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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Zur Auslegung Uants.

hindurch behalten, und wie sie auch Kant in seiner eignen durch Natur und
Erziehung erworbenen Überzeugung vorfinden mußte, ehe er zu philosophiren
anfing. Diese gewöhnliche Ansicht ist in Bezug auf die Fragen, welche Kants
berühmtes Hauptwerk beschäftigen, die folgende. Es existirt ein unendlich großer
Raum, ausgedehnt nach oben und unten, nach rechts und links, nach vorn und
hinten. Es verläuft eine unendliche Zeit vom gegenwärtigen Augenblicke an
in die Zukunft hinaus, und eine unendliche Zeit ist verlaufen bis zum gegen
wcirtigen Augenblicke. In jenem Raume befinden und bewegen sich Körper
aller Art, die je einen Teil des großen Gesamtraumes ausfüllen, jeder gleichfalls
ausgedehnt nach Höhe, Breite und Dicke in bestimmter Größe und Gestalt.
Im Innern der Körper giebt es bisweilen auch Geist, so im Innern unsers
eignen Körpers, und ein besondres, unkörperliches, unausgedehntes Wesen als
Träger dieses Geistes, welches gewöhnlich Seele heißt. Es giebt auch reine
Geister ohne Körper, oder reine Seelen; ein solcher Geist ist Gott, der Urheber
dieses Weltganzen. Die Seelen oder Geister sind unsterblich. Innerhalb der
Zeit verläuft alles, was geschieht, und dauert alles, was dauert; es erfüllt,
während es geschieht oder dauert, einen Abschnitt der großen unendlichen Ge¬
samtzeit von bestimmter meßbarer Größe, oder es erfüllt die ganze unend¬
liche Zeit und hat sie von jeher erfüllt, so das Dasein Gottes. Einiges von
dem hier gesagten -- bemerkt dieselbe gewöhnliche Ansicht hinzu -- weiß mau,
andres glaubt man nur. Man weiß vor allem, daß räumliche Körper im
Raume existiren und wie sie von außen beschaffen sind. Dies weiß man durch
die eigne oder durch andrer sinnliche Wahrnehmung, oder indem man wieder
aus sinnlichen Wahrnehmungen bündige Schlüsse zog auf vorhandene Körper,
die noch kein Mensch wahrgenommen hat, wie z. B. aus gewissen Farbcnspektren
auf gewisse auf der Sonne verdampfende Mineralien. Man weiß ferner, daß über¬
haupt alles, was existirt, Körperliches und Geistiges, im Raume und in der Zeit
existirt. Was sagt uun Kant zu dieser Ansicht? Worin hat seine Vernunft-
kritik ihr etwa widerspochcu und Gegenteiliges gelehrt? Lassen wir ihn selbst
reden. Zunächst über Raum und Zeit.

Kritik der reinen Vernunft (Rosenkranz), S. 34: Vermittelst des
äußern Sinnes stellen wir uns Gegenstände als außer uns, und diese insgesamt
im Raume vor. -- Alles, was zu den innern Bestimmungen gehört, wird in
den Verhältnissen der Zeit vorgestellt. Äußerlich kann die Zeit nicht angeschaut
werden, so wenig wie der Raum, als etwas in uns. Was sind nun Raum
und Zeit? Sind es wirkliche Wesen? -- oder Verhältnisse der Dinge, die nur
an der Form der Anschauung allein haften, und mithin an der subjektiven Be¬
schaffenheit unsers Gemüts? -- 36: Der Raum stellt gar keine Eigenschaft irgend
einiger Dinge an sich, oder sie in ihrem Verhältnis auf einander vor, d. i. keine
Bestimmung derselben, die an Gegenständen selbst haftete, und welche bliebe,
wenn man auch von allen subjektiven Bedingungen der Anschauung abstrahirte. --
37: Wir können demnach nur aus dem Standpunkte eines Menschen vom


Zur Auslegung Uants.

hindurch behalten, und wie sie auch Kant in seiner eignen durch Natur und
Erziehung erworbenen Überzeugung vorfinden mußte, ehe er zu philosophiren
anfing. Diese gewöhnliche Ansicht ist in Bezug auf die Fragen, welche Kants
berühmtes Hauptwerk beschäftigen, die folgende. Es existirt ein unendlich großer
Raum, ausgedehnt nach oben und unten, nach rechts und links, nach vorn und
hinten. Es verläuft eine unendliche Zeit vom gegenwärtigen Augenblicke an
in die Zukunft hinaus, und eine unendliche Zeit ist verlaufen bis zum gegen
wcirtigen Augenblicke. In jenem Raume befinden und bewegen sich Körper
aller Art, die je einen Teil des großen Gesamtraumes ausfüllen, jeder gleichfalls
ausgedehnt nach Höhe, Breite und Dicke in bestimmter Größe und Gestalt.
Im Innern der Körper giebt es bisweilen auch Geist, so im Innern unsers
eignen Körpers, und ein besondres, unkörperliches, unausgedehntes Wesen als
Träger dieses Geistes, welches gewöhnlich Seele heißt. Es giebt auch reine
Geister ohne Körper, oder reine Seelen; ein solcher Geist ist Gott, der Urheber
dieses Weltganzen. Die Seelen oder Geister sind unsterblich. Innerhalb der
Zeit verläuft alles, was geschieht, und dauert alles, was dauert; es erfüllt,
während es geschieht oder dauert, einen Abschnitt der großen unendlichen Ge¬
samtzeit von bestimmter meßbarer Größe, oder es erfüllt die ganze unend¬
liche Zeit und hat sie von jeher erfüllt, so das Dasein Gottes. Einiges von
dem hier gesagten — bemerkt dieselbe gewöhnliche Ansicht hinzu — weiß mau,
andres glaubt man nur. Man weiß vor allem, daß räumliche Körper im
Raume existiren und wie sie von außen beschaffen sind. Dies weiß man durch
die eigne oder durch andrer sinnliche Wahrnehmung, oder indem man wieder
aus sinnlichen Wahrnehmungen bündige Schlüsse zog auf vorhandene Körper,
die noch kein Mensch wahrgenommen hat, wie z. B. aus gewissen Farbcnspektren
auf gewisse auf der Sonne verdampfende Mineralien. Man weiß ferner, daß über¬
haupt alles, was existirt, Körperliches und Geistiges, im Raume und in der Zeit
existirt. Was sagt uun Kant zu dieser Ansicht? Worin hat seine Vernunft-
kritik ihr etwa widerspochcu und Gegenteiliges gelehrt? Lassen wir ihn selbst
reden. Zunächst über Raum und Zeit.

Kritik der reinen Vernunft (Rosenkranz), S. 34: Vermittelst des
äußern Sinnes stellen wir uns Gegenstände als außer uns, und diese insgesamt
im Raume vor. — Alles, was zu den innern Bestimmungen gehört, wird in
den Verhältnissen der Zeit vorgestellt. Äußerlich kann die Zeit nicht angeschaut
werden, so wenig wie der Raum, als etwas in uns. Was sind nun Raum
und Zeit? Sind es wirkliche Wesen? — oder Verhältnisse der Dinge, die nur
an der Form der Anschauung allein haften, und mithin an der subjektiven Be¬
schaffenheit unsers Gemüts? — 36: Der Raum stellt gar keine Eigenschaft irgend
einiger Dinge an sich, oder sie in ihrem Verhältnis auf einander vor, d. i. keine
Bestimmung derselben, die an Gegenständen selbst haftete, und welche bliebe,
wenn man auch von allen subjektiven Bedingungen der Anschauung abstrahirte. —
37: Wir können demnach nur aus dem Standpunkte eines Menschen vom


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[0592] Zur Auslegung Uants. hindurch behalten, und wie sie auch Kant in seiner eignen durch Natur und Erziehung erworbenen Überzeugung vorfinden mußte, ehe er zu philosophiren anfing. Diese gewöhnliche Ansicht ist in Bezug auf die Fragen, welche Kants berühmtes Hauptwerk beschäftigen, die folgende. Es existirt ein unendlich großer Raum, ausgedehnt nach oben und unten, nach rechts und links, nach vorn und hinten. Es verläuft eine unendliche Zeit vom gegenwärtigen Augenblicke an in die Zukunft hinaus, und eine unendliche Zeit ist verlaufen bis zum gegen wcirtigen Augenblicke. In jenem Raume befinden und bewegen sich Körper aller Art, die je einen Teil des großen Gesamtraumes ausfüllen, jeder gleichfalls ausgedehnt nach Höhe, Breite und Dicke in bestimmter Größe und Gestalt. Im Innern der Körper giebt es bisweilen auch Geist, so im Innern unsers eignen Körpers, und ein besondres, unkörperliches, unausgedehntes Wesen als Träger dieses Geistes, welches gewöhnlich Seele heißt. Es giebt auch reine Geister ohne Körper, oder reine Seelen; ein solcher Geist ist Gott, der Urheber dieses Weltganzen. Die Seelen oder Geister sind unsterblich. Innerhalb der Zeit verläuft alles, was geschieht, und dauert alles, was dauert; es erfüllt, während es geschieht oder dauert, einen Abschnitt der großen unendlichen Ge¬ samtzeit von bestimmter meßbarer Größe, oder es erfüllt die ganze unend¬ liche Zeit und hat sie von jeher erfüllt, so das Dasein Gottes. Einiges von dem hier gesagten — bemerkt dieselbe gewöhnliche Ansicht hinzu — weiß mau, andres glaubt man nur. Man weiß vor allem, daß räumliche Körper im Raume existiren und wie sie von außen beschaffen sind. Dies weiß man durch die eigne oder durch andrer sinnliche Wahrnehmung, oder indem man wieder aus sinnlichen Wahrnehmungen bündige Schlüsse zog auf vorhandene Körper, die noch kein Mensch wahrgenommen hat, wie z. B. aus gewissen Farbcnspektren auf gewisse auf der Sonne verdampfende Mineralien. Man weiß ferner, daß über¬ haupt alles, was existirt, Körperliches und Geistiges, im Raume und in der Zeit existirt. Was sagt uun Kant zu dieser Ansicht? Worin hat seine Vernunft- kritik ihr etwa widerspochcu und Gegenteiliges gelehrt? Lassen wir ihn selbst reden. Zunächst über Raum und Zeit. Kritik der reinen Vernunft (Rosenkranz), S. 34: Vermittelst des äußern Sinnes stellen wir uns Gegenstände als außer uns, und diese insgesamt im Raume vor. — Alles, was zu den innern Bestimmungen gehört, wird in den Verhältnissen der Zeit vorgestellt. Äußerlich kann die Zeit nicht angeschaut werden, so wenig wie der Raum, als etwas in uns. Was sind nun Raum und Zeit? Sind es wirkliche Wesen? — oder Verhältnisse der Dinge, die nur an der Form der Anschauung allein haften, und mithin an der subjektiven Be¬ schaffenheit unsers Gemüts? — 36: Der Raum stellt gar keine Eigenschaft irgend einiger Dinge an sich, oder sie in ihrem Verhältnis auf einander vor, d. i. keine Bestimmung derselben, die an Gegenständen selbst haftete, und welche bliebe, wenn man auch von allen subjektiven Bedingungen der Anschauung abstrahirte. — 37: Wir können demnach nur aus dem Standpunkte eines Menschen vom

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/592>, abgerufen am 03.07.2024.