Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.Musikalische Erziehung. für Schönheit und Vollkommenheit entwickeln, sowohl was die Wiedergabe von Musikalische Erziehung. für Schönheit und Vollkommenheit entwickeln, sowohl was die Wiedergabe von <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0615" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/153364"/> <fw type="header" place="top"> Musikalische Erziehung.</fw><lb/> <p xml:id="ID_2353" prev="#ID_2352" next="#ID_2354"> für Schönheit und Vollkommenheit entwickeln, sowohl was die Wiedergabe von<lb/> Musikstücken als auch den Inhalt der zu Gehör gelangenden Tonstücke betrifft.<lb/> So sehr man um auch in der Theorie darüber einig sein wird, so wenig scheint<lb/> mau es in der Praxis zu sein, und von der richtigen Anwendung der Theorie<lb/> ist doch der praktische Erfolg abhängig. Man trennt nämlich in der Praxis<lb/> nicht genug das Schöne vom Bedeutenden, obwohl auch etwas sehr Anspruchs¬<lb/> loses schön sein kann, und vergißt, daß der Schönheitsbegriff nicht etwas Fertiges<lb/> ist, sondern etwas, was sich in jedem Menschen erst allmählich entwickelt. Wenn<lb/> man nun jemand Kunstwerke zu hören giebt, für die sein Verständnis noch<lb/> nicht reif ist, so wird dies einmal zur Erweckung seines Schönheitssinnes nichts<lb/> beitragen, andrerseits überhaupt das Aufkeimen einer Ahnung von dem innigen<lb/> Zusammenhange der Kunst mit dem innern Leben nicht aufkommen lassen, denn<lb/> diese kann erst da sich entwickeln, wo das vorgeführte Musikstück dem Hörenden<lb/> einen wirklichen freudigen oder rührenden Eindruck macht. Was der Hörende<lb/> mit Ausschluß seines innern Anteils von irgend einer künstlerischen Reproduktion<lb/> noch in sich aufnimmt, ist etwas ganz Äußerliches, Mechanisches, und wer von<lb/> Natur ein richtiges Gehör hat, kann es in diesem Falle sogar dazu bringen,<lb/> daß er etwaige Mängel in der Ausführung, falsche Noten ?e. bemerkt. Es giebt<lb/> in der That manche, denen ihre Beschäftigung mit der Musik weiter nichts ein¬<lb/> gebracht hat, als Fehler zu hören und dies um als Beweis von Verständnis<lb/> zu betrachten. Anders gestaltet sich die Sache, wenn der Zuhörende in dem<lb/> ihm vorgeführten Stücke geistig mitlebt und empfindet; sein lebhaftes Mit¬<lb/> empfinden läßt ihm unter Umständen kleine Mängel der Ausführung entgehen,<lb/> wenn ihn das Ganze fesselt, und trotzdem ist auf seiner Seite das richtigere<lb/> Verständnis und Verhältnis zum Kunstwerk vorhanden. Daraus folgt, daß es<lb/> die erste Aufgabe einer musikalischen Erziehung ist, die künstlerische Nahrung<lb/> dem Auffassungsvermögen des Lernenden genau anzupassen. Wenn dies in der<lb/> Weise geschieht, daß dadurch das Gemüt des Lernenden in wirklich künstlerische<lb/> Erregung versetzt wird, so ist es auch unzweifelhaft, daß das gesamte geistige<lb/> Leben durch die Nachwirkungen künstlerischer Stimmungen beeinflußt werdeu<lb/> muß. Denn die Stimmungen, denen die menschliche Seele unterliegt, sind ma߬<lb/> gebend für die gesamte Anschauung und Auffassung der Dinge, und je häufiger<lb/> die Momente wahrhafter innerer Erbauung und Ergriffenheit sind, umsomehr<lb/> wird nach und nach das ganze Stimnmngsuivwu des innern Lebens sich er¬<lb/> höhen und veredeln. Dieser Behauptung gegenüber gewährt nun ein Blick auf<lb/> die Wirklichkeit manchmal ganz sonderbare Dinge, Dinge, welche dieser Behaup¬<lb/> tung gänzlich zu widersprechen scheinen. Vor allem ist es ein gewisser kritischer<lb/> Geist, der in unsrer Zeit den Ton des künstlerischen Lebens in einer Weise be¬<lb/> herrscht, daß man manchmal meinen könnte, die Kunst werde nicht mehr betrieben,<lb/> um Genuß daran zu haben, sondern um darüber zu urteilen, d. h. um den<lb/> Genuß daran nicht in der Sache, sondern in dem Urteil über die Sache zu</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0615]
Musikalische Erziehung.
für Schönheit und Vollkommenheit entwickeln, sowohl was die Wiedergabe von
Musikstücken als auch den Inhalt der zu Gehör gelangenden Tonstücke betrifft.
So sehr man um auch in der Theorie darüber einig sein wird, so wenig scheint
mau es in der Praxis zu sein, und von der richtigen Anwendung der Theorie
ist doch der praktische Erfolg abhängig. Man trennt nämlich in der Praxis
nicht genug das Schöne vom Bedeutenden, obwohl auch etwas sehr Anspruchs¬
loses schön sein kann, und vergißt, daß der Schönheitsbegriff nicht etwas Fertiges
ist, sondern etwas, was sich in jedem Menschen erst allmählich entwickelt. Wenn
man nun jemand Kunstwerke zu hören giebt, für die sein Verständnis noch
nicht reif ist, so wird dies einmal zur Erweckung seines Schönheitssinnes nichts
beitragen, andrerseits überhaupt das Aufkeimen einer Ahnung von dem innigen
Zusammenhange der Kunst mit dem innern Leben nicht aufkommen lassen, denn
diese kann erst da sich entwickeln, wo das vorgeführte Musikstück dem Hörenden
einen wirklichen freudigen oder rührenden Eindruck macht. Was der Hörende
mit Ausschluß seines innern Anteils von irgend einer künstlerischen Reproduktion
noch in sich aufnimmt, ist etwas ganz Äußerliches, Mechanisches, und wer von
Natur ein richtiges Gehör hat, kann es in diesem Falle sogar dazu bringen,
daß er etwaige Mängel in der Ausführung, falsche Noten ?e. bemerkt. Es giebt
in der That manche, denen ihre Beschäftigung mit der Musik weiter nichts ein¬
gebracht hat, als Fehler zu hören und dies um als Beweis von Verständnis
zu betrachten. Anders gestaltet sich die Sache, wenn der Zuhörende in dem
ihm vorgeführten Stücke geistig mitlebt und empfindet; sein lebhaftes Mit¬
empfinden läßt ihm unter Umständen kleine Mängel der Ausführung entgehen,
wenn ihn das Ganze fesselt, und trotzdem ist auf seiner Seite das richtigere
Verständnis und Verhältnis zum Kunstwerk vorhanden. Daraus folgt, daß es
die erste Aufgabe einer musikalischen Erziehung ist, die künstlerische Nahrung
dem Auffassungsvermögen des Lernenden genau anzupassen. Wenn dies in der
Weise geschieht, daß dadurch das Gemüt des Lernenden in wirklich künstlerische
Erregung versetzt wird, so ist es auch unzweifelhaft, daß das gesamte geistige
Leben durch die Nachwirkungen künstlerischer Stimmungen beeinflußt werdeu
muß. Denn die Stimmungen, denen die menschliche Seele unterliegt, sind ma߬
gebend für die gesamte Anschauung und Auffassung der Dinge, und je häufiger
die Momente wahrhafter innerer Erbauung und Ergriffenheit sind, umsomehr
wird nach und nach das ganze Stimnmngsuivwu des innern Lebens sich er¬
höhen und veredeln. Dieser Behauptung gegenüber gewährt nun ein Blick auf
die Wirklichkeit manchmal ganz sonderbare Dinge, Dinge, welche dieser Behaup¬
tung gänzlich zu widersprechen scheinen. Vor allem ist es ein gewisser kritischer
Geist, der in unsrer Zeit den Ton des künstlerischen Lebens in einer Weise be¬
herrscht, daß man manchmal meinen könnte, die Kunst werde nicht mehr betrieben,
um Genuß daran zu haben, sondern um darüber zu urteilen, d. h. um den
Genuß daran nicht in der Sache, sondern in dem Urteil über die Sache zu
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