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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Die Gewerbeordnungsnovelle.

Sittlichkeit sich bewegt, nicht im Kolportagehandel vertrieben werden kann, doch
noch immer unser Volk, selbst aus dem Wege der Kolportage, sein Lesebedürfnis
vollauf befriedigen können. Und wenn die Nationalzeitung darauf hinweist,
daß beschränkte Köpfe auch Goethes "Wahlverwandtschaften" unsittlich und
Renans "Leben Jesu" irreligiös finden und deren Kolportage verbieten könnten,
so würden wir auch darin noch kein Unglück erblicken. Wer das Bedürfnis
fühlt, solche Schriften zu lesen, kann sie jederzeit aus jedem Buchladen beziehen.
Diejenigen aber, die erst auf dem Wege der Kolportage von ihnen Kenntnis
nehmen, werden ihrer großen Mehrzahl nach dasjenige, was in solchen Schriften
wertvoll ist, doch nicht herauslesen, wohl aber manches, was für sie Gift ist.

Wenn endlich der Artikel der Nationalzeitung als das wahre Mittel zur
Bekämpfung der "Schundliteratur" die Schaffung einer guten Volksliteratur an¬
preist, so sollte man doch endlich auch die hierin liegende Täuschung erkennen.
Es ist durch die Erfahrung erwiesen, daß die gute Literatur die schlechte nicht
zu überwinden vermag, weil diejenigen, welche zum Schlechten hinneigen, sie gar¬
nicht lesen. Jahraus jahrein haben unzählige Blätter sich abgemüht, die Un¬
Haltbarkeit der sozialdemokratischen Lehren in populärster Form darzuthun. Sie
blieben wirkungslos, weil die Sozialdemokratin! sie nicht lasen. Und die Sozial¬
demokratie nahm reißenden Fortgang, bis sie zu den bekannten Katastrophen
führte.

Nach alledem können wir wirklich den Bildungsstand des deutschen Volkes
nicht dadurch für ernstlich gefährdet halten, daß den Kolporteuren -- man kennt
ja diese Leute! -- untersagt werden kann, Schriften von sittlichem oder religiösem
Ärgernis in das Volk zu tragen.*)

Was die Herabwürdigung und Schädigung unsers Kaufmannsftandes betrifft,
so findet der Artikel der Nationalzeitung dieselbe darin, daß die Beschränkungen,
welche Z 57 für die Erteilung von Gewerbescheinen für Hausirer anordnet,
dnrch § 44a der Novelle auch auf die Erteilung von Legitimationskarten für
Handelsreisende anwendbar erklärt sind. Darnach soll der Hausirschein und nun¬
mehr auch die Legitimationskarte für Handelsreisende versagt werden: 1. wenn
der Nachsuchende mit einer abschreckenden oder ansteckenden Krankheit behaftet
oder in einer abschreckenden Weise entstellt ist; 2. wenn er unter Polizeiaufsicht
steht; 3. wenn er wegen strafbarer Handlungen aus Gewinnsucht, gegen das
Eigentum, gegen die Sittlichkeit, wegen vorsätzlicher Angriffe auf das Leben und
die Gesundheit der Menschen, wegen vorsätzlicher Brandstiftung, wegen Zuwider¬
handlungen gegen Verbote oder Sicherungsmaßregeln betreffend Einführung



*) Uns hat es mit großer Befriedigung erfüllt, daß in dritter Lesung der die Kolpor"
tage betreffende Teil des Gesetzes wenigstens in der jetzigen Fassung angenommen worden
ist. Wir betrachten ihn aber nur als eine Abschlagszahlung auf ein Gesetz, dessen Para¬
graphen lauten würden z. B.: Wer unsittliche Schriften um Minderjährige verkauft, wird
D. Red. mit Zuchthaus bis zu -e. bestraft.
Die Gewerbeordnungsnovelle.

Sittlichkeit sich bewegt, nicht im Kolportagehandel vertrieben werden kann, doch
noch immer unser Volk, selbst aus dem Wege der Kolportage, sein Lesebedürfnis
vollauf befriedigen können. Und wenn die Nationalzeitung darauf hinweist,
daß beschränkte Köpfe auch Goethes „Wahlverwandtschaften" unsittlich und
Renans „Leben Jesu" irreligiös finden und deren Kolportage verbieten könnten,
so würden wir auch darin noch kein Unglück erblicken. Wer das Bedürfnis
fühlt, solche Schriften zu lesen, kann sie jederzeit aus jedem Buchladen beziehen.
Diejenigen aber, die erst auf dem Wege der Kolportage von ihnen Kenntnis
nehmen, werden ihrer großen Mehrzahl nach dasjenige, was in solchen Schriften
wertvoll ist, doch nicht herauslesen, wohl aber manches, was für sie Gift ist.

Wenn endlich der Artikel der Nationalzeitung als das wahre Mittel zur
Bekämpfung der „Schundliteratur" die Schaffung einer guten Volksliteratur an¬
preist, so sollte man doch endlich auch die hierin liegende Täuschung erkennen.
Es ist durch die Erfahrung erwiesen, daß die gute Literatur die schlechte nicht
zu überwinden vermag, weil diejenigen, welche zum Schlechten hinneigen, sie gar¬
nicht lesen. Jahraus jahrein haben unzählige Blätter sich abgemüht, die Un¬
Haltbarkeit der sozialdemokratischen Lehren in populärster Form darzuthun. Sie
blieben wirkungslos, weil die Sozialdemokratin! sie nicht lasen. Und die Sozial¬
demokratie nahm reißenden Fortgang, bis sie zu den bekannten Katastrophen
führte.

Nach alledem können wir wirklich den Bildungsstand des deutschen Volkes
nicht dadurch für ernstlich gefährdet halten, daß den Kolporteuren — man kennt
ja diese Leute! — untersagt werden kann, Schriften von sittlichem oder religiösem
Ärgernis in das Volk zu tragen.*)

Was die Herabwürdigung und Schädigung unsers Kaufmannsftandes betrifft,
so findet der Artikel der Nationalzeitung dieselbe darin, daß die Beschränkungen,
welche Z 57 für die Erteilung von Gewerbescheinen für Hausirer anordnet,
dnrch § 44a der Novelle auch auf die Erteilung von Legitimationskarten für
Handelsreisende anwendbar erklärt sind. Darnach soll der Hausirschein und nun¬
mehr auch die Legitimationskarte für Handelsreisende versagt werden: 1. wenn
der Nachsuchende mit einer abschreckenden oder ansteckenden Krankheit behaftet
oder in einer abschreckenden Weise entstellt ist; 2. wenn er unter Polizeiaufsicht
steht; 3. wenn er wegen strafbarer Handlungen aus Gewinnsucht, gegen das
Eigentum, gegen die Sittlichkeit, wegen vorsätzlicher Angriffe auf das Leben und
die Gesundheit der Menschen, wegen vorsätzlicher Brandstiftung, wegen Zuwider¬
handlungen gegen Verbote oder Sicherungsmaßregeln betreffend Einführung



*) Uns hat es mit großer Befriedigung erfüllt, daß in dritter Lesung der die Kolpor»
tage betreffende Teil des Gesetzes wenigstens in der jetzigen Fassung angenommen worden
ist. Wir betrachten ihn aber nur als eine Abschlagszahlung auf ein Gesetz, dessen Para¬
graphen lauten würden z. B.: Wer unsittliche Schriften um Minderjährige verkauft, wird
D. Red. mit Zuchthaus bis zu -e. bestraft.
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[0587] Die Gewerbeordnungsnovelle. Sittlichkeit sich bewegt, nicht im Kolportagehandel vertrieben werden kann, doch noch immer unser Volk, selbst aus dem Wege der Kolportage, sein Lesebedürfnis vollauf befriedigen können. Und wenn die Nationalzeitung darauf hinweist, daß beschränkte Köpfe auch Goethes „Wahlverwandtschaften" unsittlich und Renans „Leben Jesu" irreligiös finden und deren Kolportage verbieten könnten, so würden wir auch darin noch kein Unglück erblicken. Wer das Bedürfnis fühlt, solche Schriften zu lesen, kann sie jederzeit aus jedem Buchladen beziehen. Diejenigen aber, die erst auf dem Wege der Kolportage von ihnen Kenntnis nehmen, werden ihrer großen Mehrzahl nach dasjenige, was in solchen Schriften wertvoll ist, doch nicht herauslesen, wohl aber manches, was für sie Gift ist. Wenn endlich der Artikel der Nationalzeitung als das wahre Mittel zur Bekämpfung der „Schundliteratur" die Schaffung einer guten Volksliteratur an¬ preist, so sollte man doch endlich auch die hierin liegende Täuschung erkennen. Es ist durch die Erfahrung erwiesen, daß die gute Literatur die schlechte nicht zu überwinden vermag, weil diejenigen, welche zum Schlechten hinneigen, sie gar¬ nicht lesen. Jahraus jahrein haben unzählige Blätter sich abgemüht, die Un¬ Haltbarkeit der sozialdemokratischen Lehren in populärster Form darzuthun. Sie blieben wirkungslos, weil die Sozialdemokratin! sie nicht lasen. Und die Sozial¬ demokratie nahm reißenden Fortgang, bis sie zu den bekannten Katastrophen führte. Nach alledem können wir wirklich den Bildungsstand des deutschen Volkes nicht dadurch für ernstlich gefährdet halten, daß den Kolporteuren — man kennt ja diese Leute! — untersagt werden kann, Schriften von sittlichem oder religiösem Ärgernis in das Volk zu tragen.*) Was die Herabwürdigung und Schädigung unsers Kaufmannsftandes betrifft, so findet der Artikel der Nationalzeitung dieselbe darin, daß die Beschränkungen, welche Z 57 für die Erteilung von Gewerbescheinen für Hausirer anordnet, dnrch § 44a der Novelle auch auf die Erteilung von Legitimationskarten für Handelsreisende anwendbar erklärt sind. Darnach soll der Hausirschein und nun¬ mehr auch die Legitimationskarte für Handelsreisende versagt werden: 1. wenn der Nachsuchende mit einer abschreckenden oder ansteckenden Krankheit behaftet oder in einer abschreckenden Weise entstellt ist; 2. wenn er unter Polizeiaufsicht steht; 3. wenn er wegen strafbarer Handlungen aus Gewinnsucht, gegen das Eigentum, gegen die Sittlichkeit, wegen vorsätzlicher Angriffe auf das Leben und die Gesundheit der Menschen, wegen vorsätzlicher Brandstiftung, wegen Zuwider¬ handlungen gegen Verbote oder Sicherungsmaßregeln betreffend Einführung *) Uns hat es mit großer Befriedigung erfüllt, daß in dritter Lesung der die Kolpor» tage betreffende Teil des Gesetzes wenigstens in der jetzigen Fassung angenommen worden ist. Wir betrachten ihn aber nur als eine Abschlagszahlung auf ein Gesetz, dessen Para¬ graphen lauten würden z. B.: Wer unsittliche Schriften um Minderjährige verkauft, wird D. Red. mit Zuchthaus bis zu -e. bestraft.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/587>, abgerufen am 22.07.2024.