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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Pomxejcmische Spaziergänge.

um mich damit zu binden. Sie waren alle nackt. Da ruft plötzlich einer, der
kecker war als seine Genossen: "Da ist er! ergreift ihn, denn ihr kennt ihn Wohl;
ihn hat die erzürnte Schöne in unsre Hand gegeben, auf daß wir ihn zu ihr
zurückbringen." So sprach er, und schon fühlte ich eine Schlinge, die mir den
Hals zusammenschnürte." Die andern kommen herzu, legen ihn in Bande,
schelten ihn tüchtig aus und führen ihn reuig und glücklich zum Hause der
Cynthia zurück.*) Ist es nicht wie der Stoff zu einem reizenden Bilde, etwa
zu einem Gegenstück der "Erotenverkäuferin"?

Vor allen jedoch ist es Ovid, der die Poeten von Alexandria viel be¬
nutzt zu haben scheint, und so ist er es auch, dessen Verse am häufigsten an
die Wandgemälde von Pompeji gemahnen. Es wäre nicht schwer, unter diesen
Gemälden eine Reihe von Stücken auszuwählen, die geradezu als Illustra¬
tionen zu Ovids Werken dienen könnten, so sehr gleichen einander manchmal der
Dichter und der Maler. Ganz auf die gleiche Weise schildern sie die von Hermes
befreite Jo, den bei der Omphale spinnenden Herakles, Paris, wie er den
Namen der Oinone in die Rinde der Bäume einschneidet, Europa, "wie sie
sich mit der einen Hand an den Hörnern des Stiers festhält und die andre
auf seinen Rücken stützt, während der Wind ihr Gewand schüttelt und schwellt."
Schon oben war von dem Gemälde die Rede, auf welchem der untröstliche
Polyphem einen Brief von Galatea empfängt, den ein auf einem Delphin rei¬
tender Liebesgott ihm bringt. Diese bizarre Idee erinnert sofort an die "He-
rolden" des Ovid. Die "Herolden" sind Liebesbriefe, welche nicht allein voraussetzen,
daß zur Zeit des Trojanischen Krieges die Schreibekunst bekannt und stark im
Gebrauche war, sondern auch, daß man damals die Möglichkeit hatte, die Briefe
zu befördern, selbst wenn dieselben an Personen gerichtet waren, deren Wohn¬
sitz man nicht kannte, oder wenn die Absenderin auf irgendeine wüste Insel
verbannt war. Das ist denn freilich ein Gebrauch, der sich sür so ferne Zeiten
kaum schicken will. Um zu begreifen, daß Frauen so lange Briefe schreiben, in
denen sich so brillante Gedanken und eine so große Kenntnis des menschlichen
Herzens finden, müssen wir annehmen, daß man viel Mühe auf ihre gute Er¬
ziehung verwendet habe. Auch sagt der Dichter ausdrücklich, daß sie Lehrer
gehabt haben und in den ersten Künsten, den Elementen der Jugend, unter¬
wiesen worden sind.**) In Wirklichkeit sind sie nichts als Zeitgenössinnen der
Eorinna, die sich in der feinen Gesellschaft bewegen und die Sitten der Galan¬
terie aus der "Liebeskunst" gelernt haben. Es ist wieder Ovids bekannte Art,
die alte Mythologie durch alle Mittel zu verjüngen, und die Götter entgehen
derselben so wenig als die Heroen. Bei ihm büßen sie das antike Ansehen,
das sie ehrwürdig machte, völlig ein; er macht Menschen aus ihnen, und zwar
Menschen nach dem Vorbilde derer, mit welchen er selber lebte. Herakles ist




*-) Ovid, Ast. IX, 718, 719.
*) Properz II, 29. --
Pomxejcmische Spaziergänge.

um mich damit zu binden. Sie waren alle nackt. Da ruft plötzlich einer, der
kecker war als seine Genossen: »Da ist er! ergreift ihn, denn ihr kennt ihn Wohl;
ihn hat die erzürnte Schöne in unsre Hand gegeben, auf daß wir ihn zu ihr
zurückbringen.« So sprach er, und schon fühlte ich eine Schlinge, die mir den
Hals zusammenschnürte." Die andern kommen herzu, legen ihn in Bande,
schelten ihn tüchtig aus und führen ihn reuig und glücklich zum Hause der
Cynthia zurück.*) Ist es nicht wie der Stoff zu einem reizenden Bilde, etwa
zu einem Gegenstück der „Erotenverkäuferin"?

Vor allen jedoch ist es Ovid, der die Poeten von Alexandria viel be¬
nutzt zu haben scheint, und so ist er es auch, dessen Verse am häufigsten an
die Wandgemälde von Pompeji gemahnen. Es wäre nicht schwer, unter diesen
Gemälden eine Reihe von Stücken auszuwählen, die geradezu als Illustra¬
tionen zu Ovids Werken dienen könnten, so sehr gleichen einander manchmal der
Dichter und der Maler. Ganz auf die gleiche Weise schildern sie die von Hermes
befreite Jo, den bei der Omphale spinnenden Herakles, Paris, wie er den
Namen der Oinone in die Rinde der Bäume einschneidet, Europa, „wie sie
sich mit der einen Hand an den Hörnern des Stiers festhält und die andre
auf seinen Rücken stützt, während der Wind ihr Gewand schüttelt und schwellt."
Schon oben war von dem Gemälde die Rede, auf welchem der untröstliche
Polyphem einen Brief von Galatea empfängt, den ein auf einem Delphin rei¬
tender Liebesgott ihm bringt. Diese bizarre Idee erinnert sofort an die „He-
rolden" des Ovid. Die „Herolden" sind Liebesbriefe, welche nicht allein voraussetzen,
daß zur Zeit des Trojanischen Krieges die Schreibekunst bekannt und stark im
Gebrauche war, sondern auch, daß man damals die Möglichkeit hatte, die Briefe
zu befördern, selbst wenn dieselben an Personen gerichtet waren, deren Wohn¬
sitz man nicht kannte, oder wenn die Absenderin auf irgendeine wüste Insel
verbannt war. Das ist denn freilich ein Gebrauch, der sich sür so ferne Zeiten
kaum schicken will. Um zu begreifen, daß Frauen so lange Briefe schreiben, in
denen sich so brillante Gedanken und eine so große Kenntnis des menschlichen
Herzens finden, müssen wir annehmen, daß man viel Mühe auf ihre gute Er¬
ziehung verwendet habe. Auch sagt der Dichter ausdrücklich, daß sie Lehrer
gehabt haben und in den ersten Künsten, den Elementen der Jugend, unter¬
wiesen worden sind.**) In Wirklichkeit sind sie nichts als Zeitgenössinnen der
Eorinna, die sich in der feinen Gesellschaft bewegen und die Sitten der Galan¬
terie aus der „Liebeskunst" gelernt haben. Es ist wieder Ovids bekannte Art,
die alte Mythologie durch alle Mittel zu verjüngen, und die Götter entgehen
derselben so wenig als die Heroen. Bei ihm büßen sie das antike Ansehen,
das sie ehrwürdig machte, völlig ein; er macht Menschen aus ihnen, und zwar
Menschen nach dem Vorbilde derer, mit welchen er selber lebte. Herakles ist




*-) Ovid, Ast. IX, 718, 719.
*) Properz II, 29. —
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[0463] Pomxejcmische Spaziergänge. um mich damit zu binden. Sie waren alle nackt. Da ruft plötzlich einer, der kecker war als seine Genossen: »Da ist er! ergreift ihn, denn ihr kennt ihn Wohl; ihn hat die erzürnte Schöne in unsre Hand gegeben, auf daß wir ihn zu ihr zurückbringen.« So sprach er, und schon fühlte ich eine Schlinge, die mir den Hals zusammenschnürte." Die andern kommen herzu, legen ihn in Bande, schelten ihn tüchtig aus und führen ihn reuig und glücklich zum Hause der Cynthia zurück.*) Ist es nicht wie der Stoff zu einem reizenden Bilde, etwa zu einem Gegenstück der „Erotenverkäuferin"? Vor allen jedoch ist es Ovid, der die Poeten von Alexandria viel be¬ nutzt zu haben scheint, und so ist er es auch, dessen Verse am häufigsten an die Wandgemälde von Pompeji gemahnen. Es wäre nicht schwer, unter diesen Gemälden eine Reihe von Stücken auszuwählen, die geradezu als Illustra¬ tionen zu Ovids Werken dienen könnten, so sehr gleichen einander manchmal der Dichter und der Maler. Ganz auf die gleiche Weise schildern sie die von Hermes befreite Jo, den bei der Omphale spinnenden Herakles, Paris, wie er den Namen der Oinone in die Rinde der Bäume einschneidet, Europa, „wie sie sich mit der einen Hand an den Hörnern des Stiers festhält und die andre auf seinen Rücken stützt, während der Wind ihr Gewand schüttelt und schwellt." Schon oben war von dem Gemälde die Rede, auf welchem der untröstliche Polyphem einen Brief von Galatea empfängt, den ein auf einem Delphin rei¬ tender Liebesgott ihm bringt. Diese bizarre Idee erinnert sofort an die „He- rolden" des Ovid. Die „Herolden" sind Liebesbriefe, welche nicht allein voraussetzen, daß zur Zeit des Trojanischen Krieges die Schreibekunst bekannt und stark im Gebrauche war, sondern auch, daß man damals die Möglichkeit hatte, die Briefe zu befördern, selbst wenn dieselben an Personen gerichtet waren, deren Wohn¬ sitz man nicht kannte, oder wenn die Absenderin auf irgendeine wüste Insel verbannt war. Das ist denn freilich ein Gebrauch, der sich sür so ferne Zeiten kaum schicken will. Um zu begreifen, daß Frauen so lange Briefe schreiben, in denen sich so brillante Gedanken und eine so große Kenntnis des menschlichen Herzens finden, müssen wir annehmen, daß man viel Mühe auf ihre gute Er¬ ziehung verwendet habe. Auch sagt der Dichter ausdrücklich, daß sie Lehrer gehabt haben und in den ersten Künsten, den Elementen der Jugend, unter¬ wiesen worden sind.**) In Wirklichkeit sind sie nichts als Zeitgenössinnen der Eorinna, die sich in der feinen Gesellschaft bewegen und die Sitten der Galan¬ terie aus der „Liebeskunst" gelernt haben. Es ist wieder Ovids bekannte Art, die alte Mythologie durch alle Mittel zu verjüngen, und die Götter entgehen derselben so wenig als die Heroen. Bei ihm büßen sie das antike Ansehen, das sie ehrwürdig machte, völlig ein; er macht Menschen aus ihnen, und zwar Menschen nach dem Vorbilde derer, mit welchen er selber lebte. Herakles ist *-) Ovid, Ast. IX, 718, 719. *) Properz II, 29. —

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/463>, abgerufen am 22.07.2024.