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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Pompojanische Spaziergänge/

Virgil hatte es verstanden, seinem Werke die Teilnahme von ganz Italien zu
gewinnen; besang er doch alle Erinnerungen und Ruhmesthaten des Landes.
Von Pompeji aus konnte man jenes Vorgebirge Misenum erblicken, das Grab
eines der Gefährten des Aeneas, das der Dichter in seinem Werke erwähnt
hatte; ganz nahe waren die phlegräischen Gefilde, in die er den Eingang zur
Unterwelt verlegt. So war die Kenntnis der Aeneide bei den Pompejanern
aller Klassen verbreitet. Dafür spricht der Umstand, daß die auf die Mauern
gekritzelten Inschriften, die nur das Werk von Schülern oder Leuten aus dem
Volke sein können, häufig Verse aus ihr enthalten. Man konnte sie eben aus¬
wendig und zitirte sie gern; selbst Ungebildete wußten etwas von ihr. Es ist
also wahrscheinlich, daß man in einer Stadt, wo sich doch Virgil augenschein¬
lich einer so großen Popularität erfreute, die Darstellung einiger der vom
Dichter beschriebenen Vorgänge mit Vergnügen um den Wänden der Häuser be¬
grüßt haben würde. Wenn nun die Maler dieses Feld sogut wie garnicht an¬
gebaut, wenn sie den Pompejanern nur äußerst selten ihrem Lieblingsdichter
entlehnte Stoffe oder Erinnerungen ihrer nationalen Geschichte vor Augen ge¬
führt haben, so kommt dies daher, daß die Kunst, die sie übten, griechisch ge¬
blieben war. daß man die Überlieferungen und Gewohnheiten dieser Kunst auch
als ihre Schranken anerkannte und keine Durchbrechung derselben von ihr
forderte.

Anders stand es mit der Dichtkunst, und dies unterscheidet sie am meisten
von der Malerei. Obgleich sie ebenfalls aus Griechenland kam, ließ sie sich
doch bereitwillig und vom ersten Tage an romcinisiren. naevius bedient sich
der Formen des homerischen Epos zur Verherrlichung der Helden des alten
Rom; die Tragödie des Sophokles läßt es sich gefallen, daß nach ihrem Vor¬
bilde die Thaten des Decius, des Aemilius Paulus, des Brutus besungen
werden. In Virgils Aeneide ist diese Mischung vollendet durchgeführt; nirgends
ist die Tradition der beiden Länder, der Genius der beiden Völker, das griechische
und das römische Altertum, harmonischer verschmolzen als in dieser Dichtung,
und hierin wurzelt ihre unleugbar große Schönheit. stolzer als je zuvor er¬
scheint um diese Zeit Rom auf seine Vergangenheit, und umso eifriger beschäftigt
es sich mit seiner Geschichte. Der Kaiser, der ihm die Freiheit genommen, regt
den nationalen Stolz in ihm auf. Um die Phantasie der Römer zu beschäftigen
und um kein Bedauern in ihnen aufkommen zu lassen, zeigt er ihnen unablässig
ihr ungeheures Gebiet, das sich bis zu den Grenzen der zivilisirten Welt er¬
streckt, und ruft ihnen den Heroismus, mit welchem sie es eroberten, ins Ge¬
dächtnis zurück. In dem Bestreben, die Jugendlichkeit der neuen Institutionen
zu verbergen, umgiebt er sich mit allen großen Männern der alten Zeit, gesellt
sich selbst ihnen zu und proklamirt sich kühn als ihren Fortsetzer. Es war,
als hätte man damals allen Dichtern eine Art Losung gegeben, mit dem Lobe
des Herrschers das der Helden der Republik und die altrömischen Erinnerungen


Pompojanische Spaziergänge/

Virgil hatte es verstanden, seinem Werke die Teilnahme von ganz Italien zu
gewinnen; besang er doch alle Erinnerungen und Ruhmesthaten des Landes.
Von Pompeji aus konnte man jenes Vorgebirge Misenum erblicken, das Grab
eines der Gefährten des Aeneas, das der Dichter in seinem Werke erwähnt
hatte; ganz nahe waren die phlegräischen Gefilde, in die er den Eingang zur
Unterwelt verlegt. So war die Kenntnis der Aeneide bei den Pompejanern
aller Klassen verbreitet. Dafür spricht der Umstand, daß die auf die Mauern
gekritzelten Inschriften, die nur das Werk von Schülern oder Leuten aus dem
Volke sein können, häufig Verse aus ihr enthalten. Man konnte sie eben aus¬
wendig und zitirte sie gern; selbst Ungebildete wußten etwas von ihr. Es ist
also wahrscheinlich, daß man in einer Stadt, wo sich doch Virgil augenschein¬
lich einer so großen Popularität erfreute, die Darstellung einiger der vom
Dichter beschriebenen Vorgänge mit Vergnügen um den Wänden der Häuser be¬
grüßt haben würde. Wenn nun die Maler dieses Feld sogut wie garnicht an¬
gebaut, wenn sie den Pompejanern nur äußerst selten ihrem Lieblingsdichter
entlehnte Stoffe oder Erinnerungen ihrer nationalen Geschichte vor Augen ge¬
führt haben, so kommt dies daher, daß die Kunst, die sie übten, griechisch ge¬
blieben war. daß man die Überlieferungen und Gewohnheiten dieser Kunst auch
als ihre Schranken anerkannte und keine Durchbrechung derselben von ihr
forderte.

Anders stand es mit der Dichtkunst, und dies unterscheidet sie am meisten
von der Malerei. Obgleich sie ebenfalls aus Griechenland kam, ließ sie sich
doch bereitwillig und vom ersten Tage an romcinisiren. naevius bedient sich
der Formen des homerischen Epos zur Verherrlichung der Helden des alten
Rom; die Tragödie des Sophokles läßt es sich gefallen, daß nach ihrem Vor¬
bilde die Thaten des Decius, des Aemilius Paulus, des Brutus besungen
werden. In Virgils Aeneide ist diese Mischung vollendet durchgeführt; nirgends
ist die Tradition der beiden Länder, der Genius der beiden Völker, das griechische
und das römische Altertum, harmonischer verschmolzen als in dieser Dichtung,
und hierin wurzelt ihre unleugbar große Schönheit. stolzer als je zuvor er¬
scheint um diese Zeit Rom auf seine Vergangenheit, und umso eifriger beschäftigt
es sich mit seiner Geschichte. Der Kaiser, der ihm die Freiheit genommen, regt
den nationalen Stolz in ihm auf. Um die Phantasie der Römer zu beschäftigen
und um kein Bedauern in ihnen aufkommen zu lassen, zeigt er ihnen unablässig
ihr ungeheures Gebiet, das sich bis zu den Grenzen der zivilisirten Welt er¬
streckt, und ruft ihnen den Heroismus, mit welchem sie es eroberten, ins Ge¬
dächtnis zurück. In dem Bestreben, die Jugendlichkeit der neuen Institutionen
zu verbergen, umgiebt er sich mit allen großen Männern der alten Zeit, gesellt
sich selbst ihnen zu und proklamirt sich kühn als ihren Fortsetzer. Es war,
als hätte man damals allen Dichtern eine Art Losung gegeben, mit dem Lobe
des Herrschers das der Helden der Republik und die altrömischen Erinnerungen


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[0469] Pompojanische Spaziergänge/ Virgil hatte es verstanden, seinem Werke die Teilnahme von ganz Italien zu gewinnen; besang er doch alle Erinnerungen und Ruhmesthaten des Landes. Von Pompeji aus konnte man jenes Vorgebirge Misenum erblicken, das Grab eines der Gefährten des Aeneas, das der Dichter in seinem Werke erwähnt hatte; ganz nahe waren die phlegräischen Gefilde, in die er den Eingang zur Unterwelt verlegt. So war die Kenntnis der Aeneide bei den Pompejanern aller Klassen verbreitet. Dafür spricht der Umstand, daß die auf die Mauern gekritzelten Inschriften, die nur das Werk von Schülern oder Leuten aus dem Volke sein können, häufig Verse aus ihr enthalten. Man konnte sie eben aus¬ wendig und zitirte sie gern; selbst Ungebildete wußten etwas von ihr. Es ist also wahrscheinlich, daß man in einer Stadt, wo sich doch Virgil augenschein¬ lich einer so großen Popularität erfreute, die Darstellung einiger der vom Dichter beschriebenen Vorgänge mit Vergnügen um den Wänden der Häuser be¬ grüßt haben würde. Wenn nun die Maler dieses Feld sogut wie garnicht an¬ gebaut, wenn sie den Pompejanern nur äußerst selten ihrem Lieblingsdichter entlehnte Stoffe oder Erinnerungen ihrer nationalen Geschichte vor Augen ge¬ führt haben, so kommt dies daher, daß die Kunst, die sie übten, griechisch ge¬ blieben war. daß man die Überlieferungen und Gewohnheiten dieser Kunst auch als ihre Schranken anerkannte und keine Durchbrechung derselben von ihr forderte. Anders stand es mit der Dichtkunst, und dies unterscheidet sie am meisten von der Malerei. Obgleich sie ebenfalls aus Griechenland kam, ließ sie sich doch bereitwillig und vom ersten Tage an romcinisiren. naevius bedient sich der Formen des homerischen Epos zur Verherrlichung der Helden des alten Rom; die Tragödie des Sophokles läßt es sich gefallen, daß nach ihrem Vor¬ bilde die Thaten des Decius, des Aemilius Paulus, des Brutus besungen werden. In Virgils Aeneide ist diese Mischung vollendet durchgeführt; nirgends ist die Tradition der beiden Länder, der Genius der beiden Völker, das griechische und das römische Altertum, harmonischer verschmolzen als in dieser Dichtung, und hierin wurzelt ihre unleugbar große Schönheit. stolzer als je zuvor er¬ scheint um diese Zeit Rom auf seine Vergangenheit, und umso eifriger beschäftigt es sich mit seiner Geschichte. Der Kaiser, der ihm die Freiheit genommen, regt den nationalen Stolz in ihm auf. Um die Phantasie der Römer zu beschäftigen und um kein Bedauern in ihnen aufkommen zu lassen, zeigt er ihnen unablässig ihr ungeheures Gebiet, das sich bis zu den Grenzen der zivilisirten Welt er¬ streckt, und ruft ihnen den Heroismus, mit welchem sie es eroberten, ins Ge¬ dächtnis zurück. In dem Bestreben, die Jugendlichkeit der neuen Institutionen zu verbergen, umgiebt er sich mit allen großen Männern der alten Zeit, gesellt sich selbst ihnen zu und proklamirt sich kühn als ihren Fortsetzer. Es war, als hätte man damals allen Dichtern eine Art Losung gegeben, mit dem Lobe des Herrschers das der Helden der Republik und die altrömischen Erinnerungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/469>, abgerufen am 22.07.2024.