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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Henrik Ibsen.

erfüllen, haben bei uns in Deutschland zum guten Teil ihre Zeit gehabt. Die
eigentümliche Verbindung des künstlerischen Naturalismus mit einem ethischen
Puritanismus und politischen Radikalismus, welche in Norwegen, beziehungsweise
auch in Dänemark herrscht und gegen welche Ibsen kämpft, ist uns völlig fremd.
Unser Pietismus ist literarisch durchaus konventionell und politisch eher hyper¬
konservativ, hat überhaupt einen entscheidenden Einfluß auf die geistige Entwicklung
nicht erlangt. Die Dichtung Ibsens wiederum ist kaum zu verstehen, jedenfalls
nicht zu genießen, wenn man sich den eigentümlichen Hintergrund, auf dem dies
alles entstanden, nicht beständig gegenwärtig hält. Allerdings lebt Henrik
Ibsen seit langen Jahren seinem Vaterlande fern in einer Art freiwilligen Ver¬
bannung. Aber, wie es völlig in der Ordnung ist, immer sind seine halb
sehnenden, halb zürnenden Blicke auf Norwegen gerichtet. Dabei ist es eigen¬
tümlich genug, wie er sich in fortwährendem Kontakt mit seinem Vaterlande
erhält; nicht bloß indem er den Storthingsverhandlungen und den unendlichen
Zänkereien und Verleumdungen folgt, mit denen sich dort zur Zeit Rechte und
Linke überschütten, sondern ganz besonders dadurch, daß er sich in den nor¬
wegischen Zeitungen keine, auch die kleinste Anzeige im Inseratenteile spart. Der
Dichter atmet mit den Schneehühnern, den Dorschen und Heringen, welche der
Kaufmann in Christiania anzeigt, die Luft des norwegischen Fjells und Meeres,
und fühlt sich umstrahlt von dem Glänze der Mitternachtssonne, wenn er bei
seiner römischen Lampe die Kurse der großen Norddampfer studirt. Nicht bloß
in dänisch-norwegischer Sprache, sondern auch im steten Hinblick auf die Welt
des Nordens, auf ihre Gegenwart und nächste Zukunft sind Ibsens Werke ge¬
dichtet. Sicher jedoch besitzt der Dichter daneben eine Reihe jener poetischen
Eigenschaften, die in allen Völkern und zu allen Zeiten wirksam sind, und in
diesem Sinne mag die Passargesche Schrift als eine willkommene Anregung
für unsre Literaturfrennde gelten, sich mit denjenigen Dichtungen des genialen
Norwegers bekannt zu machen, welche in deutscher Übertragung zugänglich sind.

Die biographische Studie, welche der vorliegenden Schrift vorausgesandt
ist, teilt über Ibsens äußeres und inneres Leben nur weniges mit; wir erfahren
nur, daß der Dichter am 20. März 1828 in Stier in Telemarken geboren
ist, als Apothekerlehrling in Grimstad sich auf das Studentenexamen und die
spätern medizinischen Studien in Christiania vorbereitete und schon in dieser
Zeit die ersten Regungen seines Talents spürte und seine ersten poetischen
Versuche schrieb. Noch ehe er die Universität bezog, gab er 1850 das Drama
"Catilina" unter dem Pseudonym Brynjolf Bjarne heraus. Begreiflich genug
beschäftigte er sich dann in Christiania mehr mit literarischen Plänen als mit
medizinischen Studien und ward durch eine frühe Berufung als Theaterdichter
an das von Ole Bull in Bergen gegründete norwegische Nationaltheater zum
berufsmäßigen Schriftsteller umgewandelt. Nachdem er von 1852--1857 jedes
Jahr dem Theater in Bergen ein Stück geliefert, vertauschte er seine Stellung mit


Henrik Ibsen.

erfüllen, haben bei uns in Deutschland zum guten Teil ihre Zeit gehabt. Die
eigentümliche Verbindung des künstlerischen Naturalismus mit einem ethischen
Puritanismus und politischen Radikalismus, welche in Norwegen, beziehungsweise
auch in Dänemark herrscht und gegen welche Ibsen kämpft, ist uns völlig fremd.
Unser Pietismus ist literarisch durchaus konventionell und politisch eher hyper¬
konservativ, hat überhaupt einen entscheidenden Einfluß auf die geistige Entwicklung
nicht erlangt. Die Dichtung Ibsens wiederum ist kaum zu verstehen, jedenfalls
nicht zu genießen, wenn man sich den eigentümlichen Hintergrund, auf dem dies
alles entstanden, nicht beständig gegenwärtig hält. Allerdings lebt Henrik
Ibsen seit langen Jahren seinem Vaterlande fern in einer Art freiwilligen Ver¬
bannung. Aber, wie es völlig in der Ordnung ist, immer sind seine halb
sehnenden, halb zürnenden Blicke auf Norwegen gerichtet. Dabei ist es eigen¬
tümlich genug, wie er sich in fortwährendem Kontakt mit seinem Vaterlande
erhält; nicht bloß indem er den Storthingsverhandlungen und den unendlichen
Zänkereien und Verleumdungen folgt, mit denen sich dort zur Zeit Rechte und
Linke überschütten, sondern ganz besonders dadurch, daß er sich in den nor¬
wegischen Zeitungen keine, auch die kleinste Anzeige im Inseratenteile spart. Der
Dichter atmet mit den Schneehühnern, den Dorschen und Heringen, welche der
Kaufmann in Christiania anzeigt, die Luft des norwegischen Fjells und Meeres,
und fühlt sich umstrahlt von dem Glänze der Mitternachtssonne, wenn er bei
seiner römischen Lampe die Kurse der großen Norddampfer studirt. Nicht bloß
in dänisch-norwegischer Sprache, sondern auch im steten Hinblick auf die Welt
des Nordens, auf ihre Gegenwart und nächste Zukunft sind Ibsens Werke ge¬
dichtet. Sicher jedoch besitzt der Dichter daneben eine Reihe jener poetischen
Eigenschaften, die in allen Völkern und zu allen Zeiten wirksam sind, und in
diesem Sinne mag die Passargesche Schrift als eine willkommene Anregung
für unsre Literaturfrennde gelten, sich mit denjenigen Dichtungen des genialen
Norwegers bekannt zu machen, welche in deutscher Übertragung zugänglich sind.

Die biographische Studie, welche der vorliegenden Schrift vorausgesandt
ist, teilt über Ibsens äußeres und inneres Leben nur weniges mit; wir erfahren
nur, daß der Dichter am 20. März 1828 in Stier in Telemarken geboren
ist, als Apothekerlehrling in Grimstad sich auf das Studentenexamen und die
spätern medizinischen Studien in Christiania vorbereitete und schon in dieser
Zeit die ersten Regungen seines Talents spürte und seine ersten poetischen
Versuche schrieb. Noch ehe er die Universität bezog, gab er 1850 das Drama
„Catilina" unter dem Pseudonym Brynjolf Bjarne heraus. Begreiflich genug
beschäftigte er sich dann in Christiania mehr mit literarischen Plänen als mit
medizinischen Studien und ward durch eine frühe Berufung als Theaterdichter
an das von Ole Bull in Bergen gegründete norwegische Nationaltheater zum
berufsmäßigen Schriftsteller umgewandelt. Nachdem er von 1852—1857 jedes
Jahr dem Theater in Bergen ein Stück geliefert, vertauschte er seine Stellung mit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/516>, abgerufen am 02.10.2024.