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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Die Reichshauptstadt im Roman.

gegen Seele. Was reich an Widerstandskraft ist, kann siegen, was arm daran,
muß unterliegen." Alle Umgebungen Mazdas sind der ursprünglichen Reinheit
und Scham des Mädchens so feindselig und ungünstig wie die Lage ihrer
Familie; noch nach ihrem ersten Fehltritt, der eigentlich mehr ein entsetzliches
Unglück als ein Fehltritt ist, könnte sie gerettet werden, wenn eine empor¬
haltende Hand sie ergriffe. Aber dem Proletarierkind mit der unseligen Mit¬
gift der Schönheit strecken sich nur schmutzige, niederziehende Hände entgegen.
Sie kann sich selbst durch die ehrliche Neigung, welche ihr zwei emporstrebende,
aber arme junge Männer, der "Dichter" Oskar Schwarz und der Geiger Leon-
hard Sirach, widmen, nicht emporhalten, sie hat in einem Mädchen ihres
Standes, Rosa Jakob, die Versucherin und Beraterin zum Unheil viel zu dicht
an der Seite. Und Oskar Schwarz, der eine ernstliche Leidenschaft für sie faßt,
kämpft trotz seines Genies viel zu hart und armselig mit dem Leben. Er dichtet
für sich Trauerspiele, wenigstens ein ganz bedeutendes Trauerspiel, und Erzäh¬
lungen, die aus dem wirklichen Leben entnommen scheinen. Sein Verhängnis
aber hat ihn in eine Verlagsbuchhandlung von Kolpvrtageromauen als Gehilfen
geführt, und er bleibt nicht beim Sortiren und Verpacken der gelben Hefte, in denen
der würdige Verleger Werner Rentel im Verein mit hochbezahlten oder jämmerlich
besoldeten Autoren den Volksmassen geistigen Fusel darbietet. Einer der Schreib¬
sklaven Rentels, der verkommene Philolog Dagobert Fisch, entdeckt die poetische
Begabung des jungen Schwarz, und Herr Werner eilt den Gehilfen zum routinirten
Romanschriftsteller im Stile der Kolportageautoren auszubilden. Um seine beste
Kraft von dem Verleger betrogen, um das Manuskript eines Trauerspiels von
dem dicken Journalisten und Dichterinnengatten Joachim Joachimsthal beschwindelt,
treibt der junge Mann ebenso der Verkommenheit entgegen wie seine Geliebte
Magda, welche inzwischen die Maitresse eines Herrn von Rollerfelde und dar¬
nach des jungen jüdischen Bankiers Felix Rvsenstiel geworden ist. Letzteres
zu ihrem besondern Unheil, denn der leichtfertige junge Geldmann muß, ehe er
mit Magda anknüpfen kann, zuvor ein Verhältnis zu Rosa Jakob lösen, und
in dieser erwacht eine leidenschaftliche Rachsucht gegen den seitherigen Anbeter
und Aushalter und die frühere Freundin. Sie gewinnt durch Liebkosungen den
plumpen Arbeiter Kaulmann für sich, dem neuen "Paare" Vitriol ins Gesicht
zu gießen und Magda grauenhaft zu verwunden. Und nun wandelt sich das
Herabgleiten in schnelles Herabstürzen, das Elend der Familie Merk erreicht
seinen Gipfelpunkt, Merk wird wegen Diebstahls verhaftet, die kleine Tochter
Magdas stirbt, Magda selbst trifft wieder mit Oskar Schwarz zusammen, der
am Leben und an seiner Zukunft verzweifelnd, seiner geistigen Ehre durch Rentels
Kolportageromane beraubt, in der Schnapsflasche seines Lehrers Dagobert Fisch
Lösung des schmerzvollen Daseinsrätsels gesucht hat. Beiden bleibt nichts
weiter übrig als der gemeinsame Tod, den sie in den Fluten eines Sees suchen.
Magdas Leiche wird an die Anatomie abgeliefert, und dahin kommt ihr talent-


Die Reichshauptstadt im Roman.

gegen Seele. Was reich an Widerstandskraft ist, kann siegen, was arm daran,
muß unterliegen." Alle Umgebungen Mazdas sind der ursprünglichen Reinheit
und Scham des Mädchens so feindselig und ungünstig wie die Lage ihrer
Familie; noch nach ihrem ersten Fehltritt, der eigentlich mehr ein entsetzliches
Unglück als ein Fehltritt ist, könnte sie gerettet werden, wenn eine empor¬
haltende Hand sie ergriffe. Aber dem Proletarierkind mit der unseligen Mit¬
gift der Schönheit strecken sich nur schmutzige, niederziehende Hände entgegen.
Sie kann sich selbst durch die ehrliche Neigung, welche ihr zwei emporstrebende,
aber arme junge Männer, der „Dichter" Oskar Schwarz und der Geiger Leon-
hard Sirach, widmen, nicht emporhalten, sie hat in einem Mädchen ihres
Standes, Rosa Jakob, die Versucherin und Beraterin zum Unheil viel zu dicht
an der Seite. Und Oskar Schwarz, der eine ernstliche Leidenschaft für sie faßt,
kämpft trotz seines Genies viel zu hart und armselig mit dem Leben. Er dichtet
für sich Trauerspiele, wenigstens ein ganz bedeutendes Trauerspiel, und Erzäh¬
lungen, die aus dem wirklichen Leben entnommen scheinen. Sein Verhängnis
aber hat ihn in eine Verlagsbuchhandlung von Kolpvrtageromauen als Gehilfen
geführt, und er bleibt nicht beim Sortiren und Verpacken der gelben Hefte, in denen
der würdige Verleger Werner Rentel im Verein mit hochbezahlten oder jämmerlich
besoldeten Autoren den Volksmassen geistigen Fusel darbietet. Einer der Schreib¬
sklaven Rentels, der verkommene Philolog Dagobert Fisch, entdeckt die poetische
Begabung des jungen Schwarz, und Herr Werner eilt den Gehilfen zum routinirten
Romanschriftsteller im Stile der Kolportageautoren auszubilden. Um seine beste
Kraft von dem Verleger betrogen, um das Manuskript eines Trauerspiels von
dem dicken Journalisten und Dichterinnengatten Joachim Joachimsthal beschwindelt,
treibt der junge Mann ebenso der Verkommenheit entgegen wie seine Geliebte
Magda, welche inzwischen die Maitresse eines Herrn von Rollerfelde und dar¬
nach des jungen jüdischen Bankiers Felix Rvsenstiel geworden ist. Letzteres
zu ihrem besondern Unheil, denn der leichtfertige junge Geldmann muß, ehe er
mit Magda anknüpfen kann, zuvor ein Verhältnis zu Rosa Jakob lösen, und
in dieser erwacht eine leidenschaftliche Rachsucht gegen den seitherigen Anbeter
und Aushalter und die frühere Freundin. Sie gewinnt durch Liebkosungen den
plumpen Arbeiter Kaulmann für sich, dem neuen „Paare" Vitriol ins Gesicht
zu gießen und Magda grauenhaft zu verwunden. Und nun wandelt sich das
Herabgleiten in schnelles Herabstürzen, das Elend der Familie Merk erreicht
seinen Gipfelpunkt, Merk wird wegen Diebstahls verhaftet, die kleine Tochter
Magdas stirbt, Magda selbst trifft wieder mit Oskar Schwarz zusammen, der
am Leben und an seiner Zukunft verzweifelnd, seiner geistigen Ehre durch Rentels
Kolportageromane beraubt, in der Schnapsflasche seines Lehrers Dagobert Fisch
Lösung des schmerzvollen Daseinsrätsels gesucht hat. Beiden bleibt nichts
weiter übrig als der gemeinsame Tod, den sie in den Fluten eines Sees suchen.
Magdas Leiche wird an die Anatomie abgeliefert, und dahin kommt ihr talent-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/42>, abgerufen am 01.07.2024.