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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Die Reichshauptstadt im Roman.

absichtigeu muß, entschieden c>b. Ob bei unser" gegenwärtigen Institutionen
eine Unsumme von Talenten der Menschheit verloren gehe, läßt sich stark be¬
zweifeln, gewiß ist, daß es sich zunächst viel weniger um die Frage handelt, wie
den etwa in gewissen Lebensschichten verkümmernder Talenten emporzuhelfen
sei, als um die Frage, wie der ungeheuern Überzahl der Nichttalente, der Menschen,
die ans die einfache Handarbeit ihr ganzes Dasein hindurch angewiesen bleiben,
eine menschenwürdige Existenz gesichert werden könne. Sollen einmal solche
Probleme, die zunächst in den Kreis des Denkers, des Staatsmannes, des Phi¬
lanthropen gehören, in den des Dichters gezogen werden, so ist im höchsten Maße
zu wünschen, daß sie klar und rein bleiben und daß die Lebenserscheinungen,
welche der Dichter darstellt, anch in Wahrheit ans sie zurückgeführt werden können.
Wir vermögen uns mit dem angeblich analytischen Roman nicht zu befreunden
und bleiben dabei, daß wahrhaft dichterische Werke ein- für allemal nur aus
der Teilnahme an der Fülle der Erscheinungen und nicht aus einem abstrakten
Grundgedanken hervorgehen können. Doch wenn es einmal versucht werden soll,
einen solchen zu verkörpern, so dürfen wir fordern, daß die Ausführung un¬
bedingt dem vorangeschickten Satze entspreche, daß der Leser außer Stand ge¬
setzt werde, zu andern Konsequenzen als den vom Verfasser beabsichtigten zu
gelangen.

Sehe" wir zu, wie der "Zola der Reichshauptstadt" dieser Forderung
entspricht. Die "Verkommenen" enthalten die Geschichte einiger Arbeiterfamilien
Berlins, hauptsächlich die Geschichte einer Familie Merk, die aus verhältnis¬
mäßig geordneten behaglichen Zuständen durch Arbeitslosigkeit und einige Irr¬
tümer in die bodenlosen Tiefen zuerst der materiellen, dann der sittlichen Ver¬
kommenheit hinabsinkt. Die eigentliche "Heldin," wenn diese Bezeichnn", hier
angewendet werden darf, ist Magda Merk, beim Eintritt des Verfalles ihrer
Familie noch ein halbes Kind, am Ende des Romans ein unglückselig Ver¬
lornes Weib, welches durch alles Elend der Berliner Halbwelt hindurchgegangen
ist. Magda Merk wird, nachdem ihr Vater in der Trunkenheit ein Verbrechen
begangen und zu längerer Zuchthausstrafe verurteilt worden ist, sodaß die
Mutter mit ihrer Arbeit für die Fortexistenz der Familie einstehen muß, Schritt
sür Schritt in die Schande hineingezogen. Kretzer setzt seinem zweiten Bande
eine Maxime als Motto voran: "Es giebt arme, bedauernswerte Seelen, die
von Natur aus reich an Gemüt, reich an Empfindung und auch reich an
Geist sind, denen aber jene eiserne Grundlage fehlt, auf der allein sie ihren
bürgerlichen Platz im Leben behaupten können: die strenge Selbsterziehung und
durch diese die Läuterung ihres eignen Ichs. Solche arme Seelen sind wie ein
schwankes, verlassenes Rohr auf einsamer Flur, das der erste Sturmwind über
Nacht vernichten kann. Die Natur gab diesem Rohr die Wurzeln zum Empor¬
streben nach dem ewigen Licht, sie vergaß aber ihm den starken Halt zu geben,
der es beschützt. So entstand ein stetes Ringen, Natur gegen Natur, Seele


Grenzboten II. 1883. S
Die Reichshauptstadt im Roman.

absichtigeu muß, entschieden c>b. Ob bei unser» gegenwärtigen Institutionen
eine Unsumme von Talenten der Menschheit verloren gehe, läßt sich stark be¬
zweifeln, gewiß ist, daß es sich zunächst viel weniger um die Frage handelt, wie
den etwa in gewissen Lebensschichten verkümmernder Talenten emporzuhelfen
sei, als um die Frage, wie der ungeheuern Überzahl der Nichttalente, der Menschen,
die ans die einfache Handarbeit ihr ganzes Dasein hindurch angewiesen bleiben,
eine menschenwürdige Existenz gesichert werden könne. Sollen einmal solche
Probleme, die zunächst in den Kreis des Denkers, des Staatsmannes, des Phi¬
lanthropen gehören, in den des Dichters gezogen werden, so ist im höchsten Maße
zu wünschen, daß sie klar und rein bleiben und daß die Lebenserscheinungen,
welche der Dichter darstellt, anch in Wahrheit ans sie zurückgeführt werden können.
Wir vermögen uns mit dem angeblich analytischen Roman nicht zu befreunden
und bleiben dabei, daß wahrhaft dichterische Werke ein- für allemal nur aus
der Teilnahme an der Fülle der Erscheinungen und nicht aus einem abstrakten
Grundgedanken hervorgehen können. Doch wenn es einmal versucht werden soll,
einen solchen zu verkörpern, so dürfen wir fordern, daß die Ausführung un¬
bedingt dem vorangeschickten Satze entspreche, daß der Leser außer Stand ge¬
setzt werde, zu andern Konsequenzen als den vom Verfasser beabsichtigten zu
gelangen.

Sehe» wir zu, wie der „Zola der Reichshauptstadt" dieser Forderung
entspricht. Die „Verkommenen" enthalten die Geschichte einiger Arbeiterfamilien
Berlins, hauptsächlich die Geschichte einer Familie Merk, die aus verhältnis¬
mäßig geordneten behaglichen Zuständen durch Arbeitslosigkeit und einige Irr¬
tümer in die bodenlosen Tiefen zuerst der materiellen, dann der sittlichen Ver¬
kommenheit hinabsinkt. Die eigentliche „Heldin," wenn diese Bezeichnn«, hier
angewendet werden darf, ist Magda Merk, beim Eintritt des Verfalles ihrer
Familie noch ein halbes Kind, am Ende des Romans ein unglückselig Ver¬
lornes Weib, welches durch alles Elend der Berliner Halbwelt hindurchgegangen
ist. Magda Merk wird, nachdem ihr Vater in der Trunkenheit ein Verbrechen
begangen und zu längerer Zuchthausstrafe verurteilt worden ist, sodaß die
Mutter mit ihrer Arbeit für die Fortexistenz der Familie einstehen muß, Schritt
sür Schritt in die Schande hineingezogen. Kretzer setzt seinem zweiten Bande
eine Maxime als Motto voran: „Es giebt arme, bedauernswerte Seelen, die
von Natur aus reich an Gemüt, reich an Empfindung und auch reich an
Geist sind, denen aber jene eiserne Grundlage fehlt, auf der allein sie ihren
bürgerlichen Platz im Leben behaupten können: die strenge Selbsterziehung und
durch diese die Läuterung ihres eignen Ichs. Solche arme Seelen sind wie ein
schwankes, verlassenes Rohr auf einsamer Flur, das der erste Sturmwind über
Nacht vernichten kann. Die Natur gab diesem Rohr die Wurzeln zum Empor¬
streben nach dem ewigen Licht, sie vergaß aber ihm den starken Halt zu geben,
der es beschützt. So entstand ein stetes Ringen, Natur gegen Natur, Seele


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[0041] Die Reichshauptstadt im Roman. absichtigeu muß, entschieden c>b. Ob bei unser» gegenwärtigen Institutionen eine Unsumme von Talenten der Menschheit verloren gehe, läßt sich stark be¬ zweifeln, gewiß ist, daß es sich zunächst viel weniger um die Frage handelt, wie den etwa in gewissen Lebensschichten verkümmernder Talenten emporzuhelfen sei, als um die Frage, wie der ungeheuern Überzahl der Nichttalente, der Menschen, die ans die einfache Handarbeit ihr ganzes Dasein hindurch angewiesen bleiben, eine menschenwürdige Existenz gesichert werden könne. Sollen einmal solche Probleme, die zunächst in den Kreis des Denkers, des Staatsmannes, des Phi¬ lanthropen gehören, in den des Dichters gezogen werden, so ist im höchsten Maße zu wünschen, daß sie klar und rein bleiben und daß die Lebenserscheinungen, welche der Dichter darstellt, anch in Wahrheit ans sie zurückgeführt werden können. Wir vermögen uns mit dem angeblich analytischen Roman nicht zu befreunden und bleiben dabei, daß wahrhaft dichterische Werke ein- für allemal nur aus der Teilnahme an der Fülle der Erscheinungen und nicht aus einem abstrakten Grundgedanken hervorgehen können. Doch wenn es einmal versucht werden soll, einen solchen zu verkörpern, so dürfen wir fordern, daß die Ausführung un¬ bedingt dem vorangeschickten Satze entspreche, daß der Leser außer Stand ge¬ setzt werde, zu andern Konsequenzen als den vom Verfasser beabsichtigten zu gelangen. Sehe» wir zu, wie der „Zola der Reichshauptstadt" dieser Forderung entspricht. Die „Verkommenen" enthalten die Geschichte einiger Arbeiterfamilien Berlins, hauptsächlich die Geschichte einer Familie Merk, die aus verhältnis¬ mäßig geordneten behaglichen Zuständen durch Arbeitslosigkeit und einige Irr¬ tümer in die bodenlosen Tiefen zuerst der materiellen, dann der sittlichen Ver¬ kommenheit hinabsinkt. Die eigentliche „Heldin," wenn diese Bezeichnn«, hier angewendet werden darf, ist Magda Merk, beim Eintritt des Verfalles ihrer Familie noch ein halbes Kind, am Ende des Romans ein unglückselig Ver¬ lornes Weib, welches durch alles Elend der Berliner Halbwelt hindurchgegangen ist. Magda Merk wird, nachdem ihr Vater in der Trunkenheit ein Verbrechen begangen und zu längerer Zuchthausstrafe verurteilt worden ist, sodaß die Mutter mit ihrer Arbeit für die Fortexistenz der Familie einstehen muß, Schritt sür Schritt in die Schande hineingezogen. Kretzer setzt seinem zweiten Bande eine Maxime als Motto voran: „Es giebt arme, bedauernswerte Seelen, die von Natur aus reich an Gemüt, reich an Empfindung und auch reich an Geist sind, denen aber jene eiserne Grundlage fehlt, auf der allein sie ihren bürgerlichen Platz im Leben behaupten können: die strenge Selbsterziehung und durch diese die Läuterung ihres eignen Ichs. Solche arme Seelen sind wie ein schwankes, verlassenes Rohr auf einsamer Flur, das der erste Sturmwind über Nacht vernichten kann. Die Natur gab diesem Rohr die Wurzeln zum Empor¬ streben nach dem ewigen Licht, sie vergaß aber ihm den starken Halt zu geben, der es beschützt. So entstand ein stetes Ringen, Natur gegen Natur, Seele Grenzboten II. 1883. S

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/41>, abgerufen am 01.07.2024.