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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Die Reichshauptstadt im Roman.

voller jüngerer Bruder Franz Merk, der inzwischen Schüler der Akademie der bil¬
denden Künste geworden ist, und zeichnet die Leiche seiner armen Schwester. "Als
er nach einer Stunde wieder vor dem Direktor stand, um sich zu verabschieden
und zu bedanken, fragte ihn dieser leutselig: "Nun, haben Sie gesunden, was
Sie gesucht. Das "Ja" klang tonlos, denn es kam aus einer gequälten Brust,
in der soeben eine Saite gesprungen war."

Grell und roh, wie die ganze Erfindung des Romans ist, erscheint auch
der Ausgang; das düster beleuchtete Nachtstück, mit dem er schließt, gemahnt
ebenso wie ganze vorangehende Szenenreihen in bedenklicher Weise an gewisse
Effekte jener Romane aus Werner Nentels Verlag, welche der Autor mit Recht so
bitter kritisirt. Gleichwohl dürfen der etwas grobe Zuschnitt der durchgehende" Ge¬
schichte und die starken psychologischen UnWahrscheinlichkeiten der Charakteristik
uns nicht abhalten, die Vorzüge und Verdienste der Kretzerschen Erzählung zu
würdigen. Und diese Vorzüge liegen nicht sowohl in der Hauptersindung und
Haupthandlung, in der eine Reihe von Unmöglichkeiten und grellen Esfekthäufungen
den beabsichtigten Eindruck schwächen, statt ihn zu erhöhen, als in zahlreichen
Episoden des Romans, welche von rascher, scharfer Beobachtung und lebendig¬
anschaulicher Wiedergabe des Beobachteten zeugen. Die Szenen im Geschüft
des Pfandleihers Laib und seiner Gattin Serena, die ganze Reihe der Szenen,
in welchen der "Künstler" Emanuel Sängerkrug und Fräulein Dörcher einander
unentbehrlich werden, ohne zu ahnen, daß sie Vater und Tochter sind, die Be¬
gegnung von Rosa und Magda mit den Herren von Busche und Rollerfelde
in der Passage, die Premiere der Tragödie "Don Pablo" von S. im Thale
im Berliner Nationaltheater und manche andre erweisen, daß Kretzer nicht bloß
mit dem gröbsten Pinsel malen, sondern feiner und charakteristischer zeichnen
kann. Freilich scheint seine Grundstimmung derart, daß sie ihn absolut nur das
Häßliche, Widrige, Verächtliche im Leben der Reichshauptstadt sehen läßt, den
Kreisen der "Verkommenen" stehen Kaufleute, Bankiers, Journalisten und Schön¬
geister der niedrigsten Sorte gegenüber. Gewisse Übertreibungen abgerechnet,
wird niemand bestreiten, daß man den Herren Moritz Laib, Felix Rosenstiel
und Joachim Joachimsthal, den Damen Serena Laib, Scina Joachimsthal
jeden Tag auf den Straßen Berlins begegnen kann. Aber daß sie Berlin
wären, daß sie und nur sie den Arbeiterkreisen der großen Stadt gegenüber¬
stünden, wird der Verfasser doch keinen Augenblick behaupten wollen. Und
so ist es ein Grundmängel dieses Tendenzromans, daß die ganze ungeheure
Zahl der Existenzen, welche zwischen den Verkommenen und ihren Ausbeutern
stehen, auch nicht durch eine einzige Gestalt vertreten erscheint, daß nicht ein
Lichtstrahl in die niedrigen und eleganten Schmutzwinkel fällt, welche Kretzer
den Augen seiner Leser enthüllt. Selbst vom Standpunkte des rücksichtslosen
Tendenzschriftstellers aus ist das ein Fehler; ein Dichter mit den Anschauungen
und Überzeugungen des Verfassers dürfte vielleicht behaupten, daß das Vor-


Die Reichshauptstadt im Roman.

voller jüngerer Bruder Franz Merk, der inzwischen Schüler der Akademie der bil¬
denden Künste geworden ist, und zeichnet die Leiche seiner armen Schwester. „Als
er nach einer Stunde wieder vor dem Direktor stand, um sich zu verabschieden
und zu bedanken, fragte ihn dieser leutselig: „Nun, haben Sie gesunden, was
Sie gesucht. Das »Ja« klang tonlos, denn es kam aus einer gequälten Brust,
in der soeben eine Saite gesprungen war."

Grell und roh, wie die ganze Erfindung des Romans ist, erscheint auch
der Ausgang; das düster beleuchtete Nachtstück, mit dem er schließt, gemahnt
ebenso wie ganze vorangehende Szenenreihen in bedenklicher Weise an gewisse
Effekte jener Romane aus Werner Nentels Verlag, welche der Autor mit Recht so
bitter kritisirt. Gleichwohl dürfen der etwas grobe Zuschnitt der durchgehende» Ge¬
schichte und die starken psychologischen UnWahrscheinlichkeiten der Charakteristik
uns nicht abhalten, die Vorzüge und Verdienste der Kretzerschen Erzählung zu
würdigen. Und diese Vorzüge liegen nicht sowohl in der Hauptersindung und
Haupthandlung, in der eine Reihe von Unmöglichkeiten und grellen Esfekthäufungen
den beabsichtigten Eindruck schwächen, statt ihn zu erhöhen, als in zahlreichen
Episoden des Romans, welche von rascher, scharfer Beobachtung und lebendig¬
anschaulicher Wiedergabe des Beobachteten zeugen. Die Szenen im Geschüft
des Pfandleihers Laib und seiner Gattin Serena, die ganze Reihe der Szenen,
in welchen der „Künstler" Emanuel Sängerkrug und Fräulein Dörcher einander
unentbehrlich werden, ohne zu ahnen, daß sie Vater und Tochter sind, die Be¬
gegnung von Rosa und Magda mit den Herren von Busche und Rollerfelde
in der Passage, die Premiere der Tragödie „Don Pablo" von S. im Thale
im Berliner Nationaltheater und manche andre erweisen, daß Kretzer nicht bloß
mit dem gröbsten Pinsel malen, sondern feiner und charakteristischer zeichnen
kann. Freilich scheint seine Grundstimmung derart, daß sie ihn absolut nur das
Häßliche, Widrige, Verächtliche im Leben der Reichshauptstadt sehen läßt, den
Kreisen der „Verkommenen" stehen Kaufleute, Bankiers, Journalisten und Schön¬
geister der niedrigsten Sorte gegenüber. Gewisse Übertreibungen abgerechnet,
wird niemand bestreiten, daß man den Herren Moritz Laib, Felix Rosenstiel
und Joachim Joachimsthal, den Damen Serena Laib, Scina Joachimsthal
jeden Tag auf den Straßen Berlins begegnen kann. Aber daß sie Berlin
wären, daß sie und nur sie den Arbeiterkreisen der großen Stadt gegenüber¬
stünden, wird der Verfasser doch keinen Augenblick behaupten wollen. Und
so ist es ein Grundmängel dieses Tendenzromans, daß die ganze ungeheure
Zahl der Existenzen, welche zwischen den Verkommenen und ihren Ausbeutern
stehen, auch nicht durch eine einzige Gestalt vertreten erscheint, daß nicht ein
Lichtstrahl in die niedrigen und eleganten Schmutzwinkel fällt, welche Kretzer
den Augen seiner Leser enthüllt. Selbst vom Standpunkte des rücksichtslosen
Tendenzschriftstellers aus ist das ein Fehler; ein Dichter mit den Anschauungen
und Überzeugungen des Verfassers dürfte vielleicht behaupten, daß das Vor-


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[0043] Die Reichshauptstadt im Roman. voller jüngerer Bruder Franz Merk, der inzwischen Schüler der Akademie der bil¬ denden Künste geworden ist, und zeichnet die Leiche seiner armen Schwester. „Als er nach einer Stunde wieder vor dem Direktor stand, um sich zu verabschieden und zu bedanken, fragte ihn dieser leutselig: „Nun, haben Sie gesunden, was Sie gesucht. Das »Ja« klang tonlos, denn es kam aus einer gequälten Brust, in der soeben eine Saite gesprungen war." Grell und roh, wie die ganze Erfindung des Romans ist, erscheint auch der Ausgang; das düster beleuchtete Nachtstück, mit dem er schließt, gemahnt ebenso wie ganze vorangehende Szenenreihen in bedenklicher Weise an gewisse Effekte jener Romane aus Werner Nentels Verlag, welche der Autor mit Recht so bitter kritisirt. Gleichwohl dürfen der etwas grobe Zuschnitt der durchgehende» Ge¬ schichte und die starken psychologischen UnWahrscheinlichkeiten der Charakteristik uns nicht abhalten, die Vorzüge und Verdienste der Kretzerschen Erzählung zu würdigen. Und diese Vorzüge liegen nicht sowohl in der Hauptersindung und Haupthandlung, in der eine Reihe von Unmöglichkeiten und grellen Esfekthäufungen den beabsichtigten Eindruck schwächen, statt ihn zu erhöhen, als in zahlreichen Episoden des Romans, welche von rascher, scharfer Beobachtung und lebendig¬ anschaulicher Wiedergabe des Beobachteten zeugen. Die Szenen im Geschüft des Pfandleihers Laib und seiner Gattin Serena, die ganze Reihe der Szenen, in welchen der „Künstler" Emanuel Sängerkrug und Fräulein Dörcher einander unentbehrlich werden, ohne zu ahnen, daß sie Vater und Tochter sind, die Be¬ gegnung von Rosa und Magda mit den Herren von Busche und Rollerfelde in der Passage, die Premiere der Tragödie „Don Pablo" von S. im Thale im Berliner Nationaltheater und manche andre erweisen, daß Kretzer nicht bloß mit dem gröbsten Pinsel malen, sondern feiner und charakteristischer zeichnen kann. Freilich scheint seine Grundstimmung derart, daß sie ihn absolut nur das Häßliche, Widrige, Verächtliche im Leben der Reichshauptstadt sehen läßt, den Kreisen der „Verkommenen" stehen Kaufleute, Bankiers, Journalisten und Schön¬ geister der niedrigsten Sorte gegenüber. Gewisse Übertreibungen abgerechnet, wird niemand bestreiten, daß man den Herren Moritz Laib, Felix Rosenstiel und Joachim Joachimsthal, den Damen Serena Laib, Scina Joachimsthal jeden Tag auf den Straßen Berlins begegnen kann. Aber daß sie Berlin wären, daß sie und nur sie den Arbeiterkreisen der großen Stadt gegenüber¬ stünden, wird der Verfasser doch keinen Augenblick behaupten wollen. Und so ist es ein Grundmängel dieses Tendenzromans, daß die ganze ungeheure Zahl der Existenzen, welche zwischen den Verkommenen und ihren Ausbeutern stehen, auch nicht durch eine einzige Gestalt vertreten erscheint, daß nicht ein Lichtstrahl in die niedrigen und eleganten Schmutzwinkel fällt, welche Kretzer den Augen seiner Leser enthüllt. Selbst vom Standpunkte des rücksichtslosen Tendenzschriftstellers aus ist das ein Fehler; ein Dichter mit den Anschauungen und Überzeugungen des Verfassers dürfte vielleicht behaupten, daß das Vor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/43>, abgerufen am 01.07.2024.