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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Die große Kunstausstellung in Berlin.

manchem modernen Dichter gemein hat. Doch unterscheidet er sich, bei allem
Skeptizismus von den verständigen Satirikern andrer Epochen wesentlich, hinter
all seinem Haß birgt sich leidenschaftliche Liebe, hinter seiner Verzweiflung
der heiße Wunsch, daß es ein erlösendes Wort in der Wirrnis der modernen
Verhältnisse geben, daß er der Dichter sein möchte, der das erlösende Wort spräche.

Charakteristisch ist in Ibsens Dramen der Konflikt zwischen den ethischen
Forderungen, mit denen der Dichter den Menschen gegenübertritt, und seiner
Anschauung von der Abhängigkeit des Individuums vom Ererbten, von der Be¬
schränkung des freien Willens. Wahre und freie Menschen erstehen nur durch
eine freie That; worauf es allein ankommt, das ist die Revolutionirung des
Menschengeistes. Denn die erste Aufgabe des Menschen ist und bleibt es, nicht
nach allgemeinen Lehren und Vorschriften zu leben, sondern das Leben zu wagen
nach den Forderungen unsrer eigensten Natur. Wie aber steht es um die "freie
That" bei deuen, welchen Geburt und Blut, Sünde der Borfahren, oder Druck der
eignen Umgebung dieselbe unmöglich gemacht hat? Die sittliche Zurechnungsfähig¬
keit Stensgards, Bernicks und ähnlicher Gestalten Ibsens erscheint wesentlich
vermindert, wenn man in seinem Sinne die Unwiderstehlichkeit der ursprüng¬
lichen Anlagen und der äußern Verhältnisse zugiebt und die freie That andrer
in ihrer Bedeutung herabdrückt. Ibsens Grundanschauung, daß nur die Liebe,
nur die Aufopferung für andre beglücke, hat nur dann den vollen Wert, wenn
jedes Menschenkind dieser Liebe und Aufopferung fähig ist und ihr Mangel alle
anklagt, die sie nicht besitzen.

Paffarges Buch über Ibsen ist ein neuer Beitrag zu den ernsten Be¬
mühungen des Verfassers, uns die Welt des Nordens verständlich und anschaulich
zu machen. Wenn seine panegyrischen Weisen hie und da um einen Ton zu
hoch erklingen, wollen wir nicht darum rechten. Das Verdienst, eine große Dichter-
kraft gewürdigt und andern näher gerückt zu haben, wird durch einige Über¬
^ schätzung nicht aufgehoben.




Die große Kunstausstellung in Berlin.
2.

as Lutherjubiläum, welches wir in diesem Jahre feiern, wird
voraussichtlich, wie an der Musik und an der Dichtkunst, auch
an den bildenden Künsten nicht spurlos vorübergehen, wenn sich
auch nach unsrer Ausstellung kein Maßstab für den Umfang ge¬
winnen läßt, in welchen! die Beteiligung der Kunst an dieser
Feier etwa stattfinden dürfte. Die Künstler als Personen genommen, sowohl


Die große Kunstausstellung in Berlin.

manchem modernen Dichter gemein hat. Doch unterscheidet er sich, bei allem
Skeptizismus von den verständigen Satirikern andrer Epochen wesentlich, hinter
all seinem Haß birgt sich leidenschaftliche Liebe, hinter seiner Verzweiflung
der heiße Wunsch, daß es ein erlösendes Wort in der Wirrnis der modernen
Verhältnisse geben, daß er der Dichter sein möchte, der das erlösende Wort spräche.

Charakteristisch ist in Ibsens Dramen der Konflikt zwischen den ethischen
Forderungen, mit denen der Dichter den Menschen gegenübertritt, und seiner
Anschauung von der Abhängigkeit des Individuums vom Ererbten, von der Be¬
schränkung des freien Willens. Wahre und freie Menschen erstehen nur durch
eine freie That; worauf es allein ankommt, das ist die Revolutionirung des
Menschengeistes. Denn die erste Aufgabe des Menschen ist und bleibt es, nicht
nach allgemeinen Lehren und Vorschriften zu leben, sondern das Leben zu wagen
nach den Forderungen unsrer eigensten Natur. Wie aber steht es um die „freie
That" bei deuen, welchen Geburt und Blut, Sünde der Borfahren, oder Druck der
eignen Umgebung dieselbe unmöglich gemacht hat? Die sittliche Zurechnungsfähig¬
keit Stensgards, Bernicks und ähnlicher Gestalten Ibsens erscheint wesentlich
vermindert, wenn man in seinem Sinne die Unwiderstehlichkeit der ursprüng¬
lichen Anlagen und der äußern Verhältnisse zugiebt und die freie That andrer
in ihrer Bedeutung herabdrückt. Ibsens Grundanschauung, daß nur die Liebe,
nur die Aufopferung für andre beglücke, hat nur dann den vollen Wert, wenn
jedes Menschenkind dieser Liebe und Aufopferung fähig ist und ihr Mangel alle
anklagt, die sie nicht besitzen.

Paffarges Buch über Ibsen ist ein neuer Beitrag zu den ernsten Be¬
mühungen des Verfassers, uns die Welt des Nordens verständlich und anschaulich
zu machen. Wenn seine panegyrischen Weisen hie und da um einen Ton zu
hoch erklingen, wollen wir nicht darum rechten. Das Verdienst, eine große Dichter-
kraft gewürdigt und andern näher gerückt zu haben, wird durch einige Über¬
^ schätzung nicht aufgehoben.




Die große Kunstausstellung in Berlin.
2.

as Lutherjubiläum, welches wir in diesem Jahre feiern, wird
voraussichtlich, wie an der Musik und an der Dichtkunst, auch
an den bildenden Künsten nicht spurlos vorübergehen, wenn sich
auch nach unsrer Ausstellung kein Maßstab für den Umfang ge¬
winnen läßt, in welchen! die Beteiligung der Kunst an dieser
Feier etwa stattfinden dürfte. Die Künstler als Personen genommen, sowohl


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[0518] Die große Kunstausstellung in Berlin. manchem modernen Dichter gemein hat. Doch unterscheidet er sich, bei allem Skeptizismus von den verständigen Satirikern andrer Epochen wesentlich, hinter all seinem Haß birgt sich leidenschaftliche Liebe, hinter seiner Verzweiflung der heiße Wunsch, daß es ein erlösendes Wort in der Wirrnis der modernen Verhältnisse geben, daß er der Dichter sein möchte, der das erlösende Wort spräche. Charakteristisch ist in Ibsens Dramen der Konflikt zwischen den ethischen Forderungen, mit denen der Dichter den Menschen gegenübertritt, und seiner Anschauung von der Abhängigkeit des Individuums vom Ererbten, von der Be¬ schränkung des freien Willens. Wahre und freie Menschen erstehen nur durch eine freie That; worauf es allein ankommt, das ist die Revolutionirung des Menschengeistes. Denn die erste Aufgabe des Menschen ist und bleibt es, nicht nach allgemeinen Lehren und Vorschriften zu leben, sondern das Leben zu wagen nach den Forderungen unsrer eigensten Natur. Wie aber steht es um die „freie That" bei deuen, welchen Geburt und Blut, Sünde der Borfahren, oder Druck der eignen Umgebung dieselbe unmöglich gemacht hat? Die sittliche Zurechnungsfähig¬ keit Stensgards, Bernicks und ähnlicher Gestalten Ibsens erscheint wesentlich vermindert, wenn man in seinem Sinne die Unwiderstehlichkeit der ursprüng¬ lichen Anlagen und der äußern Verhältnisse zugiebt und die freie That andrer in ihrer Bedeutung herabdrückt. Ibsens Grundanschauung, daß nur die Liebe, nur die Aufopferung für andre beglücke, hat nur dann den vollen Wert, wenn jedes Menschenkind dieser Liebe und Aufopferung fähig ist und ihr Mangel alle anklagt, die sie nicht besitzen. Paffarges Buch über Ibsen ist ein neuer Beitrag zu den ernsten Be¬ mühungen des Verfassers, uns die Welt des Nordens verständlich und anschaulich zu machen. Wenn seine panegyrischen Weisen hie und da um einen Ton zu hoch erklingen, wollen wir nicht darum rechten. Das Verdienst, eine große Dichter- kraft gewürdigt und andern näher gerückt zu haben, wird durch einige Über¬ ^ schätzung nicht aufgehoben. Die große Kunstausstellung in Berlin. 2. as Lutherjubiläum, welches wir in diesem Jahre feiern, wird voraussichtlich, wie an der Musik und an der Dichtkunst, auch an den bildenden Künsten nicht spurlos vorübergehen, wenn sich auch nach unsrer Ausstellung kein Maßstab für den Umfang ge¬ winnen läßt, in welchen! die Beteiligung der Kunst an dieser Feier etwa stattfinden dürfte. Die Künstler als Personen genommen, sowohl

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/518>, abgerufen am 22.07.2024.