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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Henrik Ibsen.

durch den Urwald haut, unbekümmert darum, ob die Leute auf den breiten
Heerstraßen mit dem bekannten Lächeln auf den sonderbaren Wandrer blicken.
Alles, was ich gedichtet habe, so schrieb einst der Dichter an den Verfasser
dieses Buches, hängt aufs genaueste mit dem zusammen, was ich durchgelebt, wenn
auch nicht erlebt habe. Jede neue Dichtung hat für mich den Zweck gehabt,
als ein geistiger Befreiungs- und Reinigungsprozeß zu dienen; denn man steht
niemals ganz ohne Mitverantwortlichkeit und Mitschuld in der Gesellschaft, zu
welcher man gehört. Deshalb schrieb ich einmal als Zueignungsgedicht in
eines meiner Bücher: Leben heißt Krieg mit den Geistern in Herz und Kopf,
dichten heißt Gericht halten über sich selbst."

Die Thatsache, daß Ibsens Dichtung aufs innigste mit dem zusammen¬
hängt, was er "durchgelebt," ziehen wir keinen Augenblick in Zweifel. Aber
sie allein würde den norwegischen Poeten keineswegs zu einem der eigentüm¬
lichsten Dichter machen, welche die Welt gesehen, denn dies trifft beinahe auf
alle nennenswerten Dichter zu und unterscheidet im wesentlichen den schöpfe¬
rischen und gestaltenden Poeten vom bloßen Macher wie vom Dilettanten. Auf
die Stärke und Eigenart dieses Prozesses, ein wenig auch auf die Besonderheit
der äußern Verhältnisse, die ihn gefördert oder gehemmt haben, kommt es an,
und nur in wenigen Ausnahmefällen existirt eine poetische Individualität, welche
dem Gesetze entrückt zu sein scheint und bei welcher wenigstens der Nachweis
des Zusammenhanges zwischen ihrer menschlichen und ihrer poetischen Entwicklung
schwierig ist. Vou den Machern aber, an denen in den zeitgenössischen Litera¬
turen freilich kein Mangel ist, darf an solcher Stelle, wie es die Charakteristik
eines wirklichen Dichters ist, nicht gesprochen, sie dürfen nicht zum Vergleich
herangezogen werden. Jedoch können wir Paffarge von vornherein zugeben,
daß Henrik Ibsen durch gewisse Besonderheiten seiner Entwicklung, durch den
Gegensatz zwischen seinem eignen Innersten und den in seinem Vaterlande Nor¬
wegen geltenden Lebensanschauungen, durch die seltene Energie, mit der er auch
da zur ursprünglichen Natur durchzudringen sucht, wo ihm eine Tradition ent¬
gegensteht, ein selbständiger und eigentümlicher Dichter ist.

Deutsche Leser der Dichtungen Ibsens wie der kritischen Schrift Passarges
werden freilich auf eine Frage nicht völlig verzichten, die in der Abhandlung
beiseite geschoben erscheint: die Frage nach der Bedeutung, die Ibsen für uns
haben kann. Alles poetisch wirklich Vortreffliche ist international, ein dänisch¬
norwegischer Dichter und zumal Ibsen steht uns nicht eben fern, aber die
Stellung, die er in einer werdenden, völlig neugeschaffenen Literatur einnimmt,
kann ihm schwerlich in unsrer überreichen Literatur zu Teil werden. Vieles,
was er aus der Tiefe seiner Seele und Anschauung schöpft, wirkt für uns doch
nicht in dem Maße ergreifend und überwältigend wie bei den Norwegern, welche
zur Macht des eigentlich künstlerischen Eindrucks auch noch den Reiz der Neu¬
heit empfinden. Die Kämpfe, welche die dänisch-norwegische Dichtung von heute


Henrik Ibsen.

durch den Urwald haut, unbekümmert darum, ob die Leute auf den breiten
Heerstraßen mit dem bekannten Lächeln auf den sonderbaren Wandrer blicken.
Alles, was ich gedichtet habe, so schrieb einst der Dichter an den Verfasser
dieses Buches, hängt aufs genaueste mit dem zusammen, was ich durchgelebt, wenn
auch nicht erlebt habe. Jede neue Dichtung hat für mich den Zweck gehabt,
als ein geistiger Befreiungs- und Reinigungsprozeß zu dienen; denn man steht
niemals ganz ohne Mitverantwortlichkeit und Mitschuld in der Gesellschaft, zu
welcher man gehört. Deshalb schrieb ich einmal als Zueignungsgedicht in
eines meiner Bücher: Leben heißt Krieg mit den Geistern in Herz und Kopf,
dichten heißt Gericht halten über sich selbst."

Die Thatsache, daß Ibsens Dichtung aufs innigste mit dem zusammen¬
hängt, was er „durchgelebt," ziehen wir keinen Augenblick in Zweifel. Aber
sie allein würde den norwegischen Poeten keineswegs zu einem der eigentüm¬
lichsten Dichter machen, welche die Welt gesehen, denn dies trifft beinahe auf
alle nennenswerten Dichter zu und unterscheidet im wesentlichen den schöpfe¬
rischen und gestaltenden Poeten vom bloßen Macher wie vom Dilettanten. Auf
die Stärke und Eigenart dieses Prozesses, ein wenig auch auf die Besonderheit
der äußern Verhältnisse, die ihn gefördert oder gehemmt haben, kommt es an,
und nur in wenigen Ausnahmefällen existirt eine poetische Individualität, welche
dem Gesetze entrückt zu sein scheint und bei welcher wenigstens der Nachweis
des Zusammenhanges zwischen ihrer menschlichen und ihrer poetischen Entwicklung
schwierig ist. Vou den Machern aber, an denen in den zeitgenössischen Litera¬
turen freilich kein Mangel ist, darf an solcher Stelle, wie es die Charakteristik
eines wirklichen Dichters ist, nicht gesprochen, sie dürfen nicht zum Vergleich
herangezogen werden. Jedoch können wir Paffarge von vornherein zugeben,
daß Henrik Ibsen durch gewisse Besonderheiten seiner Entwicklung, durch den
Gegensatz zwischen seinem eignen Innersten und den in seinem Vaterlande Nor¬
wegen geltenden Lebensanschauungen, durch die seltene Energie, mit der er auch
da zur ursprünglichen Natur durchzudringen sucht, wo ihm eine Tradition ent¬
gegensteht, ein selbständiger und eigentümlicher Dichter ist.

Deutsche Leser der Dichtungen Ibsens wie der kritischen Schrift Passarges
werden freilich auf eine Frage nicht völlig verzichten, die in der Abhandlung
beiseite geschoben erscheint: die Frage nach der Bedeutung, die Ibsen für uns
haben kann. Alles poetisch wirklich Vortreffliche ist international, ein dänisch¬
norwegischer Dichter und zumal Ibsen steht uns nicht eben fern, aber die
Stellung, die er in einer werdenden, völlig neugeschaffenen Literatur einnimmt,
kann ihm schwerlich in unsrer überreichen Literatur zu Teil werden. Vieles,
was er aus der Tiefe seiner Seele und Anschauung schöpft, wirkt für uns doch
nicht in dem Maße ergreifend und überwältigend wie bei den Norwegern, welche
zur Macht des eigentlich künstlerischen Eindrucks auch noch den Reiz der Neu¬
heit empfinden. Die Kämpfe, welche die dänisch-norwegische Dichtung von heute


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[0515] Henrik Ibsen. durch den Urwald haut, unbekümmert darum, ob die Leute auf den breiten Heerstraßen mit dem bekannten Lächeln auf den sonderbaren Wandrer blicken. Alles, was ich gedichtet habe, so schrieb einst der Dichter an den Verfasser dieses Buches, hängt aufs genaueste mit dem zusammen, was ich durchgelebt, wenn auch nicht erlebt habe. Jede neue Dichtung hat für mich den Zweck gehabt, als ein geistiger Befreiungs- und Reinigungsprozeß zu dienen; denn man steht niemals ganz ohne Mitverantwortlichkeit und Mitschuld in der Gesellschaft, zu welcher man gehört. Deshalb schrieb ich einmal als Zueignungsgedicht in eines meiner Bücher: Leben heißt Krieg mit den Geistern in Herz und Kopf, dichten heißt Gericht halten über sich selbst." Die Thatsache, daß Ibsens Dichtung aufs innigste mit dem zusammen¬ hängt, was er „durchgelebt," ziehen wir keinen Augenblick in Zweifel. Aber sie allein würde den norwegischen Poeten keineswegs zu einem der eigentüm¬ lichsten Dichter machen, welche die Welt gesehen, denn dies trifft beinahe auf alle nennenswerten Dichter zu und unterscheidet im wesentlichen den schöpfe¬ rischen und gestaltenden Poeten vom bloßen Macher wie vom Dilettanten. Auf die Stärke und Eigenart dieses Prozesses, ein wenig auch auf die Besonderheit der äußern Verhältnisse, die ihn gefördert oder gehemmt haben, kommt es an, und nur in wenigen Ausnahmefällen existirt eine poetische Individualität, welche dem Gesetze entrückt zu sein scheint und bei welcher wenigstens der Nachweis des Zusammenhanges zwischen ihrer menschlichen und ihrer poetischen Entwicklung schwierig ist. Vou den Machern aber, an denen in den zeitgenössischen Litera¬ turen freilich kein Mangel ist, darf an solcher Stelle, wie es die Charakteristik eines wirklichen Dichters ist, nicht gesprochen, sie dürfen nicht zum Vergleich herangezogen werden. Jedoch können wir Paffarge von vornherein zugeben, daß Henrik Ibsen durch gewisse Besonderheiten seiner Entwicklung, durch den Gegensatz zwischen seinem eignen Innersten und den in seinem Vaterlande Nor¬ wegen geltenden Lebensanschauungen, durch die seltene Energie, mit der er auch da zur ursprünglichen Natur durchzudringen sucht, wo ihm eine Tradition ent¬ gegensteht, ein selbständiger und eigentümlicher Dichter ist. Deutsche Leser der Dichtungen Ibsens wie der kritischen Schrift Passarges werden freilich auf eine Frage nicht völlig verzichten, die in der Abhandlung beiseite geschoben erscheint: die Frage nach der Bedeutung, die Ibsen für uns haben kann. Alles poetisch wirklich Vortreffliche ist international, ein dänisch¬ norwegischer Dichter und zumal Ibsen steht uns nicht eben fern, aber die Stellung, die er in einer werdenden, völlig neugeschaffenen Literatur einnimmt, kann ihm schwerlich in unsrer überreichen Literatur zu Teil werden. Vieles, was er aus der Tiefe seiner Seele und Anschauung schöpft, wirkt für uns doch nicht in dem Maße ergreifend und überwältigend wie bei den Norwegern, welche zur Macht des eigentlich künstlerischen Eindrucks auch noch den Reiz der Neu¬ heit empfinden. Die Kämpfe, welche die dänisch-norwegische Dichtung von heute

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/515>, abgerufen am 24.08.2024.