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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Die Gewerbeordnungsnovelle.

oder Verbreitung ansteckender Krankheiten oder Viehseuchen zu einer Freiheits¬
strafe von mindestens drei Monaten verurteilt ist und seit Verbüßung der Strafe
drei Jahre noch nicht verflossen sind; 4. wenn er wegen gewohnheitsmäßiger
Arbeitsscheu, Bettelei, Landstreicherei, Trunksucht übel berüchtigt ist.

In seiner Anwendung auf Hausirer stimmt dieser neue Paragraph fast wört¬
lich mit Z 57 der Gewerbeordnung von 1369 überein. Die Regierungs¬
vorlage wollte zwar demselben eine etwas verschärfte Fassung geben. Bei der
dritten Lesung des Gesetzes stellte aber der Wortführer der Sezessiouisten eine
Reihe von Anträgen, welche die Bestimmungen des Paragraphen auf den frühern
Stand zurückzuführen bezweckten; und diese Anträge wurden in dem damaligen
Würfelspiel der Abstimmungen angenommen. Die Bestimmungen dieses Para¬
graphen an sich können also für die liberalen Parteien nicht Gegenstand einer
Beschwerde sein. Ebenso stand bereits nach der alten Gewerbeordnung fest, daß
der Handelsreisende eines "Legitimationsscheines" bedürfe, und auch hiergegen
wurde jetzt nicht gestritten. Neu ist nur -- und das ist in den Augen der
Nationalzeitung das entsetzliche --, daß auch diese Legitimationskarte versagt
werden soll, wenn die Voraussetzungen von § 57 vorliegen. Die Gründe
für diese Maßregel sind durch die Verhandlungen dargelegt. Seit 1873
haben in den deutschen Ländern die Handlungsreisender sich verdreifacht und
vervierfacht, sodaß z. B. in Baiern die Zahl der gelösten Legitimationskarten
von 1400 auf 4300, in Mecklenburg von 200 auf 800 gestiegen ist. In einen
so zahlreichen und in Zunahme begriffenen Stand drängen sich natürlich auch
viele zweifelhafte Elemente, deren Herumziehen im Lande nicht minder schädlich
wirkt als das Herumziehen anrüchiger Hausirer. Dieser Elemente hofft man
einigermaßen dadurch Herr zu werden, daß man die Ausschließungsgründe für
die Erteilung vou Hausirscheinen auch auf die Erteilung von Legitimationskarten
für Handelsreisende anwendet. Dazu kommt aber noch eins. Wer zu anrüchig
war, um einen Gewerbeschein als Hausirer zu erhalten, hatte ein leichtes Mittel,
diesem Nachteil zu entgehen. Er errichtete zum Schein in seiner Heimat ein
kleines Geschäftchen und zog dann auf eine ihm nicht zu verweigernde Legiti¬
mationskarte als sein eigner Geschäftsreisender in der Welt herum. Damit
setzte er thatsächlich sein Hausirgewerbe fort. Auch dies hat bereits die Erfahrung
ergeben. Sollte daher mit der Vorschrift von Z 57 überhaupt Ernst gemacht
werden, so war es nötig, auch die Legitimationskarte der Geschäftsreisenden
unter diese Vorschrift zu stellen, weil sonst in ihr ein einfaches Mittel zur Um¬
gehung des Gesetzes gegeben war.

Kann nun wohl, möchten wir fragen, ein besonnener und ehrliebender
Kaufmann in seinem Ehrgefühl sich gekränkt und in seinen Interessen sich ge¬
schädigt finden dadurch, daß das Gesetz gebietet: anrüchige Personen, Menschen,
die unter Polizeiaufsicht stehen, die soeben wegen Diebstahls, Betrugs oder
ähnlicher Vergehen im Gefängnis gesessen haben, die als Bettler, Landstreicher


Die Gewerbeordnungsnovelle.

oder Verbreitung ansteckender Krankheiten oder Viehseuchen zu einer Freiheits¬
strafe von mindestens drei Monaten verurteilt ist und seit Verbüßung der Strafe
drei Jahre noch nicht verflossen sind; 4. wenn er wegen gewohnheitsmäßiger
Arbeitsscheu, Bettelei, Landstreicherei, Trunksucht übel berüchtigt ist.

In seiner Anwendung auf Hausirer stimmt dieser neue Paragraph fast wört¬
lich mit Z 57 der Gewerbeordnung von 1369 überein. Die Regierungs¬
vorlage wollte zwar demselben eine etwas verschärfte Fassung geben. Bei der
dritten Lesung des Gesetzes stellte aber der Wortführer der Sezessiouisten eine
Reihe von Anträgen, welche die Bestimmungen des Paragraphen auf den frühern
Stand zurückzuführen bezweckten; und diese Anträge wurden in dem damaligen
Würfelspiel der Abstimmungen angenommen. Die Bestimmungen dieses Para¬
graphen an sich können also für die liberalen Parteien nicht Gegenstand einer
Beschwerde sein. Ebenso stand bereits nach der alten Gewerbeordnung fest, daß
der Handelsreisende eines „Legitimationsscheines" bedürfe, und auch hiergegen
wurde jetzt nicht gestritten. Neu ist nur — und das ist in den Augen der
Nationalzeitung das entsetzliche —, daß auch diese Legitimationskarte versagt
werden soll, wenn die Voraussetzungen von § 57 vorliegen. Die Gründe
für diese Maßregel sind durch die Verhandlungen dargelegt. Seit 1873
haben in den deutschen Ländern die Handlungsreisender sich verdreifacht und
vervierfacht, sodaß z. B. in Baiern die Zahl der gelösten Legitimationskarten
von 1400 auf 4300, in Mecklenburg von 200 auf 800 gestiegen ist. In einen
so zahlreichen und in Zunahme begriffenen Stand drängen sich natürlich auch
viele zweifelhafte Elemente, deren Herumziehen im Lande nicht minder schädlich
wirkt als das Herumziehen anrüchiger Hausirer. Dieser Elemente hofft man
einigermaßen dadurch Herr zu werden, daß man die Ausschließungsgründe für
die Erteilung vou Hausirscheinen auch auf die Erteilung von Legitimationskarten
für Handelsreisende anwendet. Dazu kommt aber noch eins. Wer zu anrüchig
war, um einen Gewerbeschein als Hausirer zu erhalten, hatte ein leichtes Mittel,
diesem Nachteil zu entgehen. Er errichtete zum Schein in seiner Heimat ein
kleines Geschäftchen und zog dann auf eine ihm nicht zu verweigernde Legiti¬
mationskarte als sein eigner Geschäftsreisender in der Welt herum. Damit
setzte er thatsächlich sein Hausirgewerbe fort. Auch dies hat bereits die Erfahrung
ergeben. Sollte daher mit der Vorschrift von Z 57 überhaupt Ernst gemacht
werden, so war es nötig, auch die Legitimationskarte der Geschäftsreisenden
unter diese Vorschrift zu stellen, weil sonst in ihr ein einfaches Mittel zur Um¬
gehung des Gesetzes gegeben war.

Kann nun wohl, möchten wir fragen, ein besonnener und ehrliebender
Kaufmann in seinem Ehrgefühl sich gekränkt und in seinen Interessen sich ge¬
schädigt finden dadurch, daß das Gesetz gebietet: anrüchige Personen, Menschen,
die unter Polizeiaufsicht stehen, die soeben wegen Diebstahls, Betrugs oder
ähnlicher Vergehen im Gefängnis gesessen haben, die als Bettler, Landstreicher


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/588>, abgerufen am 03.07.2024.