten Zweiges der ausübenden Kunst (Klavier,
Violine, Gesang ?c.) und das Anhören von musikalischen Aufführungen. Diese
beiden Faktoren müssen so gehandhabt werden, daß sie vor allem den Sinn


Musikalische Erziehung.

wir in dieser Beziehung selbst an denjenigen Bildungsstätten, welche durch das
Studium des Altertums und der alten Sprachen eine humanistische Bildung
erstreben, unserm angeblichen Bildungsideale durchaus nicht nachstreben, indem
wir uns wohl mit dem linguistischen Teil der alten Literatur, aber nur sehr
wenig mit dem künstlerischen befassen. Thatsächlich ist in unsern öffentlichen
Erziehungsanstalten die Kunst als Bildungsmittel sogut wie ausgeschlossen, und
da man um die Sache nicht damit gut sein lassen kann, daß man die Kunst
als unnötig oder mindestens unwichtig bei der Erziehung übergeht, so muß diese
Lücke in unserm Erziehungssystem auf eine andre Weise ausgefüllt werden.
Ersteres wird aber nicht gut möglich sein, denn die Anlage zur Kunst, die
Neigung zu künstlerischem Bilden ist ein so integrirender Bestandteil der mensch¬
lichen Natur, daß sie sich überall bemerkbar macht und hervordrängt, und wenn
dieser Trieb in unsrer vorwiegend auf wissenschaftliche Zwecke gerichteten Er¬
ziehungsmethode nicht genügende Pflege findet, so wird er sich entweder in will¬
kürlicher, isolirter, dem Zufall preisgegebener Beschäftigung der einzelnen zer¬
splittern, oder es muß eine Privatlehrthätigkeit versuchen, diesen Trieb in die
richtigen Bahnen zu lenken, damit das allgemeine Geistesleben der heranwach¬
senden Jngend nicht verständnislos den reichen Schätzen der Kunst gegenüber
heranwachse, sondern aller der harmonischen menschlichen Ausbildung zu Gute
kommenden Einflüsse teilhaftig werde, die ihr aus dem Verständnis der Kunst
und aus der Beschäftigung mit derselben zufließen können. Wenn wir dadurch
den antiken Vorbildern unsrer Kultur uns wieder mehr nähern würden, so
bliebe trotzdem immer noch die Selbständigkeit unsrer Zeit und unsers Volks¬
charakters insofern gewahrt, als wir ja, ebenso wie die Alten, eine nationale
Kunst haben. Aber während es bei den Alten mehr die plastischen Künste waren,
welche im Vordergrund des Interesses standen, sind es bei uns, die wir durch
ein andres Klima an einer der griechischen ähnlichen Pflege der plastischen
Künste gehindert sind, mehr die Poesie und Musik, die den Mittelpunkt unsers
künstlerischen Lebens ausmachen, und unter diesen wiederum die letztere, die
nicht nur ein allgemeines Interesse genießt, sondern sich auch mehr als jede
andre Kunst eignet, allgemein, auch von bescheidnen Talenten, ausgeübt zu
werden. Da dies nun thatsächlich in überreichen Maße geschieht, so ist es
ganz natürlich, daß die Pflege der Musik ein Gegenstand ist, der es verdient,
daß mau sehr reiflich über die Art und Weise, wie er betrieben ist, nachdenke.

Wenn wir uns als Ziel der Beschäftigung mit der Musik die Erlangung
einer gewissen Fertigkeit in der praktischen Ausübung, sowie eines noch über die
durch die letztere bedingte Beschränkung hinausreichenden Verständnisses denken,
so sind es zweierlei Dinge, die als Mittel zum Zweck hier in Betracht kommen,
nämlich das Studium eines bestimmten Zweiges der ausübenden Kunst (Klavier,
Violine, Gesang ?c.) und das Anhören von musikalischen Aufführungen. Diese
beiden Faktoren müssen so gehandhabt werden, daß sie vor allem den Sinn


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[0614] Musikalische Erziehung. wir in dieser Beziehung selbst an denjenigen Bildungsstätten, welche durch das Studium des Altertums und der alten Sprachen eine humanistische Bildung erstreben, unserm angeblichen Bildungsideale durchaus nicht nachstreben, indem wir uns wohl mit dem linguistischen Teil der alten Literatur, aber nur sehr wenig mit dem künstlerischen befassen. Thatsächlich ist in unsern öffentlichen Erziehungsanstalten die Kunst als Bildungsmittel sogut wie ausgeschlossen, und da man um die Sache nicht damit gut sein lassen kann, daß man die Kunst als unnötig oder mindestens unwichtig bei der Erziehung übergeht, so muß diese Lücke in unserm Erziehungssystem auf eine andre Weise ausgefüllt werden. Ersteres wird aber nicht gut möglich sein, denn die Anlage zur Kunst, die Neigung zu künstlerischem Bilden ist ein so integrirender Bestandteil der mensch¬ lichen Natur, daß sie sich überall bemerkbar macht und hervordrängt, und wenn dieser Trieb in unsrer vorwiegend auf wissenschaftliche Zwecke gerichteten Er¬ ziehungsmethode nicht genügende Pflege findet, so wird er sich entweder in will¬ kürlicher, isolirter, dem Zufall preisgegebener Beschäftigung der einzelnen zer¬ splittern, oder es muß eine Privatlehrthätigkeit versuchen, diesen Trieb in die richtigen Bahnen zu lenken, damit das allgemeine Geistesleben der heranwach¬ senden Jngend nicht verständnislos den reichen Schätzen der Kunst gegenüber heranwachse, sondern aller der harmonischen menschlichen Ausbildung zu Gute kommenden Einflüsse teilhaftig werde, die ihr aus dem Verständnis der Kunst und aus der Beschäftigung mit derselben zufließen können. Wenn wir dadurch den antiken Vorbildern unsrer Kultur uns wieder mehr nähern würden, so bliebe trotzdem immer noch die Selbständigkeit unsrer Zeit und unsers Volks¬ charakters insofern gewahrt, als wir ja, ebenso wie die Alten, eine nationale Kunst haben. Aber während es bei den Alten mehr die plastischen Künste waren, welche im Vordergrund des Interesses standen, sind es bei uns, die wir durch ein andres Klima an einer der griechischen ähnlichen Pflege der plastischen Künste gehindert sind, mehr die Poesie und Musik, die den Mittelpunkt unsers künstlerischen Lebens ausmachen, und unter diesen wiederum die letztere, die nicht nur ein allgemeines Interesse genießt, sondern sich auch mehr als jede andre Kunst eignet, allgemein, auch von bescheidnen Talenten, ausgeübt zu werden. Da dies nun thatsächlich in überreichen Maße geschieht, so ist es ganz natürlich, daß die Pflege der Musik ein Gegenstand ist, der es verdient, daß mau sehr reiflich über die Art und Weise, wie er betrieben ist, nachdenke. Wenn wir uns als Ziel der Beschäftigung mit der Musik die Erlangung einer gewissen Fertigkeit in der praktischen Ausübung, sowie eines noch über die durch die letztere bedingte Beschränkung hinausreichenden Verständnisses denken, so sind es zweierlei Dinge, die als Mittel zum Zweck hier in Betracht kommen, nämlich das Studium eines bestimmten Zweiges der ausübenden Kunst (Klavier, Violine, Gesang ?c.) und das Anhören von musikalischen Aufführungen. Diese beiden Faktoren müssen so gehandhabt werden, daß sie vor allem den Sinn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/614>, abgerufen am 01.07.2024.