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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Zur Auslegung Kants.

Diese Stellen finden sich wörtlich so in allen Auflagen der "Kritik der
reinen Vernunft." Die Parenthesen sind von Kant selbst. Der gesperrte Druck
dagegen ist hier erst angeordnet worden. Sogleich hier möge auch darauf hin¬
gewiesen sein, daß die gewählten Stellen wiederholt das Unerkennbare nicht
"Ding an sich," sondern "Gegenstand an sich" nennen, welche letztre Bezeichnung
sogar in diesen Partien des Werkes häufiger ist als die andre, und außerdem
mit "Sache an sich" oder "Objekt an sich" oder "transscendentales Objekt"
wechselt.

Jedenfalls zum Teil ist die oben dargestellte gewöhnliche Ansicht hiernach
von Kant darüber enttäuscht worden, daß sie wisse, wie die existirenden Gegen¬
stände, Dinge, Wesen, Personen, auch das eigne Selbst, wirklich beschaffen seien. Die
gewöhnliche Ansicht meinte, zu dieser wirklichen Beschaffenheit auch Raum und
Zeit, Gestalt, Größe, Dauer, Bewegung, Veränderung in der Zeit rechnen zu
dürfen. Dies zum allermindesten muß sie nach Kant aufgeben. Die Frage
liegt nahe, was dann noch von jenem vermeinten Wissen übrig bleibe, oder
welches Wissen an die Stelle trete. An die Stelle tritt vor allem das Negative:
wir wissen, daß das wirklich Seiende, Körper und Geister, Äußeres wie Inneres,
nicht räumlich und zeitlich existirt, daß es überhaupt keinen Raum und keine
Zeit, also auch keine Gestalt, keine Raumgröße, keine Zeitdauer, keine Bewegung
wirklich giebt. Nicht einmal unsre Vorstellungen und Seelenzustände aller Art,
hörten wir, sind wirklich in der Zeit und wechseln zeitlich, sondern wir Menschen
sind nur durch ein inneres Gesetz unsers Wesens genötigt, unser Inneres so vor¬
zustellen, als wenn es in der Zeit wäre. Ist nun nach Kant diese negative
Kenntnis von den Dingen etwa unser ganzes Wissen von denselben? Bleibt
kein positives Wisse" übrig, wenn Raum und Zeit dahinfallen? Raum und Zeit
sind bloße Formen. Bleibt vielleicht doch der Inhalt übrig, den diese Formen
nur begrenzten und gestalteten? Dieser Inhalt, die Materie, so hörten wir, von
allem, was wir überhaupt, oder mindestens von dem, was wir durch Wahr¬
nehmung kennen, ist die Empfindung. An der zuletzt zitirten Stelle wurde
auch die Empfindung zur bloße" Erscheinung gerechnet, zu "unsrer Art, die
Gegenstände wahrzunehmen," und wurde entschieden verneint, daß wir dnrch sie
die Gegenstände kennen lernen, wie sie an sich selbst sind. Es wird jedoch
nützlich sein, den alten Meister auch noch über die Empfindung im besondern
abzuhören.

A. u. O. 17: Erfahrung ist ohne Zweifel das erste Produkt, welches unser
Verstand hervorbringt, indem er den rohen Stoff sinnlicher Empfindungen bear¬
beitet. -- 28: Nur soviel scheint zur Einleitung oder Vorerinnerung nötig zu
sein, daß es zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis gebe, die vielleicht aus
einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten ^"bekannten" ist Druckfehlers Wurzel
entspringen, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, durch deren ersteren uns
Gegenstände gegeben, durch den zweiten aber gedacht werden. -- 31: Die
Fähigkeit (Rezeptivität), Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen


Zur Auslegung Kants.

Diese Stellen finden sich wörtlich so in allen Auflagen der „Kritik der
reinen Vernunft." Die Parenthesen sind von Kant selbst. Der gesperrte Druck
dagegen ist hier erst angeordnet worden. Sogleich hier möge auch darauf hin¬
gewiesen sein, daß die gewählten Stellen wiederholt das Unerkennbare nicht
„Ding an sich," sondern „Gegenstand an sich" nennen, welche letztre Bezeichnung
sogar in diesen Partien des Werkes häufiger ist als die andre, und außerdem
mit „Sache an sich" oder „Objekt an sich" oder „transscendentales Objekt"
wechselt.

Jedenfalls zum Teil ist die oben dargestellte gewöhnliche Ansicht hiernach
von Kant darüber enttäuscht worden, daß sie wisse, wie die existirenden Gegen¬
stände, Dinge, Wesen, Personen, auch das eigne Selbst, wirklich beschaffen seien. Die
gewöhnliche Ansicht meinte, zu dieser wirklichen Beschaffenheit auch Raum und
Zeit, Gestalt, Größe, Dauer, Bewegung, Veränderung in der Zeit rechnen zu
dürfen. Dies zum allermindesten muß sie nach Kant aufgeben. Die Frage
liegt nahe, was dann noch von jenem vermeinten Wissen übrig bleibe, oder
welches Wissen an die Stelle trete. An die Stelle tritt vor allem das Negative:
wir wissen, daß das wirklich Seiende, Körper und Geister, Äußeres wie Inneres,
nicht räumlich und zeitlich existirt, daß es überhaupt keinen Raum und keine
Zeit, also auch keine Gestalt, keine Raumgröße, keine Zeitdauer, keine Bewegung
wirklich giebt. Nicht einmal unsre Vorstellungen und Seelenzustände aller Art,
hörten wir, sind wirklich in der Zeit und wechseln zeitlich, sondern wir Menschen
sind nur durch ein inneres Gesetz unsers Wesens genötigt, unser Inneres so vor¬
zustellen, als wenn es in der Zeit wäre. Ist nun nach Kant diese negative
Kenntnis von den Dingen etwa unser ganzes Wissen von denselben? Bleibt
kein positives Wisse» übrig, wenn Raum und Zeit dahinfallen? Raum und Zeit
sind bloße Formen. Bleibt vielleicht doch der Inhalt übrig, den diese Formen
nur begrenzten und gestalteten? Dieser Inhalt, die Materie, so hörten wir, von
allem, was wir überhaupt, oder mindestens von dem, was wir durch Wahr¬
nehmung kennen, ist die Empfindung. An der zuletzt zitirten Stelle wurde
auch die Empfindung zur bloße« Erscheinung gerechnet, zu „unsrer Art, die
Gegenstände wahrzunehmen," und wurde entschieden verneint, daß wir dnrch sie
die Gegenstände kennen lernen, wie sie an sich selbst sind. Es wird jedoch
nützlich sein, den alten Meister auch noch über die Empfindung im besondern
abzuhören.

A. u. O. 17: Erfahrung ist ohne Zweifel das erste Produkt, welches unser
Verstand hervorbringt, indem er den rohen Stoff sinnlicher Empfindungen bear¬
beitet. — 28: Nur soviel scheint zur Einleitung oder Vorerinnerung nötig zu
sein, daß es zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis gebe, die vielleicht aus
einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten ^„bekannten" ist Druckfehlers Wurzel
entspringen, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, durch deren ersteren uns
Gegenstände gegeben, durch den zweiten aber gedacht werden. — 31: Die
Fähigkeit (Rezeptivität), Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen


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[0594] Zur Auslegung Kants. Diese Stellen finden sich wörtlich so in allen Auflagen der „Kritik der reinen Vernunft." Die Parenthesen sind von Kant selbst. Der gesperrte Druck dagegen ist hier erst angeordnet worden. Sogleich hier möge auch darauf hin¬ gewiesen sein, daß die gewählten Stellen wiederholt das Unerkennbare nicht „Ding an sich," sondern „Gegenstand an sich" nennen, welche letztre Bezeichnung sogar in diesen Partien des Werkes häufiger ist als die andre, und außerdem mit „Sache an sich" oder „Objekt an sich" oder „transscendentales Objekt" wechselt. Jedenfalls zum Teil ist die oben dargestellte gewöhnliche Ansicht hiernach von Kant darüber enttäuscht worden, daß sie wisse, wie die existirenden Gegen¬ stände, Dinge, Wesen, Personen, auch das eigne Selbst, wirklich beschaffen seien. Die gewöhnliche Ansicht meinte, zu dieser wirklichen Beschaffenheit auch Raum und Zeit, Gestalt, Größe, Dauer, Bewegung, Veränderung in der Zeit rechnen zu dürfen. Dies zum allermindesten muß sie nach Kant aufgeben. Die Frage liegt nahe, was dann noch von jenem vermeinten Wissen übrig bleibe, oder welches Wissen an die Stelle trete. An die Stelle tritt vor allem das Negative: wir wissen, daß das wirklich Seiende, Körper und Geister, Äußeres wie Inneres, nicht räumlich und zeitlich existirt, daß es überhaupt keinen Raum und keine Zeit, also auch keine Gestalt, keine Raumgröße, keine Zeitdauer, keine Bewegung wirklich giebt. Nicht einmal unsre Vorstellungen und Seelenzustände aller Art, hörten wir, sind wirklich in der Zeit und wechseln zeitlich, sondern wir Menschen sind nur durch ein inneres Gesetz unsers Wesens genötigt, unser Inneres so vor¬ zustellen, als wenn es in der Zeit wäre. Ist nun nach Kant diese negative Kenntnis von den Dingen etwa unser ganzes Wissen von denselben? Bleibt kein positives Wisse» übrig, wenn Raum und Zeit dahinfallen? Raum und Zeit sind bloße Formen. Bleibt vielleicht doch der Inhalt übrig, den diese Formen nur begrenzten und gestalteten? Dieser Inhalt, die Materie, so hörten wir, von allem, was wir überhaupt, oder mindestens von dem, was wir durch Wahr¬ nehmung kennen, ist die Empfindung. An der zuletzt zitirten Stelle wurde auch die Empfindung zur bloße« Erscheinung gerechnet, zu „unsrer Art, die Gegenstände wahrzunehmen," und wurde entschieden verneint, daß wir dnrch sie die Gegenstände kennen lernen, wie sie an sich selbst sind. Es wird jedoch nützlich sein, den alten Meister auch noch über die Empfindung im besondern abzuhören. A. u. O. 17: Erfahrung ist ohne Zweifel das erste Produkt, welches unser Verstand hervorbringt, indem er den rohen Stoff sinnlicher Empfindungen bear¬ beitet. — 28: Nur soviel scheint zur Einleitung oder Vorerinnerung nötig zu sein, daß es zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis gebe, die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten ^„bekannten" ist Druckfehlers Wurzel entspringen, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, durch deren ersteren uns Gegenstände gegeben, durch den zweiten aber gedacht werden. — 31: Die Fähigkeit (Rezeptivität), Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/594>, abgerufen am 22.07.2024.