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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Die Reichshauptstadt im Roman.

diesem Schriftsteller nicht mehr gedient. Er schickt dem Roman "Die Ver¬
kommenen" eine Vorrede voraus, in welcher rundweg Würdigung für die große
psychologische Bedeutung dieses Romans und die schauerliche Logik, die in ihm
liegt, gefordert wird. Er läßt durchblicken, daß die "Verkommenen" ein ent¬
scheidender Beitrag zur Lösung der "sozialen Frage," deren Feuer uns allen
auf den Nägeln brennt, sein sollen. In hochtönenden Worten verkündet der
Verfasser eine doppelte Tendenz seines Buches. "Es war ein bedeutungsvolles
Wort, das einst einer der hervorragendsten Sozialistenführer im Reichstage aus-
sprach: "Die sozialdemokratische Partei ist die einzige Partei, die noch Ideale
hat." Es war ein grausamer, für die andern Parteien vernichtender Ruhm,
aber es lag ein goldnes Körnchen Wahrheit in ihm. Mag man der sozial-
demokratischen Partei Vorwürfe machen, welche man wolle, das Verdienst wird
man ihr lassen müssen: sie hat die ehrliche, harte Arbeit stets hoch gehalten.
Und wenn menschliches Ringen und Streben nach allem Guten ein Ideal ist,
dann ist die ehrliche Arbeit ein hohes Ideal, denn sie schafft das Familienglück
und dieses die wahrhaftige Sittlichkeit. Wie anders der Gegensatz. Das Kapital
beherrscht den Markt, es hat die Macht, der Thränen der Armen und Elenden
zu lachen. Auf jener Seite bei allen Irrtümern immer ein durch die Religion
des ersten Christentums begründetes, rein leuchtendes Ideal, und hier das an¬
gelernte und überlieferte Raffinement, das nur eine Parole kennt: Ausbeutung
des ehrlichen, aber beschränkten Idealismus durch die arbeitsscheue Genußsucht.
Und damit bin ich bei der Tendenz dieses Buches angelangt." Zuvor aber hat
Kretzer als den Grundgedanken seines Werkes, dein er "aus Liebe zu beklagens¬
werten Kindern Ausdruck gegeben," einen Satz hingestellt, der mit der polemischen
Tendenz der "Verkommenen" nur in sehr lockerem Zusammenhange steht. "Ich
habe mich oft fragen müssen, was für eine Unsumme von Talenten, ernststrebenden
Individuen der Menschheit erhalten bliebe, wenn alle die tausend Arbeiterehe¬
paare, die durch die Not des Daseins gezwungen sind, mit gleicher Kraft um
ihren Lebensunterhalt zu ringen, imstande wären, ihren Kindern eine echt sitt¬
liche und Physische Erziehung zu Teil werden zu lassen. Die Erziehung ist der
eiserne Pfeiler der Moral, in ihr liegt das einstige Familienglück, das Wohl
des Staates."

"Tendenz" und "Grundgedanken" möchten leidlich scheinen, obschon das
Ideal eines guten Bruchteils der Sozialdemokratie ganz gewiß nicht auf harte,
ehrliche Arbeit, sondern darauf gerichtet ist, die arbeitsscheue Genußsucht des
großstädtischen Proletariats an die Stelle der arbeitsscheuen Genußsucht des
"angelernten und überlieferten Raffinements" zu setzen. Derartige Schlagworte
sind wie Raketen, die nach allen Seiten platzen und versengen, und vermögen
am allerwenigsten die innerste Absicht und Anschauung eines poetischen Werkes
zu verdeutlichen. Und was den oben wörtlich angeführten "Grundgedanken"
anlangt, so lenkt derselbe den Blick von dem, was der Verfasser eigentlich be-


Die Reichshauptstadt im Roman.

diesem Schriftsteller nicht mehr gedient. Er schickt dem Roman „Die Ver¬
kommenen" eine Vorrede voraus, in welcher rundweg Würdigung für die große
psychologische Bedeutung dieses Romans und die schauerliche Logik, die in ihm
liegt, gefordert wird. Er läßt durchblicken, daß die „Verkommenen" ein ent¬
scheidender Beitrag zur Lösung der „sozialen Frage," deren Feuer uns allen
auf den Nägeln brennt, sein sollen. In hochtönenden Worten verkündet der
Verfasser eine doppelte Tendenz seines Buches. „Es war ein bedeutungsvolles
Wort, das einst einer der hervorragendsten Sozialistenführer im Reichstage aus-
sprach: »Die sozialdemokratische Partei ist die einzige Partei, die noch Ideale
hat.« Es war ein grausamer, für die andern Parteien vernichtender Ruhm,
aber es lag ein goldnes Körnchen Wahrheit in ihm. Mag man der sozial-
demokratischen Partei Vorwürfe machen, welche man wolle, das Verdienst wird
man ihr lassen müssen: sie hat die ehrliche, harte Arbeit stets hoch gehalten.
Und wenn menschliches Ringen und Streben nach allem Guten ein Ideal ist,
dann ist die ehrliche Arbeit ein hohes Ideal, denn sie schafft das Familienglück
und dieses die wahrhaftige Sittlichkeit. Wie anders der Gegensatz. Das Kapital
beherrscht den Markt, es hat die Macht, der Thränen der Armen und Elenden
zu lachen. Auf jener Seite bei allen Irrtümern immer ein durch die Religion
des ersten Christentums begründetes, rein leuchtendes Ideal, und hier das an¬
gelernte und überlieferte Raffinement, das nur eine Parole kennt: Ausbeutung
des ehrlichen, aber beschränkten Idealismus durch die arbeitsscheue Genußsucht.
Und damit bin ich bei der Tendenz dieses Buches angelangt." Zuvor aber hat
Kretzer als den Grundgedanken seines Werkes, dein er „aus Liebe zu beklagens¬
werten Kindern Ausdruck gegeben," einen Satz hingestellt, der mit der polemischen
Tendenz der „Verkommenen" nur in sehr lockerem Zusammenhange steht. „Ich
habe mich oft fragen müssen, was für eine Unsumme von Talenten, ernststrebenden
Individuen der Menschheit erhalten bliebe, wenn alle die tausend Arbeiterehe¬
paare, die durch die Not des Daseins gezwungen sind, mit gleicher Kraft um
ihren Lebensunterhalt zu ringen, imstande wären, ihren Kindern eine echt sitt¬
liche und Physische Erziehung zu Teil werden zu lassen. Die Erziehung ist der
eiserne Pfeiler der Moral, in ihr liegt das einstige Familienglück, das Wohl
des Staates."

„Tendenz" und „Grundgedanken" möchten leidlich scheinen, obschon das
Ideal eines guten Bruchteils der Sozialdemokratie ganz gewiß nicht auf harte,
ehrliche Arbeit, sondern darauf gerichtet ist, die arbeitsscheue Genußsucht des
großstädtischen Proletariats an die Stelle der arbeitsscheuen Genußsucht des
„angelernten und überlieferten Raffinements" zu setzen. Derartige Schlagworte
sind wie Raketen, die nach allen Seiten platzen und versengen, und vermögen
am allerwenigsten die innerste Absicht und Anschauung eines poetischen Werkes
zu verdeutlichen. Und was den oben wörtlich angeführten „Grundgedanken"
anlangt, so lenkt derselbe den Blick von dem, was der Verfasser eigentlich be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/40>, abgerufen am 01.07.2024.