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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Henrik Ibsen.

einer ähnlichen am Theater zu Christiania, welches 1862 bankerott wurde, Ende
1863 erhielt er wesentlich auf seine große Dichtung "Die Kronprätendenten"
hin ein norwegisches Staatsstipendium von 2700 Mark, ging 1864 nach Rom
und hat seitdem teils in Italien, teils in Deutschland (in München, Dresden
und wiederum in München) gelebt. Diejenigen Werke, denen Paffarge die
größte Bedeutung und die tiefste Eigentümlichkeit zuspricht und von denen er
in seiner Schrift ausführliche Zergliederungen giebt: "Brand," "Peer Gynt,"
"Kaiser und Galiläer," "Der Bund der Tugend," "Die Stützen der Gesell¬
schaft," "Ein Volksfeind," "Nora" und "Gespenster," sowie die Umarbeitung
des Jugendwerkes "Frau Jnger von Onstrot," entstanden während der zwei
Jahrzehnte, welche der Dichter nun schon fern von seinem Vaterlande lebt.

Es ist nicht leicht, eine Gesamtcharakteristik der vornehmen Dichtererscheinung
Ibsens zu geben. Mit dem Schlagwort des "Pessimismus" ist sie keineswegs
abgethan, obschon stark pessimistische Elemente sich in Ibsens Poesie finden und
gelegentlich vorwiegen. Bei dem Ringen nach unbedingter innerer Wahrheit
der Menschendarstellung, einem Ringen, das nur stellenweise mit den Bestrebungen
des spezifischen Naturalismus zusammenfällt und seine volle Berechtigung hat,
bei dem tötlichen Hasse, den Ibsen offenbar gegen alle Lüge und alles Phrcisentum
hegt, wird die haarscharfe Grenzlinie, welche diese Wahrheit und die trostlose
Verzweiflung an Welt und Menschen von einander trennt, gelegentlich leicht
überschritten. In dem Lustspiel "Die Komödie der Liebe" schüttet der Dichter
den äußersten Hohn über die Platte Nüchternheit aus, in welche die romantischen
Neigungen sich in der Ehe aufgelöst haben, schickt dann seine Heldin Schwan-
hild mit vollem Bewußtsein in die gleiche Armseligkeit hinein und erweckt den
Eindruck, als ob er mit dem geistvollen Asketen Sören Kirkegaard, dessen
Einwirkungen nebenbei gesagt in all diesen neuern dänischen und norwegischen
Dichtern zu erkennen sind, alle Liebe und Ehe für einen verächtlichen Sinnen¬
rausch und eitle Selbsttäuschung halte. Im Drama "Peer Gynt" bekämpft
Ibsen das Übermaß der Phantasie, jene Einbildungskraft, die hier an die Dichtung
und dort an die Lüge grenzt, so energisch, daß man meinen könnte, er wolle zu
Gunsten der platten Verständigkeit und moralischen Nüchternheit alle Phantasie
überhaupt aus der Welt treiben. Im "Volksfeind" fällt die Schilderung der
kleinstädtischen Gemeinheit und der allgemeinen Verlogenheit so verzweifelt aus,
daß jeder Widerstand und jede Erhebung dagegen als hoffnungslos erscheint;
Doktor Thomas Stockmann ist nicht, wie Paffarge meint, dem Coriolan, sondern
vielmehr dem Timon verwandt.

Jede erneute Lektüre der Jbsenschen Dichtungen ergiebt, daß hier eine
starke Natur und ein glühendes Herz über den Widerspruch zwischen den idealen
und ethischen Forderungen und zwischen der Gestaltung und Gesinnung unsrer
Welt nicht hinwegzukommen vermögen. Die eigentliche Meisterschaft Zbsens
liegt in den Charakteren, die er als Gegner darstellt, ein Schicksal, das er mit


Henrik Ibsen.

einer ähnlichen am Theater zu Christiania, welches 1862 bankerott wurde, Ende
1863 erhielt er wesentlich auf seine große Dichtung „Die Kronprätendenten"
hin ein norwegisches Staatsstipendium von 2700 Mark, ging 1864 nach Rom
und hat seitdem teils in Italien, teils in Deutschland (in München, Dresden
und wiederum in München) gelebt. Diejenigen Werke, denen Paffarge die
größte Bedeutung und die tiefste Eigentümlichkeit zuspricht und von denen er
in seiner Schrift ausführliche Zergliederungen giebt: „Brand," „Peer Gynt,"
„Kaiser und Galiläer," „Der Bund der Tugend," „Die Stützen der Gesell¬
schaft," „Ein Volksfeind," „Nora" und „Gespenster," sowie die Umarbeitung
des Jugendwerkes „Frau Jnger von Onstrot," entstanden während der zwei
Jahrzehnte, welche der Dichter nun schon fern von seinem Vaterlande lebt.

Es ist nicht leicht, eine Gesamtcharakteristik der vornehmen Dichtererscheinung
Ibsens zu geben. Mit dem Schlagwort des „Pessimismus" ist sie keineswegs
abgethan, obschon stark pessimistische Elemente sich in Ibsens Poesie finden und
gelegentlich vorwiegen. Bei dem Ringen nach unbedingter innerer Wahrheit
der Menschendarstellung, einem Ringen, das nur stellenweise mit den Bestrebungen
des spezifischen Naturalismus zusammenfällt und seine volle Berechtigung hat,
bei dem tötlichen Hasse, den Ibsen offenbar gegen alle Lüge und alles Phrcisentum
hegt, wird die haarscharfe Grenzlinie, welche diese Wahrheit und die trostlose
Verzweiflung an Welt und Menschen von einander trennt, gelegentlich leicht
überschritten. In dem Lustspiel „Die Komödie der Liebe" schüttet der Dichter
den äußersten Hohn über die Platte Nüchternheit aus, in welche die romantischen
Neigungen sich in der Ehe aufgelöst haben, schickt dann seine Heldin Schwan-
hild mit vollem Bewußtsein in die gleiche Armseligkeit hinein und erweckt den
Eindruck, als ob er mit dem geistvollen Asketen Sören Kirkegaard, dessen
Einwirkungen nebenbei gesagt in all diesen neuern dänischen und norwegischen
Dichtern zu erkennen sind, alle Liebe und Ehe für einen verächtlichen Sinnen¬
rausch und eitle Selbsttäuschung halte. Im Drama „Peer Gynt" bekämpft
Ibsen das Übermaß der Phantasie, jene Einbildungskraft, die hier an die Dichtung
und dort an die Lüge grenzt, so energisch, daß man meinen könnte, er wolle zu
Gunsten der platten Verständigkeit und moralischen Nüchternheit alle Phantasie
überhaupt aus der Welt treiben. Im „Volksfeind" fällt die Schilderung der
kleinstädtischen Gemeinheit und der allgemeinen Verlogenheit so verzweifelt aus,
daß jeder Widerstand und jede Erhebung dagegen als hoffnungslos erscheint;
Doktor Thomas Stockmann ist nicht, wie Paffarge meint, dem Coriolan, sondern
vielmehr dem Timon verwandt.

Jede erneute Lektüre der Jbsenschen Dichtungen ergiebt, daß hier eine
starke Natur und ein glühendes Herz über den Widerspruch zwischen den idealen
und ethischen Forderungen und zwischen der Gestaltung und Gesinnung unsrer
Welt nicht hinwegzukommen vermögen. Die eigentliche Meisterschaft Zbsens
liegt in den Charakteren, die er als Gegner darstellt, ein Schicksal, das er mit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/517>, abgerufen am 24.08.2024.