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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Die Reichshauptstadt im Roman.

Handensein der bessern Naturen in dem ungeheuern Kampfe zwischen den Elenden
und ihren Bedrängern nutzlos sei, aber Nichtkenntnis dieses Daseins affektiren
oder es thatsächlich nicht kennen, steht dem Sittenschilderer schlecht an.

Die Erfindung vom Schicksal des hochbegabten Oskar Schwarz ist so
unglücklich als möglich. Der Verfasser ist hier wie ein Maler verfahren, der
auf ein- und demselben Landschaftsbilde einen Erntetag mit Gewitter und einen
Wintertag darstellte. Die Schicksale des Oskar Schwarz sind nur denkbar, wenn
er einer jener Autodidakten ist, die über die armseligste Nachahmung schlecht
verdauter Lektüre und die dilettirende Eitelkeit nicht hinauskommen, wenn also
seine Erzählungen wirklich Herrn Werner Rentel bedürfen und seine Tragödie
zu jener der Frau Scina Joachimsthal in demselben Verhältnisse steht, wie
seiner Zeit Ehren-Bacherls "Cherusker in Rom" zu Halms "Fechter von Ravenna."
Ein solcher aufstrebender Schreiber kann,in die Hände des Herrn Rentel und
Dagobert Fisch fallen und kann in seiner verzweifelten Hilflosigkeit schließlich
zur Schnapsflasche greifen und mit einem Mädchen wie Magda Merk enden,
wie uns hier geschildert wird. Ein wirkliches Talent mit wirklichen Leistungen,
obschon es in unsern sozialen und literarischen Zuständen keineswegs vor dein
Untergange geschützt ist, geht nicht auf die Weise zu Grunde, die Max Kretzer
uns vorführt. Dem Naturalismus des Autors fehlt das einzige, was den
Naturalismus erträglich machen kann, die schlichte Hingabe an die Erscheinung,
er ist mit einem falschen und theatralischen Pathos versetzt, das seine beabsichtigten
Wirkungen in Hauptmomenten wieder aufhebt. Ohne dies Pathos zweifeln wir
nicht, daß der Schriftsteller einen Fortschritt machen würde, der für vollkommenere
Leistungen unumgänglich ist. Die Wurzeln des sozialen Elends und der un¬
geheuern Mißverhältnisse liegen hie und dn so offen lind bloß, wie der Ver¬
fasser der "Verkommenen" uns glauben machen will. Aber meist liegen sie viel
verborgner, meist verschlingen sie sich mit den Wurzeln des Besseren und Keim¬
kräftigen in unserm Leben, und die Aufgabe des Dichters ist eine andre, als
die photographisch treuen Abbilder von einigen der häßlichsten und widrigsten
Möglichkeiten zu geben. Die typischen Gestalten und typischen Schicksale, welche
Kretzer in den "Verkommenen" zeigt, würden seine Katastrophen nicht herbeiführen
können, und die besondern Mittel, deren er sich dazu bedient, können nicht glück¬
lich genannt werden.

Wie weit sich die Reichshauptstadt im Spiegel solcher Berliner Romane
erkennt, müssen wir dahingestellt sein lassen. Uns Draußenstehenden will es
bedünken, als sei es seiner Zeit in Sodom und Gomorrha zwar nicht sittlicher,
aber doch ein wenig lustiger und erquicklicher hergegangen als in dem Berlin,
welches Max Kretzer uns schildert. Nach Zolas Prinzip hat er den falschen
Schein und den Reiz von den Gegenständen seiner Darstellung hinweggenommen.
Ganz gewiß liegt derselbe blaue Duft auf wurmstichigen wie aus guten Früchten.
Aber wir bezweifeln doch, daß jedesmal, wenn der Dust abgewischt wird, der


Die Reichshauptstadt im Roman.

Handensein der bessern Naturen in dem ungeheuern Kampfe zwischen den Elenden
und ihren Bedrängern nutzlos sei, aber Nichtkenntnis dieses Daseins affektiren
oder es thatsächlich nicht kennen, steht dem Sittenschilderer schlecht an.

Die Erfindung vom Schicksal des hochbegabten Oskar Schwarz ist so
unglücklich als möglich. Der Verfasser ist hier wie ein Maler verfahren, der
auf ein- und demselben Landschaftsbilde einen Erntetag mit Gewitter und einen
Wintertag darstellte. Die Schicksale des Oskar Schwarz sind nur denkbar, wenn
er einer jener Autodidakten ist, die über die armseligste Nachahmung schlecht
verdauter Lektüre und die dilettirende Eitelkeit nicht hinauskommen, wenn also
seine Erzählungen wirklich Herrn Werner Rentel bedürfen und seine Tragödie
zu jener der Frau Scina Joachimsthal in demselben Verhältnisse steht, wie
seiner Zeit Ehren-Bacherls „Cherusker in Rom" zu Halms „Fechter von Ravenna."
Ein solcher aufstrebender Schreiber kann,in die Hände des Herrn Rentel und
Dagobert Fisch fallen und kann in seiner verzweifelten Hilflosigkeit schließlich
zur Schnapsflasche greifen und mit einem Mädchen wie Magda Merk enden,
wie uns hier geschildert wird. Ein wirkliches Talent mit wirklichen Leistungen,
obschon es in unsern sozialen und literarischen Zuständen keineswegs vor dein
Untergange geschützt ist, geht nicht auf die Weise zu Grunde, die Max Kretzer
uns vorführt. Dem Naturalismus des Autors fehlt das einzige, was den
Naturalismus erträglich machen kann, die schlichte Hingabe an die Erscheinung,
er ist mit einem falschen und theatralischen Pathos versetzt, das seine beabsichtigten
Wirkungen in Hauptmomenten wieder aufhebt. Ohne dies Pathos zweifeln wir
nicht, daß der Schriftsteller einen Fortschritt machen würde, der für vollkommenere
Leistungen unumgänglich ist. Die Wurzeln des sozialen Elends und der un¬
geheuern Mißverhältnisse liegen hie und dn so offen lind bloß, wie der Ver¬
fasser der „Verkommenen" uns glauben machen will. Aber meist liegen sie viel
verborgner, meist verschlingen sie sich mit den Wurzeln des Besseren und Keim¬
kräftigen in unserm Leben, und die Aufgabe des Dichters ist eine andre, als
die photographisch treuen Abbilder von einigen der häßlichsten und widrigsten
Möglichkeiten zu geben. Die typischen Gestalten und typischen Schicksale, welche
Kretzer in den „Verkommenen" zeigt, würden seine Katastrophen nicht herbeiführen
können, und die besondern Mittel, deren er sich dazu bedient, können nicht glück¬
lich genannt werden.

Wie weit sich die Reichshauptstadt im Spiegel solcher Berliner Romane
erkennt, müssen wir dahingestellt sein lassen. Uns Draußenstehenden will es
bedünken, als sei es seiner Zeit in Sodom und Gomorrha zwar nicht sittlicher,
aber doch ein wenig lustiger und erquicklicher hergegangen als in dem Berlin,
welches Max Kretzer uns schildert. Nach Zolas Prinzip hat er den falschen
Schein und den Reiz von den Gegenständen seiner Darstellung hinweggenommen.
Ganz gewiß liegt derselbe blaue Duft auf wurmstichigen wie aus guten Früchten.
Aber wir bezweifeln doch, daß jedesmal, wenn der Dust abgewischt wird, der


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[0044] Die Reichshauptstadt im Roman. Handensein der bessern Naturen in dem ungeheuern Kampfe zwischen den Elenden und ihren Bedrängern nutzlos sei, aber Nichtkenntnis dieses Daseins affektiren oder es thatsächlich nicht kennen, steht dem Sittenschilderer schlecht an. Die Erfindung vom Schicksal des hochbegabten Oskar Schwarz ist so unglücklich als möglich. Der Verfasser ist hier wie ein Maler verfahren, der auf ein- und demselben Landschaftsbilde einen Erntetag mit Gewitter und einen Wintertag darstellte. Die Schicksale des Oskar Schwarz sind nur denkbar, wenn er einer jener Autodidakten ist, die über die armseligste Nachahmung schlecht verdauter Lektüre und die dilettirende Eitelkeit nicht hinauskommen, wenn also seine Erzählungen wirklich Herrn Werner Rentel bedürfen und seine Tragödie zu jener der Frau Scina Joachimsthal in demselben Verhältnisse steht, wie seiner Zeit Ehren-Bacherls „Cherusker in Rom" zu Halms „Fechter von Ravenna." Ein solcher aufstrebender Schreiber kann,in die Hände des Herrn Rentel und Dagobert Fisch fallen und kann in seiner verzweifelten Hilflosigkeit schließlich zur Schnapsflasche greifen und mit einem Mädchen wie Magda Merk enden, wie uns hier geschildert wird. Ein wirkliches Talent mit wirklichen Leistungen, obschon es in unsern sozialen und literarischen Zuständen keineswegs vor dein Untergange geschützt ist, geht nicht auf die Weise zu Grunde, die Max Kretzer uns vorführt. Dem Naturalismus des Autors fehlt das einzige, was den Naturalismus erträglich machen kann, die schlichte Hingabe an die Erscheinung, er ist mit einem falschen und theatralischen Pathos versetzt, das seine beabsichtigten Wirkungen in Hauptmomenten wieder aufhebt. Ohne dies Pathos zweifeln wir nicht, daß der Schriftsteller einen Fortschritt machen würde, der für vollkommenere Leistungen unumgänglich ist. Die Wurzeln des sozialen Elends und der un¬ geheuern Mißverhältnisse liegen hie und dn so offen lind bloß, wie der Ver¬ fasser der „Verkommenen" uns glauben machen will. Aber meist liegen sie viel verborgner, meist verschlingen sie sich mit den Wurzeln des Besseren und Keim¬ kräftigen in unserm Leben, und die Aufgabe des Dichters ist eine andre, als die photographisch treuen Abbilder von einigen der häßlichsten und widrigsten Möglichkeiten zu geben. Die typischen Gestalten und typischen Schicksale, welche Kretzer in den „Verkommenen" zeigt, würden seine Katastrophen nicht herbeiführen können, und die besondern Mittel, deren er sich dazu bedient, können nicht glück¬ lich genannt werden. Wie weit sich die Reichshauptstadt im Spiegel solcher Berliner Romane erkennt, müssen wir dahingestellt sein lassen. Uns Draußenstehenden will es bedünken, als sei es seiner Zeit in Sodom und Gomorrha zwar nicht sittlicher, aber doch ein wenig lustiger und erquicklicher hergegangen als in dem Berlin, welches Max Kretzer uns schildert. Nach Zolas Prinzip hat er den falschen Schein und den Reiz von den Gegenständen seiner Darstellung hinweggenommen. Ganz gewiß liegt derselbe blaue Duft auf wurmstichigen wie aus guten Früchten. Aber wir bezweifeln doch, daß jedesmal, wenn der Dust abgewischt wird, der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/44>, abgerufen am 01.07.2024.