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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Pompejanische Spaziergänge.

Tertius: Freund, du bist allzu häßlich!"*) Da hört freilich die Diskus¬
sion auf.

Alles kann ich hier natürlich nicht anführen. Ich will die Erlaubnis, die
sonst der lateinischen Sprache gewährt wird, die Erlaubnis, daß sie ungestraft
den Anstand verletzen darf, hier nicht mißbrauchen. Wollte ich es wagen, jene
liederlichen Inschriften mitzuteilen, die zu den Malereien des geheimen Kabinets
im Museum von Neapel so gut stimmen, so würde ich von der Moralität der
Bewohner von Pompeji eine sehr üble Vorstellung erwecken, und, was das
schlimmste ist, diese Vorstellung würde der Wirklichkeit durchaus entsprechen.
Man gefiel sich damals allgemein in der Behauptung, die Sitten seien in
den Provinzen weit besser als in Rom. Tacitus und Plinius rühmen gern
bei jeder Gelegenheit das ehrbare und frugale Leben in den italienischen Land¬
städten; wenn man sie hört, möchte man fast glauben, daß, wenn Rom das
Stelldichein aller Laster war, gleich hinter der Serviusmauer das Reich der
Tugend angefangen habe. Zu dieser Anschauung wird wohl ein wenig jene be¬
kannte Täuschung beigetragen haben, die uns glauben läßt, daß wir überall
besser daran seien als da, wo wir uns eben befinden. Jedenfalls trifft jene
Meinung für die Stadt, mit der wir uns hier beschäftigen, nicht zu. Möglich,
daß in Rom die Tugend durchaus nicht zu finden war; unbedingt sicher ist es,
daß man sie in Pompeji auch nicht suchen durfte. Lag doch diese reizende Stadt
in einer bezaubernden Landschaft, wo alles zum üppigen Lebensgenuß anregt,
wo der Sammetglanz der Ccimpagna, die lauen Lüfte, die sanft gerundeten
Bergzüge, die weichen Biegungen der Flüsse und der Thäler ebenso viele ver¬
führerische Reize sind für die Sinne, die wie auf weichen Kissen ruhen, entrückt
allem Kampf und aller Erdenschwere. Sie war die Nachbarin Neapels, das
schon damals das müßige Neapel (odiosa Usg,xo1is) hieß; ihr gerade gegenüber
lag Bajä, der lieblichste Ort der Welt, aber auch einer der sittenlosesten --
Bajä, von dessen schönen Besucherinnen Martial sagt: "Eine Penelope kam,
Helena eilt sie davon."*) So vereinigte sich hier alles, um aus dieser Land¬
schaft eine der Tugend gefährliche Stätte zu machen, und Inschriften wie Kunst¬
werke beweisen uns, daß auch Pompeji der mächtigen Verführung durch Klima
und Beispiel nicht widerstanden hat.

Welche Dienste diese Wahlempfehlungen, diese ernsten oder heitern Kund¬
gebungen des städtischen Lebens und Treibens, diese von lustigen Schülern
im Vorübergehen an die Wände gekritzelten Scherze, diese teils naiven, teils
rohen Äußerungen von Liebenden oder Wüstlingen uns leisten, springt in die
Augen. Wir besaßen die Straßen und die Häuser von Pompeji, aber leer und
stumm; nun ist's, als gäben uns die Inschriften und die ZMM die Bewohner
zurück. Wie ein Wiederhall des Lebens unter sie uns an. Pompeji belebt




Martial I, 62.
*) (?. I. 1.. IV, 1831. VirZuls, Isrtio su,o: inäoosns es. --
Pompejanische Spaziergänge.

Tertius: Freund, du bist allzu häßlich!"*) Da hört freilich die Diskus¬
sion auf.

Alles kann ich hier natürlich nicht anführen. Ich will die Erlaubnis, die
sonst der lateinischen Sprache gewährt wird, die Erlaubnis, daß sie ungestraft
den Anstand verletzen darf, hier nicht mißbrauchen. Wollte ich es wagen, jene
liederlichen Inschriften mitzuteilen, die zu den Malereien des geheimen Kabinets
im Museum von Neapel so gut stimmen, so würde ich von der Moralität der
Bewohner von Pompeji eine sehr üble Vorstellung erwecken, und, was das
schlimmste ist, diese Vorstellung würde der Wirklichkeit durchaus entsprechen.
Man gefiel sich damals allgemein in der Behauptung, die Sitten seien in
den Provinzen weit besser als in Rom. Tacitus und Plinius rühmen gern
bei jeder Gelegenheit das ehrbare und frugale Leben in den italienischen Land¬
städten; wenn man sie hört, möchte man fast glauben, daß, wenn Rom das
Stelldichein aller Laster war, gleich hinter der Serviusmauer das Reich der
Tugend angefangen habe. Zu dieser Anschauung wird wohl ein wenig jene be¬
kannte Täuschung beigetragen haben, die uns glauben läßt, daß wir überall
besser daran seien als da, wo wir uns eben befinden. Jedenfalls trifft jene
Meinung für die Stadt, mit der wir uns hier beschäftigen, nicht zu. Möglich,
daß in Rom die Tugend durchaus nicht zu finden war; unbedingt sicher ist es,
daß man sie in Pompeji auch nicht suchen durfte. Lag doch diese reizende Stadt
in einer bezaubernden Landschaft, wo alles zum üppigen Lebensgenuß anregt,
wo der Sammetglanz der Ccimpagna, die lauen Lüfte, die sanft gerundeten
Bergzüge, die weichen Biegungen der Flüsse und der Thäler ebenso viele ver¬
führerische Reize sind für die Sinne, die wie auf weichen Kissen ruhen, entrückt
allem Kampf und aller Erdenschwere. Sie war die Nachbarin Neapels, das
schon damals das müßige Neapel (odiosa Usg,xo1is) hieß; ihr gerade gegenüber
lag Bajä, der lieblichste Ort der Welt, aber auch einer der sittenlosesten —
Bajä, von dessen schönen Besucherinnen Martial sagt: „Eine Penelope kam,
Helena eilt sie davon."*) So vereinigte sich hier alles, um aus dieser Land¬
schaft eine der Tugend gefährliche Stätte zu machen, und Inschriften wie Kunst¬
werke beweisen uns, daß auch Pompeji der mächtigen Verführung durch Klima
und Beispiel nicht widerstanden hat.

Welche Dienste diese Wahlempfehlungen, diese ernsten oder heitern Kund¬
gebungen des städtischen Lebens und Treibens, diese von lustigen Schülern
im Vorübergehen an die Wände gekritzelten Scherze, diese teils naiven, teils
rohen Äußerungen von Liebenden oder Wüstlingen uns leisten, springt in die
Augen. Wir besaßen die Straßen und die Häuser von Pompeji, aber leer und
stumm; nun ist's, als gäben uns die Inschriften und die ZMM die Bewohner
zurück. Wie ein Wiederhall des Lebens unter sie uns an. Pompeji belebt




Martial I, 62.
*) (?. I. 1.. IV, 1831. VirZuls, Isrtio su,o: inäoosns es. —
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[0612] Pompejanische Spaziergänge. Tertius: Freund, du bist allzu häßlich!"*) Da hört freilich die Diskus¬ sion auf. Alles kann ich hier natürlich nicht anführen. Ich will die Erlaubnis, die sonst der lateinischen Sprache gewährt wird, die Erlaubnis, daß sie ungestraft den Anstand verletzen darf, hier nicht mißbrauchen. Wollte ich es wagen, jene liederlichen Inschriften mitzuteilen, die zu den Malereien des geheimen Kabinets im Museum von Neapel so gut stimmen, so würde ich von der Moralität der Bewohner von Pompeji eine sehr üble Vorstellung erwecken, und, was das schlimmste ist, diese Vorstellung würde der Wirklichkeit durchaus entsprechen. Man gefiel sich damals allgemein in der Behauptung, die Sitten seien in den Provinzen weit besser als in Rom. Tacitus und Plinius rühmen gern bei jeder Gelegenheit das ehrbare und frugale Leben in den italienischen Land¬ städten; wenn man sie hört, möchte man fast glauben, daß, wenn Rom das Stelldichein aller Laster war, gleich hinter der Serviusmauer das Reich der Tugend angefangen habe. Zu dieser Anschauung wird wohl ein wenig jene be¬ kannte Täuschung beigetragen haben, die uns glauben läßt, daß wir überall besser daran seien als da, wo wir uns eben befinden. Jedenfalls trifft jene Meinung für die Stadt, mit der wir uns hier beschäftigen, nicht zu. Möglich, daß in Rom die Tugend durchaus nicht zu finden war; unbedingt sicher ist es, daß man sie in Pompeji auch nicht suchen durfte. Lag doch diese reizende Stadt in einer bezaubernden Landschaft, wo alles zum üppigen Lebensgenuß anregt, wo der Sammetglanz der Ccimpagna, die lauen Lüfte, die sanft gerundeten Bergzüge, die weichen Biegungen der Flüsse und der Thäler ebenso viele ver¬ führerische Reize sind für die Sinne, die wie auf weichen Kissen ruhen, entrückt allem Kampf und aller Erdenschwere. Sie war die Nachbarin Neapels, das schon damals das müßige Neapel (odiosa Usg,xo1is) hieß; ihr gerade gegenüber lag Bajä, der lieblichste Ort der Welt, aber auch einer der sittenlosesten — Bajä, von dessen schönen Besucherinnen Martial sagt: „Eine Penelope kam, Helena eilt sie davon."*) So vereinigte sich hier alles, um aus dieser Land¬ schaft eine der Tugend gefährliche Stätte zu machen, und Inschriften wie Kunst¬ werke beweisen uns, daß auch Pompeji der mächtigen Verführung durch Klima und Beispiel nicht widerstanden hat. Welche Dienste diese Wahlempfehlungen, diese ernsten oder heitern Kund¬ gebungen des städtischen Lebens und Treibens, diese von lustigen Schülern im Vorübergehen an die Wände gekritzelten Scherze, diese teils naiven, teils rohen Äußerungen von Liebenden oder Wüstlingen uns leisten, springt in die Augen. Wir besaßen die Straßen und die Häuser von Pompeji, aber leer und stumm; nun ist's, als gäben uns die Inschriften und die ZMM die Bewohner zurück. Wie ein Wiederhall des Lebens unter sie uns an. Pompeji belebt Martial I, 62. *) (?. I. 1.. IV, 1831. VirZuls, Isrtio su,o: inäoosns es. —

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/612>, abgerufen am 01.07.2024.