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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Zur Auslegung Kants.

diesen Formen allgemein menschliche Anschauungsmeisen und aus ihnen fol¬
gende allgemeingiltige und notwendige Gesetze von ihm ausdrücklich anerkannt
werden. Rücksichtlich der "Materie" der Empfindung jedoch, in Bezug auf die
Qualitäten von Farbe, Ton, Geschmack, Tasteindrücken u. s. w., hörten wir ihn
auf die "Wirkungen der besondern Organisation" und die "subjektive Beschaffen¬
heit der Sinnesart" doch in einem Sinne hinweisen, der wenigstens die Mög¬
lichkeit einschloß, daß vielleicht diese "Veränderungen unsers Subjekts" bei ver-
schiednen Menschen verschieden sein könnten. Wieder ein sehr gallertartiges
"könnten"! -- wird Krause hierbei ausrufen (vergl. S. 103 seiner Schrift);
aber -- wir lasen es bei Kant. Die Beschränkung auf das Individuelle des
Empfindungsmaterials versteht sich für den innern Sinn von selbst, durch den
wir ja doch nur unser eignes Ich kennen lernen. Wenn nun aber nach Kant
(a. a. O. 43, in allen Aufl.) "alle Vorstellungen, sie mögen nnn äußere Dinge
zum Gegenstande haben oder nicht, doch an sich selbst, als Bestimmungen des
Gemüts, zum innern Zustande gehören," ja sogar in der "innern Anschauung"
die Vorstellungen äußerer Sinne "den eigentlichen Stoff ausmachen, womit wir
unser Gemüt besetzen" (716, 2. Aufl.), so konnte wenigstens in Bezug auf das
Material der Empfindung schwerlich Kants Lehre der Konsequenz des indivi¬
duellen Subjektivismus entgehen. Einen gleich heftige" Kampf, wie gegen diesen,
führt Krause gegen das "In uns." Z. B. S, 102: "Was sehe ich denn?
Meine Empfindung? Sehe ich meine Empfindung grün? Nimmermehr! Ich
sehe den Gegenstand, welcher grün ist, auf Grund meiner Empfindung, Wo
sehe ich denn den Gegenstand? In mir? In meinem Raum? In meinem
Gehirn oder auf der Retina? Nimmermehr! Ich sehe den Gegenstand außer
meinem Auge, außer meinen Beinen, diese selbst außer meinem Kopfe und diesen
selbst gewiß nicht in meiner Empfindung." Bitte um Entschuldigung! Ich
sehe niemals einen Gegenstand, z. B. einen Schrank, einen Baum, meine Beine;
ich sehe immer nur farbige Flecken in bestimmter Raumgröße und Raumfigur;
und diese Flecken sehen im Spiegel ebenso aus wie außerhalb des Spiegels,
und in der Hallucination gerade so wie im gesunden Zustande. Warum aber
entnimmt Krause seine Beispiele immer nur vom Sehen? Rieche ich etwa
"Gegenstände," höre ich "Gegenstünde"? Doch ich laste sie wohl? Ich laste,
d. h. ich habe Druck- oder Stichgefühle oder dergleichen; ich fühle Schmerz in der
Stirn, wenn ich mit dem Kopfe gegen die Wand stoße, aber ist denn mein
Schmerz -- eine Wand? Was nun die Frage anlangt, wo wir sehen, so ist
ja vollkommen richtig, daß wir unser Körperbild neben den nächsten Bildern
äußerer Gegenstünde und diese neben den ferneren sehen und alles zusammen in
einem gemeinsamen Raume, unsern Kopf aber, von dem wir nur die Nasenspitze
schimmern sehen, mitsamt seinen Jnnenteilen entsprechend in diesen gemeinsamen
Raum hineindenken. Das heißt nach Kant: Die unserm Subjekt angehörigen Ge-
sichtsempfinduugen verarbeiten wir durch die unserm Subjekt angehörige An-


Zur Auslegung Kants.

diesen Formen allgemein menschliche Anschauungsmeisen und aus ihnen fol¬
gende allgemeingiltige und notwendige Gesetze von ihm ausdrücklich anerkannt
werden. Rücksichtlich der „Materie" der Empfindung jedoch, in Bezug auf die
Qualitäten von Farbe, Ton, Geschmack, Tasteindrücken u. s. w., hörten wir ihn
auf die „Wirkungen der besondern Organisation" und die „subjektive Beschaffen¬
heit der Sinnesart" doch in einem Sinne hinweisen, der wenigstens die Mög¬
lichkeit einschloß, daß vielleicht diese „Veränderungen unsers Subjekts" bei ver-
schiednen Menschen verschieden sein könnten. Wieder ein sehr gallertartiges
„könnten"! — wird Krause hierbei ausrufen (vergl. S. 103 seiner Schrift);
aber — wir lasen es bei Kant. Die Beschränkung auf das Individuelle des
Empfindungsmaterials versteht sich für den innern Sinn von selbst, durch den
wir ja doch nur unser eignes Ich kennen lernen. Wenn nun aber nach Kant
(a. a. O. 43, in allen Aufl.) „alle Vorstellungen, sie mögen nnn äußere Dinge
zum Gegenstande haben oder nicht, doch an sich selbst, als Bestimmungen des
Gemüts, zum innern Zustande gehören," ja sogar in der „innern Anschauung"
die Vorstellungen äußerer Sinne „den eigentlichen Stoff ausmachen, womit wir
unser Gemüt besetzen" (716, 2. Aufl.), so konnte wenigstens in Bezug auf das
Material der Empfindung schwerlich Kants Lehre der Konsequenz des indivi¬
duellen Subjektivismus entgehen. Einen gleich heftige» Kampf, wie gegen diesen,
führt Krause gegen das „In uns." Z. B. S, 102: „Was sehe ich denn?
Meine Empfindung? Sehe ich meine Empfindung grün? Nimmermehr! Ich
sehe den Gegenstand, welcher grün ist, auf Grund meiner Empfindung, Wo
sehe ich denn den Gegenstand? In mir? In meinem Raum? In meinem
Gehirn oder auf der Retina? Nimmermehr! Ich sehe den Gegenstand außer
meinem Auge, außer meinen Beinen, diese selbst außer meinem Kopfe und diesen
selbst gewiß nicht in meiner Empfindung." Bitte um Entschuldigung! Ich
sehe niemals einen Gegenstand, z. B. einen Schrank, einen Baum, meine Beine;
ich sehe immer nur farbige Flecken in bestimmter Raumgröße und Raumfigur;
und diese Flecken sehen im Spiegel ebenso aus wie außerhalb des Spiegels,
und in der Hallucination gerade so wie im gesunden Zustande. Warum aber
entnimmt Krause seine Beispiele immer nur vom Sehen? Rieche ich etwa
„Gegenstände," höre ich „Gegenstünde"? Doch ich laste sie wohl? Ich laste,
d. h. ich habe Druck- oder Stichgefühle oder dergleichen; ich fühle Schmerz in der
Stirn, wenn ich mit dem Kopfe gegen die Wand stoße, aber ist denn mein
Schmerz — eine Wand? Was nun die Frage anlangt, wo wir sehen, so ist
ja vollkommen richtig, daß wir unser Körperbild neben den nächsten Bildern
äußerer Gegenstünde und diese neben den ferneren sehen und alles zusammen in
einem gemeinsamen Raume, unsern Kopf aber, von dem wir nur die Nasenspitze
schimmern sehen, mitsamt seinen Jnnenteilen entsprechend in diesen gemeinsamen
Raum hineindenken. Das heißt nach Kant: Die unserm Subjekt angehörigen Ge-
sichtsempfinduugen verarbeiten wir durch die unserm Subjekt angehörige An-


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[0599] Zur Auslegung Kants. diesen Formen allgemein menschliche Anschauungsmeisen und aus ihnen fol¬ gende allgemeingiltige und notwendige Gesetze von ihm ausdrücklich anerkannt werden. Rücksichtlich der „Materie" der Empfindung jedoch, in Bezug auf die Qualitäten von Farbe, Ton, Geschmack, Tasteindrücken u. s. w., hörten wir ihn auf die „Wirkungen der besondern Organisation" und die „subjektive Beschaffen¬ heit der Sinnesart" doch in einem Sinne hinweisen, der wenigstens die Mög¬ lichkeit einschloß, daß vielleicht diese „Veränderungen unsers Subjekts" bei ver- schiednen Menschen verschieden sein könnten. Wieder ein sehr gallertartiges „könnten"! — wird Krause hierbei ausrufen (vergl. S. 103 seiner Schrift); aber — wir lasen es bei Kant. Die Beschränkung auf das Individuelle des Empfindungsmaterials versteht sich für den innern Sinn von selbst, durch den wir ja doch nur unser eignes Ich kennen lernen. Wenn nun aber nach Kant (a. a. O. 43, in allen Aufl.) „alle Vorstellungen, sie mögen nnn äußere Dinge zum Gegenstande haben oder nicht, doch an sich selbst, als Bestimmungen des Gemüts, zum innern Zustande gehören," ja sogar in der „innern Anschauung" die Vorstellungen äußerer Sinne „den eigentlichen Stoff ausmachen, womit wir unser Gemüt besetzen" (716, 2. Aufl.), so konnte wenigstens in Bezug auf das Material der Empfindung schwerlich Kants Lehre der Konsequenz des indivi¬ duellen Subjektivismus entgehen. Einen gleich heftige» Kampf, wie gegen diesen, führt Krause gegen das „In uns." Z. B. S, 102: „Was sehe ich denn? Meine Empfindung? Sehe ich meine Empfindung grün? Nimmermehr! Ich sehe den Gegenstand, welcher grün ist, auf Grund meiner Empfindung, Wo sehe ich denn den Gegenstand? In mir? In meinem Raum? In meinem Gehirn oder auf der Retina? Nimmermehr! Ich sehe den Gegenstand außer meinem Auge, außer meinen Beinen, diese selbst außer meinem Kopfe und diesen selbst gewiß nicht in meiner Empfindung." Bitte um Entschuldigung! Ich sehe niemals einen Gegenstand, z. B. einen Schrank, einen Baum, meine Beine; ich sehe immer nur farbige Flecken in bestimmter Raumgröße und Raumfigur; und diese Flecken sehen im Spiegel ebenso aus wie außerhalb des Spiegels, und in der Hallucination gerade so wie im gesunden Zustande. Warum aber entnimmt Krause seine Beispiele immer nur vom Sehen? Rieche ich etwa „Gegenstände," höre ich „Gegenstünde"? Doch ich laste sie wohl? Ich laste, d. h. ich habe Druck- oder Stichgefühle oder dergleichen; ich fühle Schmerz in der Stirn, wenn ich mit dem Kopfe gegen die Wand stoße, aber ist denn mein Schmerz — eine Wand? Was nun die Frage anlangt, wo wir sehen, so ist ja vollkommen richtig, daß wir unser Körperbild neben den nächsten Bildern äußerer Gegenstünde und diese neben den ferneren sehen und alles zusammen in einem gemeinsamen Raume, unsern Kopf aber, von dem wir nur die Nasenspitze schimmern sehen, mitsamt seinen Jnnenteilen entsprechend in diesen gemeinsamen Raum hineindenken. Das heißt nach Kant: Die unserm Subjekt angehörigen Ge- sichtsempfinduugen verarbeiten wir durch die unserm Subjekt angehörige An-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/599>, abgerufen am 22.07.2024.